FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik FREITAG,20. MÄRZ2020·NR.68·SEITE 3
Es wareine andereRede als sonst, mit der
Angela MerkelsichamMittwochabend
an die Deutschenwandte. Da saß nicht
mehr dieKanzlerin, der die meistenMen-
schen seit 15 Jahren nur am Silvester-
abend für zehn Minuten amStückzuhö-
ren. Schongarnicht dieKanzlerin, die
eineRegierungserklärung abgibt. Merkel
pflegt dann sehr nüchternzusprechen,
ihreFreundlichkeit istTeil des professio-
nellenAuftr itts. Seit 2005teilt sie ihren
Zuhörernmit, wie die Dingesind und wie
sie diese hinzunehmen haben. Punkt.
Am Mittwochabend,als die Corona-
Krise einerseits zum bestimmenden The-
ma der Diskussionenimganzen Landge-
worden war, andererseits dasVerhalten
vieler Menschen nochnicht so diszipli-
niertwar,wie Merkelesfür erforderlich
hält,versucht esie sichineiner für sie un-
gewohnten Disziplin.Mit der ihr zu Gebo-
te stehenden Empathie bemühtedie
Kanzlerin sich, ihremehr als achtzig Mil-
lionen MitbürgeranihremweiterenVor-
gehen zu beteiligen. Sie lächeltekurz, als
sie Enkelnvorschlug, für ihreGroßeltern
einenPodcastaufzunehmen, damit die
nicht so allein seien. Soweit wie am Mitt-
wochabend hattesie sichdem Volk bisher
nochnicht angenähert. Sogar dieWar-
nung, dassauchnochweiter eMaßnah-
menkommenkönnten–nachLageder
Dingekönnte das nur eineAusgangssper-
re sein –,verpackt esie weich.
Immer wieder sagteMerkelinunter-
schiedlichenFormulierungen, dassalle
staatlichen Maßnahmen ins Leereliefen,
wenn nicht jeder Einzelne durch sein Ver-
halten mithelfe, die Ausbreitungdes Vi-
ruszuverlangsamen. Die mächtigeKanz-
lerin, die trotzoder wohl gerade wegen
des holprigenKampfesumihreNachfol-
ge bestens dasteht in denUmfragen, die
gleichwohl auf der Zielgeraden ihres poli-
tischen Lebens oftmerkwürdig abge-
taucht wirkte,wenig Verständnis für die
Ränkespiele ihrer Parteifreunde zeigte
und vonSüdafrikaaus mit dem Selbstbe-
wusstsein der politischenNummer eins
hemmungslos in dieRegierungsbildung
in Thüringen eingriff ,als sei das im
Grundgesetz sovorg esehen, dieseKanzle-
rinteilteden Bürgern am Mittwochnicht
mehr einfachmit, wie sievorgeht, sie bat
sie millionenfachumHilfe. Ihre Bot-
schafthieß: Alleinkann ichdas nicht.
Das kennt man nichtvonihr.
Sie selbstbeschrieb ihreAnsprache als
„ungewöhnlichenWeg“. Siewolle mittei-
len, wassie und „meineKollegen in der
Bundesregierung“ leite in der Corona-Kri-
se. „Dasgehörtzueiner offenen Demo-
kratie: dasswir die politischen Entschei-
dungen auchtransparent machen und er-
läutern. Dasswir unser Handeln mög-
lichs tgut begründen undkommunizie-
ren, damit es nachvollziehbarwird.“ Oft
istMerkelvorgeworfen worden, dasssie
die Menschen nicht mit der nötigen Ein-
fühlsamkeit mitnehme. Gerne überfrach-
tetsie ihreReden mitfachlichen Details,
die beeindruckend klingen, aber ungeeig-
netsind, die nicht auf ihremWissens-
stand befindlichenZuhörer,also die meis-
ten, an ihren Schrittenteilhaben zu las-
sen.
Ein Paradebeispielist ihreBundestags-
rede wenigeTagenachdem Reaktorun-
glückinFukushima, in der sie am 17.
März2011 darlegte,warumDeutschland
auf dieAtomstromerzeugungverzichten
werde. Mit derStrengeeiner Professorin,
die kein Verständnis für diejenigen hat,
die ihr nichtfolgenkönnen, wies sie auf
Ereignisse jenseits der „bisherberücksich-
tigten Szenarien“ als Grund ihres Han-
delns hin. Als sieetwa sagte, Deutschland
werdenicht aus anderen Ländernden
Strom einkaufen, den die eigenenKern-
kraftwerke nicht mehr herstellten, schob
sie mit erhobenerStimme und in schar-
femTon hinterher:„Das istmit mir nicht
zu machen.“ Zwar handelte Merkelunter
dem Druckauchvon Landespolitikern,
die die Situation nutzenwollten, um ihre
Kernkraftwerke abzuschalten. Aber sie
hättebesser erklärenkönnen,warum sie
dergrößten Wirtschaftsmacht Europas
im HandstreichsichereStromquellen
nahm.
Die KritikervonMerkels Energiepoli-
tik oder nochmehr ihrer Flüchtlingspoli-
tik hätten ihreHaltungvermutlichnicht
geändert,wenn Merkelihr Vorgehen bes-
ser erklärthätte.Aber ihreBasta-Metho-
de, die bei allenUnterschiedengelegent-
lichsogar an ihrenVorgänger Gerhard
Schröder erinnert, machtesihren Geg-
nernleicht und manchemUnentschlosse-
nen schwer.„Ichmussganz ehrlichsagen,
wenn wir jetzt anfangen, uns nochent-
schuldigen zu müssen dafür,dasswir in
Notsituationen ein freundliches Gesicht
zeigen, dannist das nicht mein Land“,ver-
teidigtesie 2015 trotzig ihreEntscheidun-
gen, die Grenzen nicht für Asylsuchende
zu schließen.AusKritiker-Mundwardar-
aufhin zumindesthinter vorgehaltener
Hand die wütende Entgegnung zu hören,
das sei ja auchnicht ihr Land.
Politik mit nachaußen getragenen
Emotionen zu machen istnicht dieStärke
vonAngela Merkel. Siekann auchgerade-
zu ungelenk mit Situationen umgehen, in
denen sichsoetwas anbahnt.Unverges-
sen istdie Szene imKonrad-Adenauer-
Haus in derWahlnacht des September
2013, als die CDU knapp an einer abso-
luten Mehrheit der Mandatevorbei-
schrammteund dieParteiführung auf ei-
ner Bühne zu dem Song„Tagewie diese“
feierte.Generalsekretär Hermann Gröhe
bekam ein Deutschland-Fähnchen in die
Handgedrückt, dochbevor er auchnur
darüber nachdenken konnte, es zu
schwenken, nahm Merkel, einer Gouver-
nantegleich, es ihmwegund ließ es in
der Kulisseverschwinden. Anschließend
handelteGröhe sichvor einem Meervon
Kamerasnochein missbilligendesKopf-
schütteln der Chefin ein.
Merkels Ansprache in der Corona-Kri-
se waroffensichtlichvon vielen Men-
schen erwartet worden. 25 Millionen
Fernsehzuschauerverfolgten sie an den
Bildschirmen.Vielleicht hat die Emotio-
nalität, die sie in ihrer zwölfminütigeAn-
sprache zeigte, auchbeeindruckt.Zumin-
desteinigeOppositionspolitiker.Der
FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der
getros taus dem Lager der Merkel-Freun-
de herausgerechnetwerden darf, begrüß-
te es, dassdie Kanzlerin „die Bürgerin-
nen und Bürger, uns alle, in die Pflicht
nimmt“. Bei den Grünenwarendie Kom-
mentaresehr positiv.Der Parteivorsitzen-
de RobertHabecksagte, der „unaufgereg-
te,aber präzise“Tonhabe ihmgefallen.
Der Grünen-Abgeordnete Konstantin
vonNotzjubelte: „Mankann in dieser Kri-
se einfachnur froh sein, eineKanzlerin
wie Angela Merkelzuhaben.“
S
oschlimmwar es nicht einmal
in China zu den schlimmsten
Zeiten der Epidemie: An einem
einzigenTagsind in Italien 475
Menschen an der durch das neu-
artig eCoronavirus ausgelöstenLungen-
krankheit Covid-19 gestorben. Die er-
schreckende Zahl nannteder Chef des Zi-
vilschutzes, Angelo Borrelli, am Mittwoch-
abend bei seiner täglichen Pressekonfe-
renz. Auch bei der Gesamtzahl derTodes-
opferkönnteItalien bald einen Spitzen-
platz nochvor China erreichen. Die Ge-
samtzahl der Opfer seitAusbruchder Epi-
demievom20. Februar in derStadt Codo-
gno nahe Mailand erreichte am Mittwoch
2978.Undangesichts der Schreckenszah-
len, die Zivilschutzchef Borrelli der italie-
nischenNation jedenAbend gegen18Uhr
verliest, mussesals sichergelten, dassIta-
lien bald mehr Opfer zu beklagenhat als
China. Dortstarben 3200 Menschen an
der Krankheit Covid-19,dochdie Zahl der
Neuinfektionen istinChinaseit Wochen
rückläufig.InWuhanwerdendieinaller
Eile errichtetenNotlazarette inzwischen
wieder abgebaut.Dagegen treibtman in
Mailand, der Hauptstadt dervonder Epi-
demie besonders betroffenen norditalieni-
schenRegion Lombardei, die Eröffnung
einesNotkrankenhauses für Covid-19-Pa-
tienten in zwei Messehallen derStadt mit
aller Kraftvoran.
Aus Bergamo imNordostender Lom-
bardei wirdderweil gemeldet, dassdas ita-
lienische Heer mit Militärlastwagen Särge
vomZentralfriedhof derStadt fortschafft.
Ein Armeesprecher bestätigteamDon-
nerstag, dass50Soldaten mit 15 Lastwa-
gendazu abkommandiertworden seien,
mehr als fünf Dutzend Särge mit den
sterblichenÜberresten deranden vergan-
genen TagenVerstorbenen in die benach-
barte Region Emilia-Romagna, nachMo-
dena und nachBologna zu bringen. Ob-
wohl das Krematorium in Bergamo rund
um die Uhr betrieben wirdund auf dem
Zentralfriedhof derStadt Beerdigungen
im Halbstundentaktstattfinden,standen
die Särge in langenReihen in der Kirche
„Ognissanti“. Bis auchdortkein Platz
mehrwar. „Es istein tragischerAugen-
blick“, sagteBergamos Bürgermeister
Giorgio Gori.
Nicht nur aus den besondersbetroffe-
nen Regionen Lombardei, Emilia-Roma-
gna undVenetienkommt deshalb dieFor-
derung, nochschärfere Maßnahmen zur
Eindämmung der Epidemie zu ergreifen.
Die Arbeit in allen zurVersorgung der Be-
völkerung nicht notwendigen Fabriken
und Büros sollegestopptwerden. Aus Ber-
gamo waramMittwochgemeldetwor-
den, dasszweiPostanges tellteder Stadt
an derLungenkrankheitgestorben seien.
Die Gewerkschaftder Angestellten und
Arbeiter im öffentlichen Dienstfordert
deshalb, auchPostämter sowie Banken
ausnahmslos zu schließen. Bisher gilt in
Italien der Gang zur Arbeit als legitimer
Grund, trotzder am 11. Märzverhängten
allgemeinen Ausgangssperre das Haus
oder dieWohnungzuverlassen.Auch Jog-
genund Spaziergängewaren bisher er-
laubt.Weil viele Leuteentgegen denVor-
schriftennoch immergemeinsam Sport
treiben,weil in denPark sund Erholungs-
anlagen vielerStädtemancherorts Sonn-
tagsbetrieb herrscht, sollen nachdem Wil-
len vonSportministerVincenzo Spadafo-
ra sämtliche sportlichen Aktivitäten un-
terfreiem Himmelverbotenwerden.
Der lombardische Gesundheitsminis-
terGiulio GallerakündigteamDonners-
tagan, dieRegionalregierung in Mailand
werdeimAlleingang eineVerschärfung
der Ausgangssperre durchsetzen,wenn
die Zentralregierung inRomdies nicht be-
schließe. SämtlichePark ssowie öffentli-
cheErholungsanlagen müssten geschlos-
sen werden. Die Krankenhäuser undPoli-
kliniken der Lombardeistündenvordem
Kollaps,warnte Gallera: „Nicht nur Senio-
renwerden eingeliefert, eskommen auch
Menschen, die 50 oder sogar nur 40 Jahre
alt sind.“AuchRegionalpräsidentAttilio
Fontana hattesichamMittwochabend
abermals mit einem eindringlichen Ap-
pell an die Bevölkerunggewandt:„Die
Zahl derNeuinfektionengeht undgeht
nicht zurück, sie bleibt hoch.Wirwerden
bald nicht mehr in der Lagesein, für die
Kranken eine Behandlung zugewährleis-
ten. MeineFreunde, jedesVerlassen der
Wohnung oder des Hauses istein Risiko–
für Sie und für andere. Bleibt zu Hause!
Wirforderndieses Opfer,umMenschenle-
ben zuretten.“ Am Donnerstag signali-
sierte Ministerpräsident Giuseppe Conte,
dassauchdie Regierung inRomeine aber-
maligeVerschärfung derAusgangssperre
für dasganze Landvorbereite.Außerdem
kündigteContegegenüber derTageszei-
tung „Corrieredella Sera“ an, dassdie
Gültigkeitsdauer der drastischen Ein-
schränkungen über das bisher anvisierte
Datum des 3. April hinausverlängertwer-
de. „Es istklar,dasswir nicht sofortzuun-
seremgewohnten Alltag zurückkehren
können,wenn wir,hoffentlichinwenigen
Tagen, die Spitze derWachstumskurve
bei denNeuinfektionen erreicht haben“,
sagteder Regierungschef: „EineVerlänge-
rung derAusgangssperre und der Schlie-
ßungsbestimmungen,vorallem der Bil-
dungseinrichtungen, scheint unumgäng-
lich.“ DieKontrollen durch die Sicher-
heitskräfte wurden schon seitWochenan-
fang verschärft.
Nach Angaben des Innenministeriums
wurden seitVerhängung der Ausgangs-
sperrevom 11. Märzimganzen Land
mehr als eine MillionMenschenkontrol-
liert; allein am Dienstaghabe es fast
190 000Kontrollengegeben.Gegen mehr
als 8000Personensei Anzeige erstattet
worden, weil siegegendie strengenAus-
nahmeregelungenverstoßen hätten. Auch
ein neuesFormular zur „Selbstautorisie-
rung“, das jedermit sic hführen muss, der
sein Haus oder seineWohnungverlässt,
wurde herausgegeben.Neben dem Grund
zum Anlassdes Unterwegsseins mussnun
auchangegebenwerden, dassman weder
selbst positivauf dasVirusgetestetwurde
nochauchwegen derRückkehr aus einem
besondersgefährdeten Gebietinder
PflichtquarantänevonzweiWochen Dau-
er is t. Werohne Grund auf derStraßeist,
riskiert eine Geldbußevon206 Eurooder
drei Monate Gefängnis.Werfalsche Anga-
benzum Test oderzur Quarantäne macht,
kann sogar mit bis zu zwölf JahrenGefäng-
nis bestraftwerden.
Nicht nurwegender weltweit höchs-
tenZahl der Infiziertenund derTodesop-
fersind Italien und Chinadurch die in-
zwischen zur Pandemieausgewachsene
Covid-19-Seuche auf sonderbareWeise
miteinander verbunden. Seit die Füh-
rung inPeking die Ausbreitung des Coro-
navirus im eigenen LandunterKontrolle
gebracht zu haben scheint, überhäuftsie
das nunbesondersstarkbetroffene italie-
nischeVolk buchstäblichmit medizini-
scher Hilfe und mit Ausrüstung. In einem
Telefongesprächmit Ministerpräsident
Contesagteder chinesischeStaats- und
Parteichef Xi Jinping am Dienstag, Ita-
lien und China seien die Grundpfeiler für
einekünftige„Seidenstraße der Gesund-
heit“.
Am Mittwochabendlandete aufdem
Flughafen Mailand-Malpensaein zweites
Flugzeugmit Hilfsgütern undmedizini-
sche mPersonal. EinerstesFlugzeugmit
Expertenund tonnenweise Ausrüstung aus
Schanghaiwarschon sechsTagezuvor in
Rom-Fiumicinoeingetroffen. DieamMai-
länderFlughafenvomstell vertretendenRe-
gionalpräsidentenFabrizi oSala empfange-
ne GruppevonsiebenÄrzten, drei Pflege-
rinnenund zweiTechnikern ,die unter an-
derem 400000 Atemschutzmasken und
5000Schutzanzüge, dazuSchutzbrillen
und Desinfektionsmittel, Beatmungsgerä-
te undMonitoremitbrachten,kamaus der
chinesischen ProvinzZheijang.
M
it dieser Provinz im Süd-
ostenChinas hat Italien
eine besondersengeVer-
bindung. Ankerpunkt
und Drehscheibe dieser
Verbindung istdie Stadt Pratonordwest-
lichvon Florenz in derRegionToskana.
Mitteder achtziger Jahregab es in Italien
gerade einmalrund 1600 Chinesen. Heu-
te sind es nachoffizieller Zählung gut
321 000.Tatsächlichdürften es aber deut-
lichmehr sein,womöglichdoppelt so vie-
le, rechnet mandie chinesischen Migran-
tenohneAufenthaltstitel und auchdie
eingebürgerten Chinesen hinzu.
Seit den neunziger Jahren strömten
Zehntausendechinesische Arbeiter nach
Prato, die meistendirekt aus derKüst en-
stadt Wenzhou in der Provinz Zheijang,
andereüber Drittstaaten auf illegalem
Wege.InPratoschuftetensie zu Hunger-
löhnen inStrickereien, Nähereien und
Schuhfabriken, die ebenfallsvonChine-
sen aus Zheijang betrieben wurden. Mit
ihren Produkten unterbotendie chinesi-
schenUnternehmervonPratodie Preise
der alteingesessenenitalienischenFamili-
enbetriebe, die seit Generationen die
Kleider-, Taschen- und Schuhindustrie
der Regiongeprägt hatten. Deshalbver-
lief diewachsendechinesische Einwande-
rung nachPrato in denvergangenen drei
Jahrzehntenkeineswegs immer harmo-
nisch.Vonden rund 195 000 Einwohnern
Pratos sind heute mindestens 50 000 Mi-
granten aus China.Rund 5000 Betriebe
in chinesischer Hand gibt es in Prato, ne-
ben den vielleicht 3500Textilfabriken
sind es Supermärkteund Lebensmittellä-
den,Restaurants undFriseursalons, Arzt-
praxen und Apotheken,Versicherungs-
makler undReisebüros. Das Chinesenvier-
telvon Pratogilt als diegrößtekompakte
ChinatownEuropas.
Die italienische Journalistin Silvia Pie-
raccani hat schonvorgut zehn Jahren ein
Buchüber Pratomit demTitel„L’assedio
cinese“ (Diechinesische Belagerung)ver-
öffentlicht.Darin beschreibt sie das Le-
ben vonChinesen und ItalienerninParal-
lelwelten, die nurwenigeBerührungs-
punkteaufweisen. Die „chinesischeWirt-
schaft“ vonPratokommtauf einen Jahres-
umsatz vongeschätzt zwei Milliarden
Euro. Die produziertenWarenwerden
vonmultinationaltätigenUnternehmen
in dieganze Welt exportiert. Die ViaPis-
toiese istsoetwas wie die Magistrale der
Chinatownvon Prato. Sieverläuftvon der
ehemaligenStadtmauer imNordwesten
schnurgerade in RichtungStadtmitte. Sie
istgesäumtvonzweistöckigenWohnhäu-
serninPastellfarben undvonunansehnli-
chen Zweckbauten. Hier lebten einstdie
italienischen Arbeiter der traditionellen
Stoff- und Lederindustrie.
H
eutegibt eskaum eineAuf-
schriftohne chinesische
Zeichen. Man siehtnur we-
nigeMenschen auf derStra-
ße,die meisten tragen
Mundschutz.VorApothekenund Lebens-
mittelgeschäftenstehen die LeuteSchlan-
ge,imvorschriftsgemäßenAbstandvon
mindestens einem Meter. Im „Supermerca-
to Lucky“, einem kleinenLebensmittella-
den, wirdgerade umgebaut.Der Besitzer
gibt seinenNamenmit Gianni an, er ist
Einwanderer der zweiten Generation, die
Elternstammen ausWenzhou. „Für unse-
re Kunden, aber auchfür unsere Angestell-
tenstellen wir dieRegale so um, dassman
immer den Sicherheitsabstand einhalten
kann“, sagt erinakzentfreiem Italienisch:
„Nächste Wochewollen wir wieder aufma-
chen.“ Ein paar Leute, es sind ausnahms-
los Chinesen, und alle tragen Mundschutz,
schlüpfen unter der halbherabgelassenen
Metalljalousie hindurch,umraschein
paar Einkäufezuerledigen. Eigentlich
dürften sie das nicht, offiziell istnochbis
einschließlich Sonntaggeschlossen.So
steht es auf demZettel, der an der Metall-
jalousie klebt.
„Die Lagehier in Pratoist besser als an-
derswoinder Toskana und natürlichviel
besser als in der Lombardei“, sagt Laden-
besitzer Gianni. Das erklärterdamit,
dasssichdie Leute, und er meint offenbar
vorallem seine Landsleute,streng an die
Vorschriften hielten.Die Italiener,mit de-
nen es imÜbrigeninPratokeinerlei Pro-
blemegebe, seien da ein bisschen nachläs-
siger .Tatsächlichhat der Zivilschutz der
Toskana am Mittwochgemeldet, dassdie
Zahl der Infektionen in der Provinz Prato,
die insgesamtrund 260 000 Einwohner
hat,umsechs aufjetzt insgesamt 59gestie-
genist. Es ist, in absolutenZahlen undre-
lativ zur Einwohnerzahl, der niedrigste
Wert aller zehn Provinzender RegionTos-
kana. Maurizio Belpietro, Gründer und
Chefredakteur der rechtsnationalisti-
schenTageszeitung „LaVerità“, hat aus
seinem Hang zuVerschwörungstheorien
nochnie ein Geheimnisgemacht.ImLeit-
artikelvomDonnerstag beschreibt er den
angeblichen Beginn der „zweiten Phase
des Virus: Unterwerfung unter die Chine-
sen“.Nachdem diese die Italiener „infi-
ziertund wirtschaftlichindie Kniege-
zwungen“ hätten, gingen sie nun mit „so-
genannten Hilfslieferungen, für die wir
bezahlen müssen, zur Eroberung über“.
Ein älterer Italiener mit Mundschutz, der
seinen Hund ausführt,kann der These
des streitlustigenZeitungsmannes Belpie-
troeiniges abgewinnen. „Schauen Sie
sichdochunser Pratoan“,sagterund deu-
tetmit dem Kinn in Richtung Chinatown.
Es warein einsamerTod. Erst kamein
Anruf aus demHeim in Madrid: Der
Vater habeFieber. WenigeTagespäter
folgtedie Aufforderung, seinen Leich-
nam abzuholen. So schilderte es der
Sohn derspanischenZeitung „El Mun-
do“. DiePfleger leistete nfast Über-
menschliches, aber die Gesundheits-
behörden hätten sie imStich gelassen:
„Sie lassen sie alleinsterben“, sagt die
Tochte reiner86Jahre altenFrau, die
zu Beginnder WocheimAltersheim
MonteHermoso in Madrid die Infekti-
on mit demCoronavirus nichtüberleb-
te.Bis zu zwanzig Bewohner des Al-
tersheims im Südwestender Haupt-
stadt sind in denvergangenenTagen
gestorben. Mehr als siebzig Senioren
und Pfleger sind infiziert.
Entsetzt fragen sichnun viele,war-
um keiner der Schwerkrankenrecht-
zeitig in eine Klinikgekommen sei.
Die Patientenschutzorganisation El
Defensor delPacientewirft dem pri-
vatenHeim mit 130 Bewohnern
„mangelhafteSicherheits- und Hygie-
nemaßnahmen“ sowie „Personal-
und Mittelmangel“vor. Inzwischen
ermittelt dieStaatsanwaltschaft,wäh-
rend die MadriderRegionalpräsiden-
tin Isabel DíazAyuso zunächstver-
suchte, MonteHermoso als einen
Ausnahmefall darzustellen. Er lasse
keine Rückschlüsse auf die anderen
Heime in Madrid zu.
Dochallein am Donnerstagwur-
den in Madrid 18weitereTodesfälle
in drei anderen Senioreneinrichtun-
gender Region mit 7000 Infizierten
undetwa 500 Toten gemeldet.Aber
nicht nur dort: In HeimeninVitoria,
Valencia,Alicante,Barcelona und
CiudadReal starben nacheiner Zäh-
lung derZeitung „ElPaís“ mindestens
dreißig Heimbewohner an einem ein-
zigenTag. Dazukommen viele Dut-
zend infizierteBewohner und Pfleger.
Angehörigeund Mitarbeiterwar-
nen davor, dasssichdie Alteneinrich-
tungen in eine „Zeitbombe“verwan-
delnkönnen.Inspanischen Heimen
leben 375 000 Senioren. Gut 175 000
Schwesternund Pfleger betreuen sie.
Ohne zu wissen,obsie sichselbst infi-
zierthaben, pendelnviele vonihnen
mit öffentlichenVerkehrsmitteln zur
Arbeit.AuchinSpanien hatten diePo-
litiker ihredrastischen Einschränkun-
gendamitbegründet, dasssie voral-
lem die alten Menschen schützenwol-
len. Dochesscheint,als hätten sie die
Gruppe, die amstärksten gefährdet
ist, schnell wiedervergessen.
Dabeikannteman die Risiken. Ei-
ner der ersten Infektionsschwerpunk-
te in Spanien wurde Anfang Märzin
einem Seniorenzentrum im Madrider
Vorort Valdemoroentdeckt.Dort
warein 76 Jahrealter Mann eines der
ersten spanischen Opfer desVirus.
Wenig späterstarb eine 99 Jahrealte
Bewohnerin eines Heimes imZen-
trum derStadt. MehrereDutzend Be-
wohner und Mitarbeiterwareninfi-
ziertworden. DieRegionalregierung
schlossdaraufhin mehr als 200Tages-
stätten für Senioren; Besuche in Al-
tersheimen wurden eingeschränkt.
Danachließ man die Alten und
ihrePfleger offenbarnicht nur in Ma-
drid allein. In den Häusern, in denen
es schon zuvor oftanqualifiziertem
Personal mangelte,fehlten Schutzklei-
dung undTests. Er habe schon seitei-
ner Wochevergeblich das Gesund-
heitsministerium auf die dramatische
Situation hingewiesen, sagte Jesús Cu-
bero. Er istGeneralsekretär desVer-
bandesAest e, in dem sichdie Betrei-
ber zahlreicher Senioreneinrichtun-
genzusammengeschlossen haben.
„Wir sind die einzigeBarriere, die die
Flut derFälle in den Krankenhäusern
nocheindämmenkann. UnsereLeute
arbeiten zu 120 Prozent, aber sie zie-
hen ohneWaffeinden Krieg.Wirha-
benkeine Schutzausrüstung“,sagte
Cubero. In immermehr Heimengera-
te die Situation außerKontrolle.
In MonteHermoso in Madrid be-
richten Angehörigevon einer einzi-
genÄrztin für dasganze Haus. Das
Personal opferesichauf, sei aber neu
und unerfahren. Vergeblichhätten
Pfleger Krankenwagenangefordert,
um SchwerkrankeinKlinikenverle-
genzulassen. Mittlerweile fordert
der regionale Sozialminister, dassdie
Armee in den Senioreneinrichtungen
interveniert.
Auchder letzteWeg vieler Coro-
na-Opfer istähnlicheinsam wie ihr
Tod. WiegefährlichBeerdigungen
seinkönnen, ließ sichAnfang März
im Baskenland beobachten,wo sich
mehr als achtzig Menschen bei einer
Trauerfeier infizierten. Die Bestatter
sind überlastetund wollen sichnicht
selbstgefährden. Meistens holen sie
nur nochden Leichnam ab, lassen
ihn soforteinäschernund setzen die
Urne bei. NurwenigeAngehörige
können sichvon denVerstorbenen
verabschieden. EinigeBestattungsun-
ternehmen bietenan, dasssie an ei-
ner kurzen Trauerfeier wenigstens on-
line teilnehmenkönnen: über das Mo-
biltelefon oder das iPad.
So kannte mandie Kanzlerin bishernicht
Angela Merkel sp richtzum Volk –nicht im bekannten Basta-Ton,sondernbittend/VonEckartLohse, Berlin
TodeszoneItalien
TraurigerKonvoi:Italiens Armee transportiertinBergamo die Särge der vielen Corona-Opfer FotoReuters
Zeitbombe
Altenheim
Zahlreiche Corona-Tote
unter älteren Spaniern
VonHans-Christian
Rößler, Madrid
In Italien wütetdas Coronavirus mittlerweile schlimmerals
in China. DieZahl der Opfersteigtimmerweiter .Vielefordern
noch schä rfereMaßnahmen.V on Matt hias Rüb, Prato
Mailand
Bergamo
Codogno
Locarno
TOSKANA
SÜDTIROL-
TRENTINO
Florenz
Brescia
Genua
Gardasee
ÖSTERREICH
SCHWEIZ
SAN
MARINO
ITALIEN
Venedig
Meran
F.A.Z.-Karte lev.
100km
Prato
Golf vonGenua
LOMBARDEI
EMILIA-ROMAGNA
LIGURIEN
VENETIEN
TOSKANA
SÜDTIROL-
TRENTINO
LOMBARDEI
EMILIA-ROMAGNA
LIGURIEN
VENETIEN
AArrnnoo
Po