Frankfurter Allgemeine Zeitung - 20.03.2020

(Nandana) #1

H


ölderlins zweiter und letzter
Abschied aus Homburgist
traumatisch.Dabeiwaren sei-
ne beiden Aufenthalte in
demResidenzstädtchen am
Rande des Taunus poetischschaffens-
reich, der Austauschmit denFreunden
Sinclairund Hegel produktiv,bisweilen so-
garlebensfroh. Jetzt aber geht nichts
mehr.Selbst Sinclair, der sichbis zuletzt
kümmertund Hölderlin finanziell unter-
stützt,weiß sich, da derWahnsinn, wie er
notiert, „eine sehr hoheStufeerreicht
hat“, nicht mehr zu helfen, zumal er selbst
zu allemÜbel soeben seineRegierungs-
stelle verloren hat.Am11. September
1806 wirdder krankeDichter in seinem
Wohnhausabgeholt, in einenWagenver-
frachtet und in dieAutenriethsche Klinik
nachTübingen gefahren. Hölderlin wehrt
sich, er schreit,zerkratzt das Gesicht sei-
nes Bewachersund versucht, sichaus dem
Wagenzustürzen.Docheshilftnichts.
„Le pauvre Holterling ...“, wirdLandgrä-
finCaroline die dramatischeSzene noch
am selben TagihrerTochterin einem
Brief beschreiben.
Zweimal hielt Hölderlin sichfür je weils
zwei Jahrehier auf, eswarenprägende
Jahre. Authentische Erinnerungsorte
sind im heutigen Bad Homburgzwar
nicht mehr zufinden. Das Haus des Hof-
glasersWagner in der Haingasse,wo Höl-
derlinvonSeptember 1798 bis Juni 1800
zwei Zimmer im Obergeschossbewohnte,
„gegen dasFeld hinaus...Gärtenvor
demFenster und ein Hügel mit Eichbäu-
men“,steht nicht mehr.Und auchdas ba-
rockeBürgerhaus in der heutigen Doro-
theenstraße, in dem er später lebte,war
so baufällig, dassdie Stadt es 1983 abriss
und später denkmalgerecht neu errichten
ließ. Aber die Schlosskirche, wo seit eini-
genJahren der Hölderlin-Preis derStadt
Bad Homburgvergeben wird, istnachAn-
sicht derRechtshistorikerinBarbaraDöle-
meyer, die zu Hölderlin in Homburg
forscht, durchaus authentisch. Der Bau
wurde behutsamrestauriert, so dassman
sichimInnerntatsächlichdie Zeit vonda-
malsvorstellen kann.
Wasvon Hölderlin in Homburgbleibt,
istgleichwohl immens: Es istdas erinner-
te Leben des Dichtersinder Stadt und das
Werk,andem er dortgearbeitethat:das
Fragmentgebliebene„Empedokles“-Dra-
ma, der zweiteTeil des „Hyperion“, außer-
dem Sophokles-Übersetzungen und theo-

retischeAbhandlungen, Oden, Gedichte.
In einerspätenFassung des„Wanderer“
von1800 findetsichsogar eines der frühes-
tenZeugnissefür denNamen„Taunus“.
Die LandschaftumHomburgherum wur-
de damals meistnur „dieHöhe“genannt:
„Aberlächelnd und ernstruht droben der
Alte, derTaunus,/und mit Eichen be-
kränzt neigetder Freie das Haupt.“
Der berühmte Hymnos „Patmos“ ent-
stand zwar nicht in Homburg,gewidmet
aber isterdem LandgrafenFriedrich V.
Ludwig. IhmverdankteHölderlin wäh-
rend seineszweiten Aufenthaltsvon1804
bis 1806 seineStellealsHofbibliothekar.
In Wahrheit hatte der gute GeistSinclair
Hölderlins Gehaltszahlung übernommen,
auchdann noch, als er dieAufgabe längst
nicht mehr erfüllenkonnte. Quittungen
belegen, dassder HofbeamteseinenFürs-
tendarumgebeten hatte, die ihm zuge-
dachteGehaltserhöhungstattdessen dem
Freund zukommen zu lassen.
Kennengelernt hattensichder Dichter
und der fünfJahrejüngereHomburger in
Tübingen, der einestudierte Jura, der an-
dereTheologie.Freundewurden sie in
Jena,wosie gemeinsam ein Gartenhaus
bewohntenund FichtesPhilosophie-Vorle-
sungen besuchten. Sinclair bestärkte Höl-
derlin in seinen Bestrebungen nachUnab-
hängigkeit, der,andersals seine Mutter
dies wünschte,keinen theologischen Be-
rufergreifenwollte, dochdann trennten
sichihreWege, trafensichaber 1796 aufs
Neue, diesmal inFrankfurt, als Hölderlin
in die Dienste des BankiersJakobFried-
rich Gontardeintrat und sein Leben be-
kanntlicheine dramatischeWende erfuhr.

I


mGotischen Haussteht derzeitals
Leihgabe desFrankfurterLiebieg-
hauses die Alabaster-Büstevon Su-
sette Gontard.Als Hölderlins Bezie-
hung mit seinerDienstherrinauf-
flog und er dieStadt „fluchtartig“verlas-
sen musste,gelangteder Liebeskranke
1798zum ersten MalnachHomburg.Fort-
an wurde er zumPendler aus demFrankfur-
terUmland, als erregelmäßig in dieStadt
lief, um die seelenverwandteDiotimaam
Sommersitz der Gontards, dem Adler-
flychthof,verstohlen zu treffenoder durch
die Hecke Briefemit ihr zutauschen.
Nicht aber Briefe, sonderndas soge-
nannte„HomburgerFolioheft“ istdas
kostbarsteHölderlin-Eigentum derStadt
Bad Homburg. Es zählt zu denrätselhaf-

testen und berühmtestenHandschriften
der Literaturgeschichteund istdie zweit-
größteAutog raphen-Sammlung Hölder-
lins. Das Bündelvon32ineinandergeleg-
tenDoppelblätternmit Gedichten und
poetischenFragmenten erlaubt den unver-
stellten Blickauf den Dichter in denver-
schiedenen Phasen seines Schaffenspro-
zesses, denn Hölderlin hat die Blätter

selbstimmer wieder neugeordnet, er-
gänzt, bearbeitet und überschrieben.Aus
konservatorischen Gründen befindetes
sichseit vielen Jahren imStuttgarterHöl-
derlin-Archiv,woessorgsam gehütet
wird, denn sein Wert istunschätzbar.
EineAusleihe nachBad Homburgwäre
zu heikel. Daher wirddie Stadt, soferndie
Umstände es nocherlauben,vom27. Mai

an die ersteStrophe des Gedichts „Pat-
mos“, das ebenfalls in derWürttembergi-
schen Landesbibliothek lagert, ausstellen
–imTresor der Sparkasse. „Nah istund
schwer zufassen der Gott./Wo aber Ge-
fahr ist,wächst /Das Rettende auch“. Es
sind dies die vielleichtberühmtestenVer-
se Hölderlins. Heutegeben sie uns mehr
denn je zu denken. SANDRAKEGEL

S


einenZustand bezeichnete er
rundheraus als „Glük“,sein Le-
benseidemder„seligenGötter“
vergleichbar,erhabe es mit
„wirklichseltnen Menschen“ zu
tun –der Auftakt zu den gut zweieinhalb
Jahren, dieFriedrichHölderlin als Haus-
lehrer in derFamilie des sechs Jahreälte-
renBankiersJakobFriedrichGontardver-
brachte, hättenicht besser seinkönnen.
Dassesdabei nicht blieb, dassHölder-
lin dieKonstellation schonraschals uner-
träglichempfand, teilt sichdann in den
Briefen mit, die er ein halbesJahr nach
demglücklichen Beginn und in denfol-
genden Monaten anFreunde undVer-
wandteschreibt:„Ichschweigeund
schweige“, oder „ichbin zerrissen vonLie-
be und Haß“, und schließlich: „DieNoth
und Dürftigkeit vonaußen macht den
Überfluß des Herzens Dir zur Dürftigkeit
und Noth. Duweistnicht,wo Du hin mit
Deiner Liebe sollstund mußt um Deines
Reichtumswillen bettelngehn.“
Dass Hölderlin den „Überfluß des Her-
zens“ und seinen inneren„Reichtum“so
betont, istsicherkein Zufall.Denn mit
Blickauf äußere Vermögensverhältnisse
istdie Diskrepanz zwischen seinem
Dienstherren und ihm selbst nicht zu
übersehen.DassbeideSeiten am Anfang
womöglichbestrebtwaren, dieser Diskre-
panz im MiteinanderkeineBedeutung
einzuräumen, klingtinHölderlinsersten
Äußerungen an. Dasssich diesnicht
durchhalten ließ,wenigstens nicht in ei-
nemMaße, mit dem Hölderlin leben
konnte,kann man denFolgebriefen ent-
nehmen. „Diesesganze Jahr haben wir
fast beständig Besuche,Festeund Gott

weiß! wasallesgehabt“, schreibter an
die Mutter,„wo dann freilichmeineWe-
nigkeit immer am schlimmstenweg-
kommt,weil der Hofmeisterbesonders
in Frankfurtüberall dasfünfteRadam
Wagenist.“
Tatsächlichmusstejeder,der denKauf-
mannund Bankierinseinem„Weißen
Hirsch“ besuchte,vonder großzügigen,
beinahe luxuriösen Anlage der Gebäude
und desParks am GroßenHirs chgraben
beeindruckt, wenn nichtgeradezu einge-
schü chtert sein. Mindestensseit1592 ist
ein Gebäude namens„WeißerHirsch“ an
dieserStelle bezeugt, das 1753 in den Be-
sitz derFamilie Gontardkam und einige
Jahre vorHölderlins Ankunftprächtig
umgebaut wurde. Bewohntwurde esvon
Gontard und seinerFrau Susette,die er
1786als Siebzehnjährigegeheiratet hat-
te,sowie vonden vierKinderndes Paa-
res, den Dienstbotenund häufigvonGäs-
ten. In einem BriefvonApril 1798, als
das Verhältnisoffenbar schonschwierig
geworden ist, beschreibtder Hofmeister
die vornehmeGesellschaftder Stadt,in
der es ihman „ächtenMenschen“man-
gelt, als„lauter ungeheureKarikaturen.
Bei denmeistenwirkt ihrReichtum,wie
bei BauernneuerWein; denngrad so läp-
pisch, schwindkich,grob undübermü-
thigsind sie.“Undesist nichtHölderlin
alle in, der sichdarüber beklagt, inFrank-
furtwerdegenerell derReichtum allzu
bereitwilligzur Schaugestellt, zumScha-
den derKultur, Goetheurteilt ähnlich.
Immerhin scheint er daskulturelle Ange-
botder Stadt, dieTheateraufführungen
und Konzerte,hin und wiedergenutzt zu
haben.

SusetteGontard, die vierfache Mutter,
zu deren Sohn HenryHölderlin ein beson-
dersherzlichesVerhältnisentwickelte, be-
trachtet er mit anderenAugen. Sie scheint
mit ihrer Schönheit und ihrem freundli-
chen, oftherzlichenAuftreten viele Besu-
cher bezaubertzuhaben,und auch Hölder-
lin verliebt sichbald in sie. Dassdie Flucht
der Familievorden anrückendenFranzo-
sen RichtungKassel undweiter nachBad
Driburg, an der der Hofmeister, nicht aber
der Bankier teilnimmt, die Entwicklung
der Liebesbeziehung zwischen Susette
Gontardund Hölderlin begünstigt hat, ist
wahrscheinlich.Undauchdie Aufenthalte
im Sommer auf demvonGontardgemiete-
tenAdlerflychtschen Hofvorden Toren
Frankfurts am heutigen OederWegschei-
nen dasvertrauli cheVerhältnis der beiden
weiter befördertzuhaben.
JedenfallskursiertenGerüchte darüber
in derFrankfurterGesellschaft, die auch
GontardzuOhrengekommen seinwer-
den. Eskommt zu einerAuseinanderset-
zung, in derenFolgeHölderlin Ende Sep-
tember 1798 das Hausverlassen muss.
Dassdie Situation zuvor für ihn höchstbe-
lastendgewesen sein muss,kann man ei-
nemkurz vordem Eklatgeschriebenen
Brief entnehmen: Er habe „viel, sehr viel
gelitten“, schreibtHölderlin an seinen Bru-
der Karl,„und noch, nochleid’ ichviel
und tief.“
SusetteGontardund Hölderlin bleiben
weiter inKontakt, treffensichheimlich,
wechseln Briefe, und dieFrau des Ban-
kierszeigt sichdarin als leidenschaftlich
Liebende, die Hölderlin als „Herzmeines
Herzens“ bezeichnetund Verzweiflung
ebenso wie Grollgegenüber ihrem Mann
zu erkennen gibt.
Hölderlin zog nachHomburg,wo ihm
seinFreund Sinclair eineWohnungver-
schaffte. Als er auchdiese verließ, kommt
es 1800 zum letztenTreffenmit Susette,
die zwei Jahredaraufstirbt, nachdem sie
sichbei ihren Kindernmit Röteln ange-
steckt hatte.Verewigt istsie als „Diotima“
in HölderlinsWerk,etwaineinemgleich-
namigen Gedichtvon1798, das mit den
Worten beginnt:„Du schweigstund dul-
dest, und sieversteh’ndichnicht,/Duhei-
lig Leben!welkes thinwegund schweigst,
/Denn ach,vergebens bei Barbaren/Su-
chestdudie Deinen im Sonnenlichte“.
Werheutenachden Spuren sucht, die
das Anwesen hinterlassen hat, wirdsehr
viel Phantasie aufbringen müssen, um

überhauptnochetwas anzutreffen. Gon-
tard vermietetedas Haus,später wurde
dortein Mädchenpensionat eingerichtet,
1872 wurde das Gebäude abgerissen. Das
weitläufigeGelände istteils mit Häusern
–wie dem „FrankfurterHof“ oder dem
CommerzbankTower–,teils mitStraßen
und Plätzen überbaut.Auchvom Adler-
flychtschen Hof istnichts mehr übrig, nur
am Spielplatz, der auf einemTeil des Ge-
ländes angelegtworden ist,verweistein

Täfelchen auf den „Hölderlin-Pfad“, der
hiervorbeiführt. Die Hecke aber,durch
die hindurch dieBriefeder Liebendenge-
wechselt wurden, mussman sichdazu
denken. TILMANSPRECKELSEN

Literatur:„Gestalten derWelt. Frankfurt
1796–1798“. HölderlinTexturen, Bd. 3.
Herausgegebenvonder Hölderlin-Gesellschaft
Tübingen, in Zusammenarbeit mit der Deutschen
SchillergesellschaftMarbach. Tübingen 1996.

1798
Hölderlinschickt weiter eGedichte
an Schiller,der zweivonihnen im
„Musenalmanach“ auf1799 druckt.
Ende SeptembermussHölderlin die
Gontard snacheinemStreit mit dem
Hausherrn verlassen. Er zieht nach
Homburg,wo seinFreundSinclair
lebt,und trifft sichinFrankfurt wei-
terheimlichmit SusetteGontard,
mit der er auch einen Briefwechsel
unterhält. ImNovember besucht er

den KongressinRastatt, aufdem
über dieAbtretungvon linksrheini-
schenTerritorien anFrankreich
verhandeltwerden sollte. Ein
weiteres „Diotima“-Gedicht
entsteht: „Du schweigst undduldest,
und sieversteh’ndich nicht ...“

1799
Der Plan für einezugleichen Teilen
literarischeund rezensorische
„poetischeMonatsschrift“namens
Iduna, die Hölderlin herausgeben
und fürdie er prominenteBeiträger
gewinnen soll,zerschlägtsich.
RegelmäßigeheimlicheTreffenmit
SusetteGontard. DerzweiteBand

des „Hyperion“erscheint.Hölderlin
arbeitetaneinerzweiten Fassung
des „Empedokles“. DasGedicht
„DerTod fürsVaterland“entsteht.

1800
Am 8. MaisiehtHölderlin Susette
Gontardzum letzten Mal. Er
verbringt einige Wochen inStuttgart
und gibtStunden.ImDezember
nimmt er eineStelle als Hauslehrer
an: Ersollimthurgauischen
Hauptwil die beidenTöchter des
KaufmannsAntonvonGonzenbach
unterrichten.

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1798–1800


Vergebliche Suche


unter den Barbaren


SchillersFreundin: Charlotte von
Kalb, 1785 FotoArchiv

VonHölderlin umworben: Fried-
rich Schiller FotoA.P.L.

Die Entdeckung


des Taunus


Dahinwelken, schweigen: HölderlinsFrankfurter


Zeit im Haus des BankiersGontard


begannglücklichund endete in einerKatastrophe.


Dazwischen liegt einegroße Liebe.


Das GeburtshausvonHölderlinsFreund Isaac Sinclair in Homburg

Foto Barbar

aKlemm

Zweimal istHölderlin in die kleine

Residenzstadt Homburggeflohen –

vorLiebesunglück, beruflicherUnsicherheit

und anderen Geistern,die ihnquälten.

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilletonlive FREITAG,20. MÄRZ 2020·NR.68·SEITEB3

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