Frankfurter Allgemeine Zeitung - 20.03.2020

(Nandana) #1

SEITE 2·FREITAG,20. MÄRZ2020·NR.68 FPM Politik FRANKFURTER ALLGEMEINEZEITUNG


Mit dreiroutiniertenSchlägen zapftder
Bürgermeistervon Mitterteicham7.
Märzdas ersteFass„Süffikus“ an. Dut-
zende Besucher,überwiegend in Dirndl
und Lederhose, sitzen an jenemAbend
beimStarkbierfestinder Mehrzweckhal-
le der 6500-Einwohner-Stadtinder Ober-
pfalz beisammen. DreiTage späterwird
die ersteCorona-Infektion in Mitterteich
bestätigt.
Die Zahlensteigen schnell an, im Land-
kreis Tirschenreuth und in der Stadt
selbst.Undein Gerücht macht dieRunde:
DasStarkbierfest könne der Grund sein
für die ungewöhnlichhohen Infektionszah-
len. Am MittwochdieserWochesind 47
bestätigteFälle bekannt, 15 Infiziertewer-
den im Krankenhausversorgt, fünfvonih-
nen müssen beatmetwerden.Vonden 47
kommen 25 aus Mitterteich.
AmNachmittaggreiftLandratWolf-
gang Lippertdurch undverhängt in der
Stadt eine Ausgangssperre bis zum 2.
April, die ersteMaßnahme dieser Art
nicht nur in Bayern,sonderninganz
Deutschland. Die Häufung vonFällen
„mit einem HotspotinMitter teich“ habe
ihn und seinen Krisenstab zum Handeln
gezwungen, sagt er dieser Zeitungam
Donnerstag. Die Entscheidung,gestützt
auf Paragr aph 28 des Infektionsschutzge-
setzes, sei inAbstimmung mit dem Lan-


desgesundheits- und dem Landesinnenmi-
nisterium gefallen. Seither dürfendie Be-
wohner ihreWohnungen und Häuser
nicht mehr „ohne triftigen Grund“verlas-
sen. Ausgenommen sind der Lieferver-
kehr,Hin- undRückwegzum Arbeitsplatz,
Hilfefür Bedürftige, Einkäufesowie Arzt-
und Apothekenbesuche. Auch Tanken,

Bargeldabhebenund Gassigehen sindwei-
terhin erlaubt. Der ersteTag derAusgangs-
sperre sei ruhig verlaufen,teilt dasPolizei-
präsidium Oberpfalz am Donnerstag mit.
VereinzeltseienPersonen angesprochen
worden, die imStadtgebietunter wegs wa-
ren. Diesehättensichdannaber an dieAn-
weisungender Beamtengehalten. Die Mit-

terteicher würden nicht in Panikverfallen,
sondernakzeptiertendie Maßnahme, sagt
derLandrat.Dassder bayerische Innenmi-
nisteramMittwochabend nachMitter-
teichgekommen ist, um sichüber die Lage
zu informieren, habe „sicherlichgehol-
fen“.
Gerüchteüber eine möglicheAusgangs-
sperre kursierten in den sozialenNetzwer-
kenschon länger.Mit Durchsagen und
Flugblätternversuchte das Landratsamt
am Dienstag aufzuklären.„Wer auchim-
mer soetwasgeahnt haben will, müsste
ein Hellseher sein“, sagt Lippert. Die Ent-
scheidung sei erst am Mittwochgefallen.
Auch die Gerüchte zum Starkbierfest will
er nicht bestätigen. Zwei Epidemiologen
würden das Gesundheitsamt in denkom-
mendenTagendabei unterstützen, die In-
fektionskette nachzuvollziehen.Ausschlie-
ßen, dassdas Starkbierfest Teil dieserKet-
te war, will zwar selbstder Burschverein
Concordia nicht, die dieVeranstaltung
ausgerichtethat.Der Vorsitzende ver-
weistaber darauf, dassman nochkurzvor
der Veranstaltung mit Gesundheits- und
Landratsamt abgestimmt habe, ob diese
angesichts der Corona-Lagestattfinden
könne. „Die haben unsgrünes Lichtgege-
ben“, sagt Alexander Hutterer.
ZurInfektionskette in Mitterteichäu-
ßertsichamDonnerstag auchder bayeri-
sche Ministerpräsident MarkusSöder–in

einerRegierungserklärung unter erschwer-
tenBedingungen. Lediglichein Fünftel
der Abgeordneten istimPlenarsaal anwe-
send, bestimmt jeweils vonden Fraktio-
nen. Söder sagt, Expertenvermuteten das
Starkbierfest als Ursache hinter den ho-
hen Fallzahlen. Er hoffe sehr,dassdie nun
getrof fenen Einschränkungen ausreich-
ten. Söder hebt aber auchhervor, dassdie
Staatsregierung für denFall, dasssie nicht
raschWirkung zeigten,weiter gehende
Maßnahmen erwägenmüsse. Leidergebe
es Berichte,wonachviele sichnicht an die
Empfehlungen hielten. Das schöneWetter
verführedazu.Tatsächlichhatteman zu-
letzt an der Isar in München oder amTe-
gernsee nicht den Eindruck, dasssichalle
Müßiggänger der Bedrohlichkeit der Lage
bewusst waren. Wenn viele Menschen
sichnicht freiwillig beschränkten, so Sö-
der,bleibe am Ende nur „die bayernweite
Ausgangssperre“.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung
steht da schonkurz bevor. So wirdam
Donnerstag nicht nurverkündet, dassdie


  1. Oberammergauer Passionsfestspiele
    vondiesem Jahr auf 2022verschobenwer-
    den. Der oberfränkische LandkreisWun-
    siedelgibt bekannt, dassauchdortbis
    zum 3. April Ausgangssperren verhängt
    werden –für dieStadt Hohenbergander
    Eger sowie den Ortsteil Fische rn desMark-
    tesSchirnding.


Je schneller sichdas neue Coronavi-
rusSars-CoV-2ausbreitet und jeradi-
kaler dieReaktionen zur Eindäm-
mung des Erregers,desto offenkundi-
gerwirdeinefatal eLückeinder Maß-
nahmenkette:Keinerweiß, wie viele
Menschen bereits infiziertwaren und
mittlerweile vonihren milden Sym-
ptomengenesen sind.Vier vonfünf
Patienten,statistischgesehen, über-
stehen die Covid-19-Krankheit mit
leichten Halsschmerzen, trockenem
Hustenoder mildem Fieber.Viele
vonihnen sind niegetestet worden –
oderwerden nun inzwischen nicht
mehrgetestet,weil dieKapazitäten
der PCR-Virusnachweis-Testsinzwi-
sche nausgeschöpftsind. Diese klassi-
schen Testswerden vonLaboren
durchgeführt, derNachweis des Coro-
navirus-Erbgutsgeht schnell,wenige
Stunden, dochdie Logistik istnicht
unerheblich,weil die Proben in einer
Maschineverarbeitet werden müs-
sen.
Ein Problem istalso, dassderzeit
viele Infizierte außerhalb der Klini-
kenund Praxen ungetestetbleiben
und deshalb auchinkeinerStatistik
auftauchen. Mit den herkömmlichen
Vire nnachweisenstößt man also
schon an Grenzen. Gleichzeitigwäre
es nicht nur für dieAbschätzungder
Tödlichkeit des Erregers oder dessen
wahrerVerbreitungextrem hilfreich
zu wissen, wie viele Menschen be-
reits infiziertsind, sondernauchganz
praktisch:Werweiß,dasserdie Infek-
tion hinter sichhat, die Krankheit
also auchausgeheilt ist, derkann sich
auchander „Virenfront“ nützlichma-
chen –eine Information, dievoral-
lem für den Einsatz des Klinikperso-
nalswertvoll werden kann.
Das Wissen wäre aber auchaus ei-
nemweiteren Grund hilfreich: Seit
ein paarTagenist man durch auf-
schlussreiche Laborstudien an Rhe-
susaffeneinigermaßen sicher,dass
Menschen, die eine Infektion über-
standen haben, auchgenügend Anti-
körper gegendas Virusbilden, um
voreiner zweiten Infektion höchst-
wahrscheinlichgeschützt zu sein.
Mehr noch: Die als neutralisierende
Antikörper bezeichnetenImmunglo-
buline im Blutserum der Genesenen
könnten bald,wasallerdings derzeit
erst in Studien in Chinageprüftwird,
gespendetund als passiver Impfstoff
künftig zur BehandlungvonSchwerst-
kranken eingesetztwerden.
Das freilichist Zukunftsmusik und
klinischnochvölli gungeprüft. Viel
näher istdie Forschung inzwischen
an den entsprechendenTests, mit de-
nen sichdie Antikörper im Blut nach-
weisen lassen.Seit Januarwerde nsol-
cheTests in China, inzwischen auch
in vielen anderen Laborenweltweit,
entwickelt.Andersals bei denVire n-
tests, mit denen die Erregerdirekt
durch Rachenabstrichnachg ewiesen
werden, erfasstder Bluttestdie Infek-
tion indirekt:Die Antikörper,die die
Anwesenheit desVirusbelegen,wer-
den in Minutenschnelle herausge-
fischt aus dem Blut.ZweiProbleme:
Erstens schlägt derTest erst einige
TagenachderAnsteckungan,weil
erst dann derKörper mit der Produk-
tion der Vire n-Antikörper ausrei-
chend hochfährt. Undzweitens ist
die Genauigkeit dasgrößtetechni-
sche Problem.
Die bishergeprüftenAntikörper-
testskonntenkaum mehr als ein Drit-
telder Infektionenrichtig erfassen,
zwei DrittelwarenFalschmeldungen.
Der Test,der vomPrinzip her ähnlich
wie ein Schwangerschafts- oder man-
cher HIV-Testfunktioniert und per
Farbumschlag das Ergebnis anzeigen
kann, musssehr gezielt dierichtigen
Sars-CoV-2-Antikörper erwischen.
In dieser Hinsichtverspricht nun ein
solches auchals serologisches Assay
oder „Elisa“-TestbekanntesVerfah-
reneinen echtenFortschritt: InNew
York haben es Florian Krammer und
Fatima Amanatvonder Icahn School
of Medicine at Mount Sinaigeschafft,
einen sehr vielgenaueren Antikörper-
test zu entwickeln. Sie haben mit den
Blutproben einiger DutzendPatien-
tenund gesundenKontrollpersonen
sehrgenau unterscheidenkönnen, ob
die Sars-CoV-2-Antikörper im Blut
sind oder nicht.Sie haben auchge-
zeigt, dassandereharmlosereCoro-
naviren, die ebenfalls seit langem als
Erkältungsvirenunter Menschenkur-
sieren,vondem Test nicht erfasstwer-
den. Herzstück des Antikörpertests
istein winziger Proteinabschnitt aus
dem „Stachel“ des Sars-CoV-2-Virus,
mit dem die Antikörper nachdem
Schlüssel-Schloss-Prinzip herausge-
fischtwerden. DerTest schlägtetwa
drei Tage nachBeginn der ersten
Symptome an.WieKrammer in sei-
ner nochnicht endgültig begutachte-
tenPublikation in „MedRxiv“
schreibt,könntedieserTest für ein
Screeningder Bevölkerungweiterent-
wickelt und leicht hergestellt werden.
Allerdings müssevoreiner Massen-
produktion die Genauigkeit desTests
vonanderen Labors bestätigt wer-
den.

Z


um ersten Mal seit dem Beginn
der Zählung wurde am Donners-
tag keine Neuinfektion ausWu-
hangemeldet–jenerStadt im
Zentrum Chinas, in der diePandemievor
dreieinhalbMonaten ihren Anfang nahm.
Noch voreinem Monatwarendorttagtäg-
lichmehr als tausend neueFälle regis-
trier tworden. DochamDonnerstagver-
harrtedie Zahl dergemeldetenInfizierten
unveränder tbei 50 005.Staats- undPartei-
chef Xi Jinping sagtebei einer Sitzung des
Politbüros: „Der positiveTrendin derSeu-
chenbekämpfung hat sichkonstantkonso-
lidiert.“Zugleichhob er hervor, dassWu-
han und die umliegende Provinz Hubei
nochimmervorschwerenAufgabenstün-
den. Es sei zu früh für Entwarnung, sagten
auchchinesische Mediziner.
Wuhan istseitdem 23. Januarvonder
Außenwelt abgesperrt.Von einerAufhe-
bung der Sperre istnochnicht dieRede.
DiemeistenBewohnerhaben ihreWoh-
nungen seitfast zwei Monatennur zum
Einkaufenvon Lebensmitteln und zum
Ausführen des Hundesverlassen,wenn
überhaupt. In wenigen ausgewählt en Bran-
chen darfseit dervergangenenWoche wie-
der gearbeitet werden. Der öffentlicheNah-
verkehrist in Wuhan aber nachwie vorge-
schlossen; die Schulensowieso.AuchPri-
vatfahrzeugedürfenweiterhin nur mit Son-
dergenehmigungfahren. In den umliegen-
denStädten der Provinz Hubei wurden
jüngstallerdingserste Verkehrsverbindun-
genwiederaufgenommen.
Mit derWiederaufnahme des Arbeitsle-
bens imRest des Landeswächst die Ge-
fahr neuerAusbruchsherde. Mitgrößerer
Besorgnis blickt diechinesische Regie-
rung aber aufReisende aus demAusland,
die dasVirusaus Risikoländernwie Ita-
lien, Deutschland oder Iran einschleppen
könnten. Ein Großteil dieserReisenden
sind chinesische Staatsbürger,die aus
Furchtvor einer Ansteckung imAusland
in die Heimatstreben. Am Donnerstag
wurden 34 „importierte Infektionen“ge-
meldet–undkein einziger inländischer
Fall. In der Öffentlichkeitgeht die Angst
voreiner „zweitenWelle“ um. Im Inter-
netwerdenRufe nacheiner vollständigen
Grenzschließung laut.
Die chinesischen Behörden haben des-
halbdie Einreise- und Quarantänebe-
schränkungen deutlichverschärft.Ankom-
mendewerden nun für eine vierzehntägi-
ge Quarantäne in Hotels einquartiert, die
sieselbstbezahlen müssen.Um Peking zu
entlasten, soll einTeil der ankommenden
internationalen FlügeinandereStädteum-
geleitet werden. Das dürfteviele,die eine
Heimreise erwägen, abschrecken. Die Be-
hörden appelliertenam Mittwochanchine-
sischeAuslandsstudenten, nachMöglich-
keit auf eine Heimkehr zuverzichten.
Viele aus Europa hatten sichschon vor-
her auf denWeggemacht. „Ichhielt es in
China für sicherer,die Situation in den
Niederlanden schien mir außerKontrol-
le“, sagt einePolitikstudentin, die sichin
ihrer Heimatprovinz Guangdonggerade
der obligatorischen Quarantäne unter-
zieht.Irritierthabe sie zum Beispiel, dass
in den Niederlanden niemand eine Schutz-
masketrage.Umnicht diskriminiertzu

werden, habe sie ebenfalls daraufverzich-
tet, auchweil Leutesonstdächten, sieste-
he unter dem EinflusschinesischerRegie-
rungspropaganda, sagt die jungeFrau, die
Elle ngenanntwerden will. Insgesamt
habe sie das Gefühlgehabt, dassden Nie-
derländernund deren Regierung der
Ernstder Lagenicht bewusstgewesen sei.
„Vielleicht liegt das daran, dassEuropa
schon so langekeine Epidemie mehr er-
lebt hat.InChina sind die Erinnerungen
an Sarsnochfrisch.“VonihrenKommilito-
nen hörte Ellen immer wieder,sie sei jung
und werdeschon nicht an Covid-19ster-
ben. DochEllen hatteüber Wochen in den
chinesischen sozialen Medienvonden Fa-
milientragödiengelesen, die sichvor al-
lem inWuhan abspielten. Davonwaren
auchjüngereMenschen betroffen. Statis-
tischmögen sie in der Minderheitgewesen
sein. Dochfür Ellenwarensie nicht nur
Zahlen, sondernMenschen, die irgend-
wann aufhörten, sichzumelden.
„Logischkonnten meine Mitstudenten
das nachvollziehen, aberemotional nicht“,
sagt eine andere Studentin aus den Nieder-
landen, diekürzlichmit dem letzten Di-
rektflug aus Amsterdam inPeking ankam.
Sie entschied sichzur Rückkehr,als sie
sah, wierasant diePreise für dieFlügein
die Höheschossen.Mehr als 2000Euro
zahlte sie für ihrTicket.Anne, wie sie in
Leidengenannt wird,geht davonaus, im
Falle einer Erkrankung in China medizi-
nischbesser betreut zuwerden. „Wer in
den Niederlanden milde Symptome hat,
wirdnicht getestet,sondernaufgefordert,
zu Hause zu bleiben. Darüberwar ic hbe-
sorgt.“Vonden Berichten ausWuhan wis-
se sie, dassmilde Symptome bei Covid-
überNacht in schwereKrankheitsverläufe
umschlagenkönnten. InPeking sei es viel
leichter, getestet und ins Krankenhaus
überwiesen zuwerden, sagt Anne.
Der Wendepunkt sei für sie erreicht ge-
wesen, als in den Niederlanden Infektions-
fälle auftauchten, derenUrsprung nicht
mehr zurückverfolgt werden konnte. „Ich
fühle michinChinageschützt,weil ich
weiß, dassdie Bevölkerung und dieRegie-
rung die Gefahr ernstnehmen“, sagt sie.

Weilan Duan und ihr Sohn Listaus
Frankfurthaben zwischenzeitlichsogar
überlegt, in ihreHeimatstadtWuhan zu-
rückzukehren.Auch sie hatten den Ein-
druc k, dassdie Deutschen die Gefahr un-
terschätzten.Nach ihrem Empfinden wur-
den die Schulen in Hessen zu spätge-
schlossen und das öffentliche Leben zu
späteingeschränkt.Diskriminierung spiel-
te wohl aucheine Rolle. Sorief dieNach-
barin plötzlichan, um zu sagen, die Duans
solltenkeine Pakete mehr für sie anneh-
men. InWuhan hätten sie sichgerade des-
halb gut aufgehobengefühlt,weil die Ärz-
te dortammeisten Erfahrung mit der Be-
handlungvonCovid-19hätten, sagtWei-
lan Duan. Dafür hätten sie sogar inKauf
genommen, insgesamt vierWochenin
Quarantäne zu müssen: einmal inPeking
unddanninWuhan.Beruhigthabesie
aber,dassdie Bundesregierung inzwi-
schen viele Maßnahmen ergriffenhat.
„Fra uMerkelhat gesagt, dassalle Bürger
die Lageernst nehmen sollen und wir das
Virusnur gemeinsam überstehenkön-
nen“, sagt ihr zwölf Jahrealter Sohn. Er
und seine Mutter sagen, sie seien jetzt
froh, dasssie letztlichgeblieben sind.
In Chinawerden dieRückkehrer der-
weil nichtvonallen mit offenen Armen
empfangen. EinStudent, der in einemVi-
deoblog über seineRückkehr aus Italien
berichtete, wurde mit Hassnachrichten
wie dieser überzogen: „Du bistnicht da,
wenn dein Heimatland dichbraucht, aber
du bistder Schnellste,wenn es darum
geht,das Virusaus TausendenMeilen Ent-
fernung einzuschleppen.“ Er antwortete
darauf mitdem Hinweis, Auslandsstuden-
tenhätten in der Hochphase der Krise die
Maskenvorräteinden Apotheken ihrer
Gastländer aufgekauft, um sie nachChi-
na zu schicken, und zum Dank würden sie
nun diskriminiert.
Die Schmähungen im Internetnahmen
derartüberhand, dassdas Parteiorgan
„Volkszeitung“ sichgezwungen sah, an
den Gemeinsinn zu appellieren: „DasVa-
terland istunsergemeinsamesZuhause.
In Krisenzeiten sollten Landsleute zusam-
menhalten.“

Ob das deutscheRechtAusgangssper-
renüberhauptzulässt,ist fraglich. Im
bayerischen Mitterteich wurde die
erstederartigeMaßnahme auf §
des Infektionsschutzgesetzes ge-
stützt, für dessen Anwendung die Ge-
sundheitsämter oder–imVerord-
nungswege–die Landesregierungen
zuständig sind. DieVorschrift sieht ei-
nerseits die AnordnungvonQuaran-
täne vor; dies istaber nur bei Kran-
kenoder mutmaßlichInfiziertenzu-
lässig. An andererStelle erlaubt §28,
Personen zu „verpflichten, den Ort,
an dem siesichbefinden, nicht zuver-
lassen“; dies allerdings nur,„bis die

notwendigen Schutzmaßnahmen
durchgeführtworden sind“.Wochen-
oder garmonatelangeAusgangssper-
renwären davonnachAnsicht der Je-
naer Rechtslehrerin AnikaKlafki
nicht erfasst. Schließlich spricht §
nochdavon, dassweiter e„notwendi-
ge Schutzmaßnahmen“ ergriffenwer-
den können. Diese sehrweit gefasste
Befugnis dürftejedochnicht den Be-
stimmtheitsanforderungengenügen,
die das Grundgesetz an Einschrän-
kungen der Bewegungsfreiheitstellt.
Der Bundestagkönnteam25. März
allerdings eineVerschärfung derRe-
geln beschließen. cvl.

Als Boris Johnson am Mittwoch zum
vorerstletzten Mal die „Fragenanden
Premierminister“ beantwortete ,hörten
ihm nur nochein paar DutzendAbge-
ordnete zu, und die achteten darauf,
dasssie zwei Metervoneinanderent-
ferntsaßen. Als amTagdarauf auch
nochKöniginElisabeth II. bekanntgab,
dasssie die Geschäfte ruhenlassen und
sichfür die nächstenWochen auf
SchlossWindsor zurückziehenwerde,
warspätestens klar,dassesmit derNor-
malität auchimpolitischen Bereichein
Ende hat.Der britische Sonderwegzur
Bekämpfung des Coronavirus, der in
Wahrheit nur ein Schleichpfadwar, ge-
hörtder Vergangenheit an.
Wochenlang hattedas Königreichei-
nen nichtvöllig anderen, aber dochbe-
hutsameren Ansatz verfolgt.Ähnlich
wie die Niederlande, mit denen es
schon zugemeinsamenEU-Zeiten die
größtenÜbereinstimmungengab, be-
mühtesichGroßbritannien um ver-
meintlichen Pragmatismus. Andersals
der brasilianische Präsident Bolsonaro
oder anfangsTrump sprachJohnson
nie von„Hysterie“, aberradikale Ein-
schränkungen des öffentlichen Lebens
wurdenvonihm und seinenbeiden me-
dizinischen Chefberaternals unverhält-
nismäßig,wenn nichtkontraproduktiv
bezeichnet. A uf Großveranstaltungen,
hieß es langeZeit, würden die Infektio-


nen nicht sprießen; dasVirusverbreite
sicheher „amkleinen Ort“, dort,woFa-
milien undFreunde zusammensäßen.
Erst als Veranstalter wie die Premier
League eigenmächtig Entscheidungen
trafen, drehteauchdie Regierung bei.
Sie verbotzwarkeine Massenzusam-
menkünfte,rief aber die Bürgerauf,
sichdavonfernzuhalten, und stellte
auchkein öffentlichesPersonal mehr
zur Unterstützung ab.
Das Musterwiederholtesichbei den
Schulschließungen. Diese seien nicht
notwendig, hieß es bis Mittwoch. Dann
trat Johnson, wie mittlerweile jeden
Nachmittag, in der DowningStreet vor
die Presse undteiltemit, dassnun auch
im Königreichdie Schulenbis au fweite-
resgeschlossen würden. Kindergärten
und privaten Bildungseinrichtungen
empfahl er,dem Beispiel zufolgen.Von
Montag an wird es nur nocheinenNot-
betriebgeben, den die KindervonÄrz-
ten, Krankenschwestern,Polizistenund
anderen alsrelevant eingestuftenBe-
rufsgruppen in Anspruchnehmen dür-
fen. Noch bei der Erläuterung der Maß-
nahme merkteman demWissenschaftli-
chen Chefberater derRegierung,Pa-
tric kVallance, seine Skepsis an. Er sei
nochimmer derAuffassung, dassdie
Schulen „sichereUmgebungen“ seien,
aber die dynamischen Infektions- und
Sterberaten machten nunweiter eMaß-
nahmen nötig.
Es wurde viel darüber spekuliert,
warumdie Regierung Johnson so zöger-
lichzuWerke gegangenwar. Die Briten
sind sehr sensibel in Gesundheitsfra-
genund anVerbote wie Einschränkun-
gengewöhnt.Eine Erklärungkönnte
der beklagenswerte Zustand desNatio-
nalen Gesundheitsdienstes(NHS) sein.
Die medizinischeForschung hat inter-
nationales Spitzenniveau, aber der
staatliche NHS hat imVerhältnis zur
Einwohnerzahlweniger Intensivbetten,


weniger Ärzteund weniger Schutzaus-
rüstungals die meistenGesundheitssys-
teme in Europa.WollteJohnsonwo-
möglicheinfachnur Zeit gewinnen, um
die Engpässe zu erweitern?
Manchewarfen derkonservativenRe-
gierung auchvor,den ökonomischen
Folgen Priorität beizumessen. Die Bri-
tensind traditionell wirtschaftsliberal
eingestellt;auchdies haben sie mit den
Niederländerngemein.Zu den Begleit-
erscheinungengehörtein flexibler Ar-
beitsmarkt ohne enggeknüpftessozia-
les Netz. Entlassungen sind arbeits-
rechtli ch kaum beschränkt, undwer
krank ist, erhält nur 96 Pfundinder Wo-
che. Johnsons anfänglicheZurückhal-
tung schien eineWeile mit derStim-
mung in der Bevölkerung zukorrespon-
dieren.Viele Briten zogen den Sinnra-
dikaler Maßnahmen in Zweifel undfolg-
ten Johnsons Beratern,die davorwarn-
ten, über dasNahziel der Infektionsein-
dämmung dasgrößere Bild aus denAu-
genzuverlieren. Der andereTeil derBe-
völkerungverlangte aber immer drin-
gender ein härteresVorgehen,wasim
Zusammenspielmit denweiter reichen-
den Maßnahmenauf demKontinent
den Druckauf Johnson so sehr erhöhte,
dassereinschwenkte. Am Donnerstag
beschlossdas Parlament Sondervoll-
machten für dieRegierung, um die bis-
herigen„Verhaltensempfehlungen“ not-
falls mitStaatsmacht durchzusetzen.
Auch der niederländischeMinister-
präsident MarkRuttehattebei der Be-
wältigung der Corona-Krise zunächst
einen Sonderwegeingeschlagen. Am
Montagabendwandtesichder Rechtsli-
berale in einerFernsehansprache an
die Nation; soetwashatteesseit Jahr-
zehnten nicht mehrgegeben.Ruttebe-
mühtesich, den besonderen Ansatz sei-
ner Regierung darzulegen, der dem bri-
tischen ähnlichist.Man strebeeine
„kontrollierte Verbreitung“ desVirus
an.„Je größerdie Gruppe ist, di eImmu-
nität erlangt, desto kleiner wirddie
Möglichkeit, dassdas Virusauf anfälli-
ge älter eMenschen und Menschen mit
Vorerk rankungen überspringt“, sagte
er.Deshalb müsse man um diese Grup-
pen einen „Schutzwall“ ziehen.
Allerdings gingRuttenicht darauf
ein, wie das möglichist. Schließlich
sind diese Menschen oftpflegebedürf-
tig und schon deshalb mit anderen in
Kontakt.Vehement sprachersichdage-
genaus, dasganze Land „vollständig
herunterzufahren“; denn das würde
„ein Jahr oder nochlänger“ dauern. Da-
mit bezog er sichoffenbar auf dieZeit,
bis ein Impfstoffverfügbar ist. Empha-
tischgab Ruttesichals Verteidiger der
Freiheit:„DieNiederlande sindein of fe-
nes Land.“ Beruhigend wirktedas je-
dochnicht, zumal die Niederländer
schon am nächstenTag mit ansehen
mussten, wie die belgischenNachbarn
Ausgangsbeschränkungen und einVer-
sammlungsverboterließen.
In den Medien wurde immer öfterge-
fragt:Müssen wir das nicht auchma-
chen? Zumal sichgrenznahe niederlän-
dische Gemeinden darüber beklagten,
dassBelgier in ihre Restaurants und
Kneipen einfielen. Am Mittwochruder-
te Ruttedann zurück. Man habekeine
andereStrategie als dieNachbarn, be-
teuerte er im Einklang mit seinem Ge-
sundheitsminister. Entscheidend sei
die Zahl derverfügbaren Intensivbet-
ten. Frankreichund Belgien hättenre-
striktiveMaßnahmen erlassen, weil
sichihreKapazitäten erschöpften.
„Das istauchhier vorstellbar,aber wir
sind nochnicht an dem Punkt.“Esdürf-
te nur eineFragevon Tagensein, bis es
zu weiteren Einschränkungen im öffent-
lichen Lebenkommt.

Die große


Testlücke


Antikörper dringend


gesucht:Ein Silberstre if


VonJoachim Müller-Jung


VomStarkbierfest in die Quarantäne


In Bayern werden ersteAusgangssperrenverhängt, MarkusSöder droht mit landesweitenVerboten/VonTimo Fraschund Anna-LenaRipperger


Angstvor der zweiten Welle


Abschied ausWuhan:Ein medizinischesTeam beendetseinen Einsatz. FotoGetty

VonJoche nBuchsteiner,
London,und Thomas
Gutschker,Brüssel

Rechtlichzulässig?


Die Zeitder


Sonderwegeist vorbei


Auch London und Den HaagverschärfenVorgehen


In China fürchtetman


aus Europa importierte


Infektionen mittlerweile


mehr als dieVerbreitung


im Land. Dennvon


dortkehren immer


mehr Chinesen zurück.


VonFriederikeBöge,


Peking

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