Frankfurter Allgemeine Zeitung - 20.03.2020

(Nandana) #1

Ü


ber die These, Hölderlin sei
in seiner zweiten Lebenshälf-
te garnicht verrücktgewesen,
er habe eine Geisteskrank-
heitvorgespielt, um der dro-
hendenVerfolgung durch die Obrigkeit
zu entgehen,kann manstaunen–und
mehr nochüber die breiteDiskussion, die
sie fand. Siestammtvondem französi-
schen Germanistenund kur zzeitigen Ge-
heimdienstchef Pierre Bertaux, der in sei-
nem 1978 veröffentlichten Hölderlin-
Buchzuden Beweggründen seinerGegen-
rede schrieb: „Schon damals,vorvierzig,
fünfzig Jahren,störte michdie geläufige
Vorstellung, die EinmaligkeitvonHölder-
lins Dichtunglassesichmit einer patholo-
gisc hen Veranlagung inVerbindung brin-
gen–wenn nichtgardurch sie erklären –,
die sichanfangs in der Genialität Hölder-
lins manifestiert, sichimLaufeder Jahre
aber als ausgesprochene Geistesges tört-
heit entpuppthätte.“
Liestman diese Sätze mehr als vierzig
JahrenachihrerVeröffentlichung, fragt
man sichjedoch, ob Bertaux mitAussa-
genwie „Es störte mich, dassdieser
Mann als Geisteskrankergalt“ eine ent-
sprechende Krankheit nicht als Makel dar-
stellte. Man mussdas wohl imKontextje-
ner Zeit sehen, in einem psychiatriekriti-
schen Klima, dasvonWerkenwie Fou-
caults„Wahnsinn und Gesellschaft“ inspi-
riertwurde undetwa in dem 1975verfilm-
tenAnstalts-Roman „Einerflog über das
Kuc kucksnest“vonKen Keseyzum Aus-
druc kkam. DerAußenseiter,der vonei-
ner aufNormen pochenden Gesellschaft
aus demVerkehr gezogen wird–damit
konnten sichoffenbar viele identifizie-
ren. Bertaux nun, derResistance-Kämp-
fer, forderte eine „respektierende Aner-
kennung“vonHölderlins „Eigenart“ und
erklärte,mit einer „wissenschaftlichüber-
holte(n) Legende“ aufräumen zuwollen.
Auch das traf auf empfängliche Ohren.
Undinvielem hat Bertaux ja auch
recht: Hölderlin, den er in einem früheren
Buch–ebenfalls sehrsteil –als Jakobiner
darstellt, hättedurchaus in bestimmten
Phasen seines Lebens einen Grundge-
habt, als nicht zurechnungsfähig zugel-
ten. Konkret im Jahr 1805, als ihm, nach-
dem seinFreund undFörderer Isaacvon
Sinclair alsAufrührer denunziertworden
war, ein Prozesswegen Hochverrats droh-
te.Auchgibt es eineReihe zeitgenössi-
scherÄußerungen, die darauf hindeuten,
der Dichter habe in dieser bedrohlichen
Phase dengeistigUmnachteten nurge-
spielt.Andererseits warsein Zustand
schon im Jahre1802, in dem er desolat
vonseiner Hofmeisterstelle in Bordeaux
nachDeutschland zurückkehrte,vielfach
als geistig zerrüttet,wahnsinnig,rasend
bezeichnetworden.
Im Jahr 1806 dann–Sinclair hatte
nachseiner Haftentlassung Hölderlin
mehr oderwenigerfallenlassen–wurde
er mit Genehmigung der Mutter insTü-
bingerUniversitätsklinikum zwangseinge-
wiesen und mit allerlei Substanzen nach
heutigerAuffassung mehr traktiertals be-
handelt.Ein TübingerStudent berichtete
im Oktober des Jahres, der Leiter desUni-
versitätsklinikums, Johann HeinrichFer-
dinandAutenrieth,wolle dem „gefalle-
nenTitanen“ Hölderlin mit seiner Be-
handlung „diePoesie u. dieNarrheit zu-
gleichhinausjagen“. Denn gesteigerte
geistig eTätigkeitgalt zu dieserZeit noch
als typischerAuslöservonGeisteskrank-
heit, als „geistigUmnachteter“ konnte
man zudem, wie der Psychiatriehistoriker
Klaus Dörner in dem Interview-Band

„Aus der Klinik ins Haus amNeckar“
sagt, leicht imZuchthaus enden. Demge-
genübervertrat Autenrieth ein betont in-
klusivesKonzept. Hölderlin, dem der Me-
diziner bei der Entlassung nur nochweni-
ge Lebensjahregab, wurde der Betreuung
des bildungsbeflissenenTübingerTisch-
lermeisters ErnstZimmer übergeben und
brachteineinem kleinenTurmzimmer
mit idyllischemRundblickdie letzten 36
Jahreseines Lebens zu.
Waswissen wir aus dieserZeit? Besu-
cher berichten recht übereinstimmend
vonHölderlins Eigenart, Gäste mit „Euer

Hochwohlgeboren“ anzureden und tiefe
Verbeugungen zuvollführen. Sein Bewe-
gungsdrang sei ausgeprägt, wild spiele er
mit seinen langenFingernägeln Klavier
undvermische in derUnterhaltung oft
mehrereSprachen. Sinnvolle Antworten
kommen offenbar nur selten aus seinem
Mund, dochmanche seiner späten Ge-
dichtesind voneigenwilliger Schönheit.
Selbstinden unübertrefflichdistanzier-
tenBriefen an seine Mutter,die ihn nie in
Tübingen besuchte,fallenfaszinierende
Formulierungen wie diese: „DieZeit ist
buchstabengenau und allbarmherzig.“

Bertaux klang das alles zuverrückt .Er
versuchte, dem Hauptzeugen jener späten
Jahre, dem Schriftsteller WilhelmWaib-
linger,Befangenheit nachzuweisen. Die-
serhabe HölderlinsKauzigkeit überzeich-
net, weil ihm eine bestimmteRomanfigur
vorschwebte. Am 8.August1822 hatte
Waiblinger in seinTagebuchgeschrieben:
„Nur einenWahnsinnigernmöcht ’ich
schildern–ichkann nicht leben,wenn
ichkeinenWahnsinnigen schildre(...)
Hölderlin! Hölderlin!“. Derwahnsinnige
Hölderlin sei dann auchinWaiblingers
einflussreichen biographischen Essay
von1827/28 eingegangen.
Wasaber,wenn Hölderlintatsächlich
„seelenkrank“war? Wasgewinnt man,
wenn man sichauf Bertaux’ Simulanten-
These einlässt,außer derromantischen
Vorstellung eines ungebrochenen Hel-
den? Man erinnertsichan„Einerflog
über das Kuckucksnest“, in dem der
„Chief“Bromden den bewundertenSimu-
lanten McMurphy, der vonElektrobe-
handlungen und einer Lobotomie um den
Verstand gebracht wird, mit einem Kissen
erstickt, um dessen Ehreund revolutionä-
resImagezuretten.
Der Widersprucheines Psychiater sge-
genBertaux ließ in Deutschland nicht lan-
ge auf sichwarten. 1982kommt der Kli-
nikdirektor UweHenrikPeters in seiner
Streitschrift„Wider die Thesevomedlen
Simulanten“ zu dem Ergebnis, Hölderlin
habe an einer Schizophasiegelitten, einer

durch besondereSpracheigenheitenge-
prägtenForm der Schizophrenie. Direkt
gegenBertaux gerichtet, dessen Bild des
geistig Kranken er für „völlig unzulässig“
hält, fragt er,wie Hölderlin denn eine
Krankheit habe spielen sollen, die erst
hundertJahrespäter entdecktwerden
würde.
DochauchgegenPeters’naturgemäße
FerndiagnosegabesEinwände. So zu-
letzt in dem Sammelband „Hölderlin und
die Psychiatrie“, in dem eine eindeutige
Diagnosevermieden wird.UndimJahr
2017 gabessogar neueUnterstützung für
Bertaux. Da schreibt der Arzt und Phar-
makologeReinhardHorowski in seinem
Buch„Hölderlinwarnicht verrückt“, der
Dichter seivonseinen Ärzten durch hohe
Gaben unter anderemvonQuecksilber
vergiftetworden, seine Symptome pass-
tendazu. Horowski hofft darauf, ein Haar
des Dichterszufinden, an dem man seine
Vergiftung nachweisenkönnte.
Wasaber würde sichverändern,wenn
man einesfände, mit Giftstoffen darin?
Würde das unseren Blickauf einen Men-
schen inNotund sein dichterischesWerk
umwälzen? Die mit Hölderlin beschäftig-
tenPsychiaterfordernvor allem eins: in-
terdisziplinär die besondereKommunika-
tionvongeistig Kranken, ihreNähe zur
poetischen Sprache zu erforschen. Alle
Seitenkönnendabeigerade in einer Ge-
sellschaft, deren Pflegebedarfsteigt, nur
gewinnen. UWE EBBINGHAUS

1808
Hölderlin spielt imTurm Klavier und
Flöte.Besucher wieVarnhagenvon
Ense und JustinusKerner erleben ei-
nen Kranken, der lebhaftdiskutiert,
auchmit unsichtbaren Bewunderern,
und konstatieren, seineganze
Beredsamkeit kaschiere nur ein
„gewöhnliches Irrereden“.

1809
Besuchvon JustinusKerner und
Ludwig Uhland. Ein Beauftragter
der Familie bietetdem Zeitungsre-
dakteurAugustMahlmann Arbeiten
vonHölderlin zumAbdruc kan,
der aber anonym erfolgen müsse.
Dazukommt es nicht.

1811
Hölderlin schreibt emsig Gedichte,
die er in einem Almanach
veröffentlichen möchte.

1822
Erster BesuchWilhelmWaiblingers
bei Hölderlin. Der Dichter redetden
Gastmit „EureKönigliche Majestät“
an. Hölderlingeht mitWaiblinger spa-
zieren und liestihm aus dem „Hyperi-
on“ vor. Waiblinger schreibt später
eine biographische Skizze Hölderlins.

1826
Hölderlins Gedichte erscheinen in
einervonUhland und Schwab
herausgegebenen Ausgabe.

1828
Hölderlins Mutterstirbt.Ererbt
mehr als neuntausend Gulden.Für
seinenUnterhalt bei Zimmer fallen
jährlichetwa200 Gulden an.

1838
Der Tischlermeister Zimmer stirbt.
SeineTochter Lottekümmertsich
weiter um den Kranken.

1841
Mit Christoph Theodor Schwab, dem
Sohn GustavSchwabs, kommt ein
neuerregelmäßiger Besucher zu
Hölderlin, der seineEindrücke
notiert. Schwab erlebt den Kranken
durchaus mit lichten Momenten. Er
distanziert sichvom „Hyperion“
(„Gucknicht so viel hinein, es ist
kannibalisch“) und wirdwütend,
wenn man ihn mit seinemNamen
anspricht.Wie andereBesucher auch
istSchwabvom Phantasieren Hölder-
lins auf dem Klavier beeindruckt.

1843
Besucherngegenüber erklärt
Hölderlin, er habe diesenNamen
niemalsgetragen, sondernheiße
eigentlich „Scardanelli, oder Salvator
Rosa, oder sowas“.Diotima habe
ihm „dreizehn Söhne“geboren, „der
eine istPapst, der andere istSultan,
der dritteist Kaiser vonRußland“.
Im Juni bekommt Hölderlin eine
Erkältung, am 7. Junistirbt er,am


  1. Junifindetdie Beerdigung
    auf demTübingerFriedhofstatt.
    


Einevorzügliche Quelle
zum Lebendes Autors is t:„Hölderlin“.
Eine ChronikinTextund Bildvon
Adolf Beckund Paul Raabe.
Schriftender Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 6/7.
Insel Verlag, Frankfurt1970.

Die Zeit heilt


keine Wunden


1808–1843


H


ölderlin gilt als philosophi-
scher Dichter und alsDichter,
für den sichPhilosophen inter-
essieren. Ersteht für eine Er-
fahrung, die sichdem urteilendenDen-
kenallein nicht erschließt,weil dafür
eine Lebensentscheidunggewählt wer-
den muss, die zwischen Ich undAußen-
welt, Leben und Denkenkeine scharfe
Grenze zieht.Daraus ergibt sicheine ge-
steigerte Aufnahmefähigkeit und eine
zwischen Abgrund und Ekstase schwan-
kende Lebensstimmung.
Denken und Dichten wirdzur Schick-
salsfrage.Fürden Philosophen Dieter
Henrichist Hölderlin selbsteine Exis-
tenzfrage, bessergesagt:Hölderlin oder
Beckett.JedesLeben, ob bewusst oder
nicht, bewegt sichbei Henrichzwischen
diesen beidenNamen, der nihilistischen
Erfahrung desAbsurden, für die Beckett
steht, und die emphatische Bejahung,die
Feier des Seins, alsoHölderlin. Beckett,
der Dichter des Nichts, hat Hölderlin ver-
ehrtund seine Motiveaufgenommen,ver-
kniffessichaber nicht, Hölderlins Ge-
dicht „Mnemosyme“nocheine Zeile an-
zufügen: „Und dann–das Nichts.“
Beide Schriftsteller sind auf denglei-
chen, tragenden Existenzgrund, die ei-
gentümliche Zwitterstellung des Lebens
zwischen Sein und Nichts, gerichtet,
aberganz unterschiedlich ist ihreArt,
damit umzugehen: das Schweigen der
Sprache bei Beckett und derhymnische
Tonbei Hölderlin.Wohernimmteinbio-
graphischderar tvom Leidgezeichneter
Dichter die Hoffnung? In der „Friedens-
feier“ schreibt er,erkönnegarnicht an-
ders, als einenTonanzustimmen, der
unkonventionell und fremd erscheinen
muss. Es gibtvonHölderlin eine frühe
philosophische Skizze,die darüber auf-
klärt: „Urteil und Sein“. Das Urteil
meintschon dieTrennung zwischen Sub-

jekt und Objekt, die Hölderlin in spino-
zistischer Richtung im Hinblickauf die
gemeinsameVerbindungzum Sein auf-
zuhebenversucht,wasaber nur nähe-
rungsweisegelingt unter ästhetischen
Gesichtspunkten, der Selbstbeschei-
dung des Ichs in derFriedensfeier.Mit
Spinozateilt Hölderlin auchdie Auffas-
sung, dasssichGottinder Natur offen-
bart. Die Natur istder einfachste Gottes-
beweis, „denn es wuchs durch Hände
der Menschen dieFrucht nicht“.
So isteseine sichaufgipfelnde,fern-
hin schimmernde, das Dasein in einen
Lebensstromeinhüllende Natur,die
dem Betrachter in den Hymnen als eige-
ner Charakter entgegentritt.Man mag
an Büchners„Lenz“ denken, in dem
eine übermächtige, gewittrigeNatur
demexaltiertenDichter in jedeFaser
dringt, die Grenze zwischenNatur und
Subjektgespenstischverschwindet, und
der Protagonistsichschließlich blasphe-
mischvon Gott abwendet. Tatsächlich
teilt Hölderlin in seiner zweiten,vom
Wahnsinn gezeichnetenLebensphase
im TübingerTurm ja das Schicksal von
BüchnersLenz: „So lebt er hin.“Aber
der blasphemischeTonist Hölderlins
Dichtung fremd. Damitsteht Hölderlin
selbstdem atheistischen Marxnicht völ-
lig fern,bei dem das nicht nur ökono-
misch, sondernimselben Atemzug
auchphilosophischund erkenntnistheo-
retischentfremdete Individuum zum Ge-
genstand unter Gegenständen wird,
dem sichweder seine eigeneNatur noch
die außer ihm liegende zeigt,weil es kei-
nen Sinn dafür hat.
Der Blickauf dieNaturoffenbarung
istaber soglänzend wiestechend und
weit vonallem entfernt,wasmitgeteilt
und zum Kollektiveigentum werden
kann. Auchdas maggemeint sein mit
demVers:„Nahist und schwer zufassen
der Gott.“ THOMASTHIEL

Ludwig Uhland, Herausgebervon
Hölderlins Gedichten FotoArchiv

Hölderlin um 1842, Holzstichnach
LouiseKeller Foto Interfoto

I


st das jetzt schon die Allversöh-
nung?Stellt sichder Friedevon
selbstein, mangels Gelegenheiten
zumUnfrieden, die allesamt abge-
sagt werden, eine nachder anderen? So-
garzum bösen Spiel der „Sozialkontak-
te“braucht man nicht länger guteMiene
zu machen, dieKanzlerin selbsthat da-
vondispensiert. So sinken wirregie-
rungsamtlichlegitimiertinjenenUrzu-
stand zurück, in welchem man einander
als Nackte entdeckt, „freundlichernst“
den Menschen zugetan und „milde“grü-
ßend wie die Exegeten vonHölderlins
vielschichtiger Hymne „Friedensfeier“
es dem griechischen halbgöttlichen
Christus zuschreiben, als dem„Allver-
sammelnden“ imZeichen des Gesellig-
keitsverzichts.„Aneinem schönenTage
lässt sichjafastjede Sangarthören“, so
vernimmt man es imAuftakt der „Frie-
densfeier“, zugleichmit der Bitteum
wohlwollende Lektüre: „Ichbittedieses
Blatt nur gutmütig zu lesen.“
Befreit vomDiktat derSozialkontak-
te,erblickenwir einander in immer lee-
rerwerdenden Räumen, unverstellt
vonallemTunund Teilnehmen, das auf
unbestimmte Zeit verschoben ist. Und
da macht sichnun unversehens dieses
Hölderlin’sche Hochgefühlimvirologi-
schen SettingLuft.Inden stillgeworde-
nen öffentlichenRaum trägt der Dich-
tereineErlösungsahnunghinein:
„Schicksalgesetz istdies, dassAlle sich
erfahren, dass,wenn dieStillekehrt,
aucheine Sprache sei.“ Man ist, sprach-
los geworden, womöglich freier,als
man dachte.Vielleichthat es ja nur an
der geschichtlichenSituationgefehlt,
in der sichalles entledigen lässt.Ist
nicht jedeAbsageein Friedensangebot,
eine Einladung, Ballastabzuwerfen?
Undauf leergefegter Bühne die himmli-

schen Mächte, i nliebendem Synkretis-
musvereint ,aufspielen zu lassen?An-
ders gefragt:Gibt eseineKorrelation
zwischen Geselligkeitsverzicht undge-
schärftem Sinn fürsMetaphysische?
Hölderlin führt in seiner „Friedensfei-
er“ dendichterischen Gegenschlagzum
hautnaherfahrenenPietismus württem-
bergischerHerkunft. Dort, in pietisti-
scher Andacht„für mich“,wohnte der
Gott in des MenschenInnerlichkeit,
und mochtedie Welt derob zugrunde ge-
hen.Die „Friedensfeier“ indessen be-
zeichnetein vonaller Inspektionlosge-
löstesErfüllungsgeschehen, einen„Voll-
endungszustand der Allversöhnung“,
wie Jochen Schmidt dielyrischherge-
stellteAugenhöhe zwischen Göttern
und Menschenkommentiert. Wielange
noch?Undwohin sollesführen? Die
Standardfragen einerjeden Heimsu-
chung werden vonHölderlin imSzena-
rioder griechisch-mythischen Eschato-
logie beantwortet, einem funktionalen
Äquivalent zur biblischen Ideedes
JüngstenTags.In dieserFriedensdich-
tungrundetsichdas im sozialen Gegen-
einander bislang Getrennteund Verein-
zelte zu einem sinnvollengeschichtli-
chen Zusammenhang. Da treten dann
nur noch„sich liebende Gäste“ auf,das
Böseist gebannt,ohnedassdie Welt
überwundenwerden müsste: die Erlö-
sungist eine innerweltliche.
Umfangenvon„Mutter Erde“,voll-
zieht siesichinDichtungund Wahrheit
alsein diesseitiges Geschehen,als ein
Zusammenrückendes Menschenge-
schlechts aus pazifistischem Kalkül.
Gläubige, hörtihr Hölderlins Signale?
DerVatikanriegelt sichersteinmalab,
schließt denPetersdomund stellt den
Trostdes Sakramentenempfangsunter
virologischenVorbehalt. Dafürappel-

lier teran den„Zusammenhalt“ der
Welt.Soautorisiert der Papsteinenlyri-
sche nChiliasmus,von dem der Hölder-
lin-KommentatorSchmidt schreibt:
„Daschiliastische Denkenist nichtuto-
pisch, sondernescha tologisch,und es
lässtsichimGegensatzzur christlichen
Orthodoxie, die dasStadiumder Voll-
kommenheit demJenseitsvorbehält,
vonder Ideeleiten, dasVollkommene
werdesichtatsächlichamEnde der
Zeit innerweltlic hereignen:ineinem
neuen goldenenZeitalter,indem alles
Übel der Geschicht eüberwundensein
wird.“
Eine Erwartung, die der HeiligeStuhl
inzwischen nicht mehr berichtigt, son-
dernnährt. Sieht manrecht,sotut er
dies in einerTravestie derchristlichen
Hoffnung einerseits und einer nachho-
lendenRechtfertigung dergeschichtsphi-
losophischsäkularisierenden Spekulati-
on des deutschen Idealismus anderer-
seits. Es istfreilichein anderer,ein grie-
chischer,ein „gegenüber dem Dogma
neuer Christus“, den die „Friedensfeier“
besingt, wie JürgenLink in seinem so-
eben erschienenen Buch„Hölderlins
Fluchtlinie Griechenland“ darlegt.Die-
ser Christus dergriechischen Mytholo-
gie widerrätdann dochganz entschie-
den dem Christus des hellenischgepräg-
tentheologischen Erbes. Die idealistisch
geöffnete Christologie sei kompatibel
mit den altengriechischen Halbgöttern
Dionysios und Herakles, so Link.Chris-
tus bilde mit ihnen als Primus interPares
gleichsam ein halbgöttliches Kleeblatt,
in dem sichdie Menschheit „imRahmen
einer zivilgesellschaftlichen neuen Kir-
che“ wiederfindenkönne.Aber wird,
wenn die Sozialkontakteersteinmal wie-
der aufgenommenwerden dürfen, an ei-
ner solchen Hölderlin-KirchenochBe-
darfsein? CHRISTIANGEYER

Furchtlos am Abgrund

Hölderlinalsdichterischer Philosoph

Wiekrank Hölderlin wirklichwar,

darüber wirdseit mehr als zweihundert

Jahrengestritten.Wasaber würde

aus einer endgültigen Antwortfolgen?

Die Garonne bei Bordeaux

AufAugenhöhe mit den Göttern

In seiner „Friedensfeier“versetzt Hölderlin dem Pietismus den Gegenschlag

Foto Barbar

aKlemm

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