Frankfurter Allgemeine Zeitung - 20.03.2020

(Nandana) #1

I


nder vorletzten Szene des Theater-
stücks„Hölderlin“vonPeter Weiss
ausdemJahre1 971 istdergreise
und geisteskrankeDichter plötz-
lichwieder munter imKopf und in
der Seele.Revitalisiert hat den über Sieb-
zigjährigen derjunge, nochkeine fünfund-
zwanzig JahrealteKarlMarx. Er bereitet
gerade seine erstePublikationvor–die
„Einleitung zur Kritik des Hegelschen
Staatsrechts“von1844. Noch sind es
zwei, drei Jahrebis dahin.Zeit also, den
armen, alten Hölderlin imTübingerTurm
zu besuchen. Es sei, lobt der Marxdes Pe-
terWeissden Dichter,„kein Fehler“gewe-
sen, „ein halbesJahrhundertzuvor die
Umwälzung nicht als wissenschaftlichbe-
gründete Notwendigkeit, sondernals my-
thologische Ahnung“ beschrieben zu ha-
ben. Sogleichund „ingroßer Erregung“
eilt der damit zumVorläufer des Marxis-
mus promovierte Poet freudig an sein
Stehpult.„Da kann ichendlich“,ruft Höl-
derlin aus, „ansWerck gehen, dastehn
die Thürnmir endlichoffen“.
Zu einfach wäre,das Hölderlinstück von
1971 imRückblick zum bloßenRevolutions-
kitsc hzuverkleinern. SeinMehrwert bleibt:
Es warTeil einerenormenDichter-Renais-
sance. Siemacht einden sechziger und sieb-
ziger Jahrenaus demehrfürchtig bestaun-
ten, als unverständlichgeltenden Klassiker
einen emphatischenZeitgenossen der Mo-
derne,mehr noch: einen„Avantgardisten
der Avantgarde“,wie derDerrida- und La-
can-Schüler Philippe Lacoue-Labarthede-
klarierte.Aus Frankreichkam auch derent-
scheidende Impuls der neuen deutschen Be-
geiste rung. 1969 erschien „Hölderlin und
die FranzösischeRevolution“,einfulminan-
terTraktat des Germanisten Pierre Ber-
taux,der denDichter alsverkappten Jakobi-
nerporträtierte–und derSuhrkamp-Kultur
zu einerweiteren Lichtgestalt verhalf.
WiePeter Weisswar auchBertauxein
Autordes VerlagschefsSiegfri ed Unseld.
LängstSäulenvonSuhrkamp warendie
beiden anderengroßen Hölderlin-Propa-
gandistender sechziger Jahre: TheodorW.
Adorno und Martin Walser.„Vordem All-
bekanntenreiben HölderlinsVerse sich
gleichsam dieAugen, alswärees ein erstes
Mal“:Adornos bis heute epochalerAuf-
satz „Parataxis. ZurspätenLyrikHölder-
lins“erschien in den „Notenzur Literatur“
erstmals 1965,gleichzeitigmit Walsers
Sammlung „Erfahrungen undLeseerfah-
rungen“, die das nicht minderbahnbre-
chende autobiographische Bekenntnis
„Hölderlin auf dem Dachboden“enthielt –
eineFreiheits-Elogeauf das unverstellte,
naive,vonkeinerlei „Besteck“aus Begrif-
fenund Erläuterungen limitierte Lesen.
„Hölderlin zu entsprechen“:Walser redete
1970 imStuttgarterStaatstheater auchzur
Feier deszweihundertstenGeburtstags.
Gewiss, Heinrichvon Kleist und Georg
Büchner treten damals ebenfalls aus Goe-
thes und SchillersSchatten. Hölderlins
neue Präsenz aber überstrahlt alles. Der
RegisseurKlaus Michael Grüber nimmt
sich1975 an der Berliner Schaubühne der
fragmentarischen, im Grunde unspielba-
renTragödie „DerTod des Empedokles“
an und inszeniertsie als Sinnbildgeschei-
terter Fortschrittshoffnung. Mit dem „Hy-
perion“, Hölderlins einzigem Roman,
bricht Grüber1977zur „Winterreise ins
Olympiastadion“auf und lässt den Titel-
heldenbeim Lauf überdie Hürden der
deutschen Geschichte ein ums andereMal
stürzen.Peter Härtling landet1976 mit
der Romanbiographie „Hölderlin“ einen
verdienten Bestseller,weil es ihmganz in
WalsersSinngelingt, seine Hauptfigur
sehr nahbar zu schildern, ohne sie dabei
zu banalisieren:Popularisierung im bes-
tenSinn. Gedicht eauf Hölderlin sind ubi-
quitär ,nur IngeborgBachmann entzieht
sich. Dafür schreibtPaul Celan mit„Tübin-
gen, Jänner“besondersergreifendeVerse.
Es sind drei Themen,vondenen die Höl-
derlin-Rezeption beherrschtwird: die poe-
tische und philosophische Beschwörung
der griechischen Antikeals Vorbildfür die
deutsche(n) Gegenwart(en),das Verhält-
nis zuPolitik und GesellschaftimZeital-
terder Koalitionskriegeund derWahn-
sinn des Dichtersinder zweiten Lebens-

hälftevon1806bis 1843.FürBertaux al-
lerdings, der 1978 mit „FriedrichHölder-
lin“eine zweite, psychobiographisch argu-
mentierendeStudievorlegt,ist der Dich-
terzeitlebensvernünftig,von1802 an,
nachdem frühenTodder geliebtenSu-
sette Gontard, ein bisweilen depressiver,
einsiedlerischer Charakter,von Geistes-
krankheit aberkeine Spur.
„Dichtung undWahnsinn“: So hatteWil-
helmWaiblingerdie er ste, 1831erschiene-
ne Lebensbeschreibung Hölderlins betitelt
undden Mythosvom an sichselbst schei-
terndenGeniegeprägt, den Bertaux nun
destruierte. Dessen Buchfand enormenWi-
derhall,nicht zuletzt, weil es der antipsych-

iatrischenAversion derZeit entsprach. Höl-
derlinsIrreseinentpuppte sichals eine„aus
wohlüberlegtenGründen“erst inszenierte,
dann habitualisierteMimikry, um politi-
scherVerfolgungzu entgehen.
Den Zeitgenossenwarder Dichter nahe-
zu unbekannt. Lediglichder „Hyperion“-
Romanwarals Buch erschienen, 1797 und
1799 in zwei Bänden,was den spärlichen
Absatz zusätzlichschmälerte.Hinzukam
eineReihe vonGedichten,vereinzelt und
verstreut inZeitschriftenpubliziert. Bei
den Romantikernumdie Schlegel-Brüder
und Clemens Brentano, bei Bettine und
AchimvonArnim, in der schwäbischen
Dichterschule umKerner,Uhland,Mörike

und GustavSchwabgalt HölderlinsVers-
kunstals Geheimtipp, sie alleaber faszi-
niertevor allem der umnachtetePoet in
der jahrzehntelangen Obhutder Tübinger
Schreinerfamilie Zimmer.Erst1826 er-
schien,vonSchwabund Uhland ediert,
eineersteAuswahl der Gedichte.Penibel
acht etesie darauf, dassdie Poesie „in ih-
rervollenund gesunden Kraft“ erstrahle,
selb st „Hälfte des Lebens“, die unver-
gleichlichen und bis heuteberühmtesten
Verse, fehlten also, obwohl sie bereits im
„Taschenbuchauf das Jahr 1805“veröf-
fentlichtworden waren.
Nahezu alles an Hölderlin istsingulär,
auchdie Stellung in der Literaturgeschich-

te.Inmehrfacher Hinsichtistdieser Bür-
gerund Bewohner des achtzehnten und
neunzehnten zum ausschließlichen Autor
des zwanzigsten Jahrhundertsgeworden.
Das Vorhandensein aller überliefertenTex-
te im Druck, die darausresultierende und
stetig wachsendeWirkung seinesWerks:
eineexklusiveErrungenschaftder Moder-
ne. Eine Schwellenfigur istdabeiFried-
rich Nietzsche, der 1900stirbt.Unmittel-
bar nimmt dessenWerk nur wenigBezug
auf Hölderlin. Ohne das utopischeVerge-
genwärtigen des Götterolymps, ohnedas
mächtigeAufwertender Figurund des My-
thos des Dionysos, ohne die damit einher-
gehendeAbkehr vonchristlicherTraditi-
on, zumal des pietistischen Protestantis-
mus,kurz:ohne das hölderlinischeHinter-
grundrauschenkann man sichNietzsches
Philosophie schwervorstellen.
Martin HeideggersHölderlin-Bild ent-
steht Mitteder dreißigerJahre. Es zeigt in
den „Erläuterungen zu Hölderlins Dich-
tung“ und in den „Beiträgen zur Philoso-
phie“ ein erhabenesHereinholen des poe-
tischenTons in die eigene philosophische
Diktion und zugleichein Aufwerten des
dichterischenWerksbis zur manifesten
Idolatrie. „Die geschichtliche Bestim-
mung der Philosophie gipfelt in der Er-
kenntnis derNotwendigkeit, Hölderlins
Wort das Gehör zu schaffen“, heißt es.
HeideggersHölderlin-Emphase zur Gän-
ze abzutunverbietetsich: Zu dürftig sind
mittlerweile dieZeiten für Dichter.

D

ie Renaissance dersechziger
und siebziger Jahrewar auch
eineAntwortauf dasPathos
vergangenerHölderlin-Gottes-
dienste,die weit vorBeginn
des Ersten Weltkriegs im George-Kreis ih-
renAusgang nahmen und denelegischen
Sänger z um frühenKünder des „geheimen
Deutschlands“kürten. Undsie wardie Re-
plikauf Hölderlinsnationalsozialistische
Zurichtung,die inFeldpostausgaben der
Gedichte an ihrZielgelangte und natür-
lichauchdie einzig unverzeihlichenVerse,
die er je schrieb,auf ihr Banner setzte:
„DerTodfürsVate rland“.Hölderlin-Nach-
ahmer,raschwiedervergessen, gibtesvie-
le in derjüngeren Geschichte derdeut-
schen Lyrik. Hölderlin-Nachfolgefindet
sichnebenStefanGeorgepartiellbei Hof-
mannsthal,Trakl,Benn oder Celan.Rai-
ner Maria Rilkeaber kommt HölderlinsTö-
nen und Dichtartenvor allem in den„Dui-
neser Elegien“und den„Sonetten an Or-
pheus“ so nahe, dassihn nur das eigene Ge-
nie vorEpigonentumrettenkann –was
auchgeschieht.
Ausdem George-KreisstammtNorbert
vonHellingrath,1888 inMünchen gebo-
ren, gefallen1916 inder Schlacht umVer-
dun.Ohne ihn hätteesdie Neuentdeckung
HölderlinszuBeginndes zwanzigstenJahr-
hunderts nichtgegeben. Er hat, zunächstge-
genakademischeWiderstände,die späte
Dichtung,die mehr alshundert Jahre nach
ihrem Entstehenfastausnahmslosunge-
drucktwar, als Erster ediert, alsodie Ele-
gienvon „Brod undWein“über „Stutgard“
bis „DerGangaufsLand“, die nicht selten
grandioseFragmentegebliebenenGesänge
von„Am Quell der Donau“ über„Der
Rhein“ bis zu „Patmos“, „Mnemosyne“ und
demganz undgar einzigartigen„Anden-
ken“. Fürihn sindsie „Herz,Kernund Gip-
fel“ vonHölderlinsWerk.
Hellingrath hatexzeptionelleNachfol-
gergefunden.Friedrich Beißnerzuerst,
der von1943 an die GroßeStuttgarter
Ausgabeverantwortete ,D.E.Sattler da-
nach, dervon1975 an zusammenmit dem
Verleger KDWolffdie FrankfurterAusga-
be herausgab, mit derFaksimilierung der
Handschriftenund derradikalenRevision
des editorischen Apparats philologisches
Neuland eroberte und erschloss. Zum


  1. Geburtstagdes singulären Schwaben
    gibt eskeine weiter eRenaissance,weil es
    keiner bedarf.Wervon anderen wissen
    will, wie es um ihnstand undsteht, lese
    „Komm! ins Offene, Freund!“, die neue
    BiographievonRüdiger Safranski, oder
    den überaus klugen Essayvon Karl-Heinz
    Ott:„Hölderlins Geister“. Immer aber
    gilt:„Schöner freilichmuß eswerden,
    wenn“. Danachbrichtder Vers aus „Der
    Gang aufsLand“ ab. JOCHENHIEBER


1801
VonNürtingen auskommt Hölderlin
überStuttgart,Tübingen undKon-
stanz nachHauptwil.Der Frieden
vonLunéville,geschlossen am 9.Fe-
bruar zwischenFrankreich und dem
HeiligenRömischenReich, beendigt
den zweitenKoalitionskrieggegen
Frankreich und gibt den Anstoßfür
HölderlinsHymne„Friedensfeier“.
NacheinemVierteljahr trennt sich
die Familie Gonzenbach trotzoffen-
bar guten Einvernehmensvonihrem
Hauslehrer.Hölderlinkehrtzurück
und möchteinJena Vorlesungen zur
griechischen Literatur halten,was
nicht zustande kommt.Auchdie mit
Cottaverabredete A usgabevon
Hölderlins Gedichten erscheint
nicht.Hölderlin arbeitet weiter an
der Elegie „Brod undWein“. Im
Dezember beginnt Hölderlin
schließlich seineFußreise nach
Bordeaux,wo er beimKaufmann
Daniel Christoph Meyerseine vierte
Stelle als Hauslehrer antreten soll.


1802


Am 28. Januar erreicht Hölderlin
Bordeaux undstellt sichMeyer vor.
Im Maiverlässt er Bordeaux wieder,
obwohl auchhier kein Zerwürfnis
bekannt ist, undkehrtüber Paris,


Straßburgund StuttgartnachNürtin-
genzurück. Am 22. Junistirbt Suset-
te Gontard, die sichbei ihren Kin-
dernmit denRöteln angesteckthat-
te.Hölderlin, ohnehin schon ange-
griffen, trifft die Nachrichtschwer.
Im HerbstreisterzuSinclair nach
Regensburg,wo es ihm bessergeht.
Er übersetzt Dramen des Sophokles,
die Verlagssuche istschwierig.


1803


Hölderlin istinNürtingen immer
stärkerisoliert. Im Juni trifft er
Schelling in Murrhardt beiStuttgart,
der entsetzt über den zerrütteten
Zustand desFreundes istund in ei-
nem Brief an Hegel schreibt,
Hölderlin „vernachlässigt sein
Äußeres bis zum Ekelhaften“. Mit
demFrankfurterVerlegerFriedrich
Wilmans schließt er einenVertrag
über seineÜbersetzung der


„Trauerspiele des Sophokles“ ab.
Sinclair schlägtvor, Hölderlin solle
zu ihm nachHomburgziehen,wo er
auf eine Anstellungrechnen könne.


1804
Sinclair holt Hölderlin inNürtingen
ab, um mit ihm überWürzburgnach
Homburgzufahren,wo Hölderlin als
Hofbibliothekar arbeiten soll und
dafür mit einemTeil vonSinclairs
Gehalt entlohnt wird. Erwohnt bei
Uhrmacher Calameinder Dorotheen-
straßeund verkehrtbei Hofe.


1805
Sinclair wirdals Hochverräter
angeklagt, Hölderlin als Mitwisser
bezichtigt, der immerfort rufe „Ich
will kein Jakobinersein“. Ein Arzt,
der ihn untersucht, nennt ihn „sehr
zerrüttet“. Er rede wirrindrei Spra-
chen. Wegenseines Zustands musser
eine neueWohnung beziehen,wo er
wüstauf dem Klavier phantasiert.
Die Auffassung,Hölderlin sei
wahnsinnig,verbreitetsichrasch.
Sinclair wirdaus derUntersuchungs-
haftentlassen. DerKontakt mit
ihm scheint Hölderlin zu beruhigen.


V


iele Komponisten haben sichmit
der DichtungFriedrichHölder-
lins auseinandergesetzt .Doches
fällt auf,wie spät dieseAuseinan-
dersetzung begann. Im Grundekennt, bis
auf diegroßeAusnahmevonJohannes
Brahms, erst das zwanzigste Jahrhundert
eine eminenteBeschäftigung mit Hölder-
lin, angefangenvonMax Regerund Ri-
chardStraussüber Hanns Eisler,Benja-
min Britten bis zuWolfgang Rihm undPe-
terRuzicka.DabeiwarenHölderlinsTexte
wachen Lesernschon in der Biedermeier-
zeit zugänglich. Dochhielt sichdie Musik
bei Hölderlin zurück. Die wenigen Beispie-
le, die es gibt,verraten auch,warum: Es
sind Hölderlins bevorzugteFormen einer
reimlosen, metrischgebundenen,aber ar-
chitektonischoffenen, oftzum Fragment
neigenden Dichtung, die dem deutschen
Lied langeentgegenstanden.
Der einzigeKomponist, der sichnoch
zu Hölderlins Lebzeitenmit dessen Dich-
tung beschäftigt hatte,warder Schweizer
FriedrichTheodorFröhlich, ein Lehrers-
sohn aus Brugg, am 20.Februar 1803gebo-
ren, der sichmit 33 Jahren am 16. Oktober
1836 inAaraudas Leben nahm.Fröhlich,
der eigentlich Juristhättewerden sollen,
wurdewegenseiner musikalischen Bega-
bung mit einemStipendium nachBerlin
geschickt, um bei CarlFriedrichZelter Mu-
sik zustudieren. In seine Berliner Jahre
von1826 bis 1830 fällt dieAusgabevon
Hölderlin-Gedichten durch Uhland und
Schwab.Aufden 12. Januar 1830 istFröh-
lichsVertonung des „Schicksalsliedes“ aus
demRoman „Hyperion“ datiert. Es istfür
Singstimme und Klaviergedacht, aber die
Handschrift, die in derUniversitätsbiblio-

thek Basel liegt, lässt offen, ob es sichum
eine Skizze handelt, die vielleichtauf eine
andereBesetzung abzielte.Fröhlichs zwei-
te Hölderlin-Vertonung widmetsichdem
Gedicht „Rückkehr in die Heimat“,wieder
für Stimme und Klavier.Sie sprengt die
Idee desromantischen Liedesvöllig: Kein
strengesStrophenlied,kein variiertesStro-
phenlied, auchkeine Ballade mit durchge-
hendem Bewegungsmotiv.
Man spürtdeutlich, wie Hölderlins Dich-
tung und dieFormenwelt desromanti-
schen Liedessichvoneinander abstoßen.
Periodik undKorrespondenzmelodik des
Liedessind amReim orientiert,nicht an
der reimfreien Metrik Hölderlins.Zudem
setzt das Lied,gerade in der Klavierbeglei-
tung, auf die Einheitder lyrischenStim-
mung im Gedicht.Diese Einheit muss
Fröhlichpreisgeben. Seine„Rückkehrin
die Heimat“ isteine große Phantasie, ein
Arioso oder einAccompagnato-Rezitativ
aus einerromantischen Oper, eine freie,
durchkomponierte Form.Liedhaftes hat

sie nicht an sich.Undtrotzdem bemerkt
man dasUnbehagen desKomponisten,
der sichnachformalerRundungsehnt:Er
nimmt am Ende–waszur Idee der „Rück-
kehr“ durchaus passt –die fließende Kla-
vierbegleitung des Anfangs und auchdes-
sen Gesangsmelodik wieder auf, umKorre-
spondenz,garSymmetrie zu suggerieren.
Auch Wilhelm HeinrichRiehl bemüht
sich1854 musikalisch um Symmetrie und
geschlosseneForm in derVertonungvon
Hölderlins Gedicht „Ehemals und Jetzt“,
die er in seine Sammlung „Hausmusik.
Fünfzig Lieder“aufnahm. Hölderlinsreim-
lose Versewerden in einenstabilen Länd-
lerrhythmusgebracht und durch den Gang
der Harmonik melancholischgedeutet.
Dochwiederstellt dieformale Rundung
am Ende eine Artvon Versöhnung her,
welche derText, der die Enttäuschung des
Ichs im Alternbeschreibt, nicht nahelegt.
Die idealistischeFigur derVersöhnung,
theologischgesprochen dieÜberwindung
der EntzweiungvonGottund Mensch,

wirdzum zentralen Form-Problem der
bedeutendsten Hölderlin-Vertonungdes
neunzehnten Jahrhunderts, des „Schicksals-
liedes“ op.54für ChorundOrchester von
JohannesBrahms.Das dreistrophigeGe-
dicht beschreibt jaexplizit den Risszwi-
schen Götter-und Menschenwelt: „Ihrwan-
deltdroben imLicht aufweiche mBoden,
selig eGenien“–„Dochuns is tgegeben,auf
keinerStättezuruhn“. Brahms,der sichin-
tensivmit de rBibel undtheologischer Lite-
ratur befasst hatte, dachtelebenslangüber
den Gegensatzzwischendem starkenGott
und demschwachen Menschennach.Und
nur kurz vorder Auseinandersetzung mit
Hölderlinhatteerinseinem „Deutschen
Requiem“op. 45 einenähnlichen Text ver-
tont:„Denn wir haben hiekeinebleibende
Statt“ aus dem Hebräerbrief.
Brahms’„Schicksalslied“ setzt dieRuhe-
losigkeit des Menschen, der „wieWasser
vonKlippe zu Klippegeworfen“ insUnge-
wisse hinabsinkt, musikalisch scharfab
vonder ruhigenWelt, in welcher „die
Himmlischen“ atmen. DochauchBrahms
wolltediesen pessimistischen Schluss, die-
ses Unversöhnt-Bleiben zwischen Men-
schen und Göttern, nichtstehenlassen. Er
rang langemit der Idee, die Eingangsstro-
phe zu wiederholen oder den Chor nurVo-
kalisen zur wiederkehrenden Musik des
Anfangs singen zu lassen, bevorersich
dazu entschloss, das Orchestervorspiel zu
wiederholen alsNachspiel, mit leichtver-
änderter Instrumentierung.
Nurhat es diesesNachspiel in sich! Es
steht in C-Dur,während dasStückinEs-
Dur begann. Man hat zwar den Eindruck
der Symmetrie, dabei endetdas Stückin
einer anderenTonart. Brahmskehrtnicht

zurück, sein Schlussist ein anderer An-
fang, jenseits derWortedes Dichters. Er
selbstwar sichdarüber klar,dasseretwas
sage, „was der Dichter nicht sagt“.
Mankann über dasUngesagterätseln.
Aber Brahms’Musik gibt uns einenWink.
Ihr tonartlicherWegvon Es-Dur über
c-Moll nachC-Dur durchbricht den Kreis-
lauf des antikenZeitbegriffsund gibt der
Zeit einefinaleAusrichtung, wie wir sie
mit dem Christentum verbinden. Zu-
gleichentsteht bei Brahms zu denWorten
„Glänzende Götterlüfte rühren euch
leicht“ zwischen Chorsatz und Orchester-
flöteexakt dieWendung, dieLudwigvan
Beethoveninseiner Missa solemnis auf
die Worte„Et incarnatus est“gesetzt hat-
te.Bei Beethovensymbolisierte zudem
die Flöte die Fleischwerdung Gottes als
MenschinJesus Christus. Die Soloflöte
istdas melodieführende Instrument in
Brahms’Nachspiel zum „Schicksalslied“.
Finalisierung derZeit undwortlose An-
spielung auf die Menschwerdung Gottes
in Christus–Brahmsversuchte, Hölder-
lins antikisierendemText einechristliche
Perspektivezugeben,gemäß dem zwei-
tenKorintherbrief des Paulus: „Lasst
euchversöhnen mit Gott“. Einverschwie-
gener Christus–denn auchBrahms hatte
Zweifel an ihm–könnteuns aus dem
Klang der Flöte entgegen singen.
Das spätezwanzigste Jahrhundert, das
sichdem künstlerischenVersöhnungsge-
botnicht mehrverpflichtetwusste, konn-
te musikalischleichteresZutrauenfassen
zu HölderlinsAbbrüchen imUngewissen.
Unddochhat Brahms’ versöhnender
SchlussetwasKühnes: Er hörtüber die
Zeit der Gottesferne, wie Hölderlin sie er-
fuhr,weit hinaus. JAN BRACHMANN

1801–1805


Undwozu singen


in dürftigerZeit?


SusetteGontard, Hölderlins Dioti-
ma Foto Ullstein


Isaac vonSinclair,Hölderlins
Freund, um 1808 FotoArchiv


Als wär’sein er stes Mal


Der HölderlinturminTübingen

Gottesferne alsFormfrage: Hölderlin


in der Musik des neunzehnten Jahrhunderts


bei Fröhlich, Riehl und Brahms


Foto Barbar

aKlemm

Arbeit am Mythos: DieWieder-und Neuentdeckung

Hölderlins in der Philosophie und Literaturwissenschaftder Moderne

SEITEB4·FREITAG,20. MÄRZ 2020 ·NR.68 Feuilletonlive FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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