Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 SCHWEIZ 11


Die geschlossenen Grenzen zu Deutschland


in der Region Basel haben weitreichende Folgen SEITE 12


EinFondueabend im kleinen Rahmen ist erlaubt: Die


verschärfte Corona-Verordnung lässt Fragen offen SEITE 13


Kampf um Beatmungsgeräte ist im Gange


Ausgerechnet bei Beatmungsapparaten, die potenziell lebensrettend sind für Corona-Patienten, ist die Lage in der Schwei z angespannt


MICHAEL SURBER, SIMON HEHLI


Die Zahl der Ansteckungen mit dem
Coronavirus steigt in der Schweiz un-
vermindert an, und damit gibt es auch
immer mehrPatientinnenund Patienten,
die auf intensivmedizinische Behand-
lung in Spitälern angewiesen sind.Auf-
grund der Erfahrungen in Italien gehen
die Behörden davon aus, dass auch hier-
zulande die vorhandenen Kapazitäten
an Betten auf den Intensivstationen
nichtausreichen.Das Coronavirus führt
bei den Schwerkranken zu Lungenent-
zündung, was bei vielenPatienten eine
künstliche Beatmung nötig macht.Doch
ausgerechnet bei den potenziell lebens-
rett enden Beatmungsgeräten ist die
Lage in der Schweiz angespannt.
Wie die Schweizerische Gesellschaft
für Intensivmedizin (SGI) in einer
Medienmitteilung ausführt,gibt es in der
Schweiz in Intensivstationen zurzeit 80 0
bis 850 Betten mit Beatmungsgeräten.
AufdieGesamtbevölkerunghochgerech-
netalsoungefähr10pro100 000Einwoh-
ner. Das ist im internationalenVergleich
eher bescheiden. Selbst das arg gebeu-
telte Italien verfügte zu Beginnder Krise
offenbar über mehr der lebensrett enden
Geräte. Deutschland hat fast 2,5-mal
so viele proKopf wie die Schweiz, wie
die «FinancialTimes» unlängst vorrech-
nete.TrotzdemhatderdeutscheGesund-
heitsministerJens Spahn bei der Lübe-
ckerMedizinaltechnikfirmaDrägerwerk
nochmals10 000 Geräte bestellt, wie am
Freitag bekanntwurde.


Bauteile inChina «gehamstert»


Auch in der Schweiz scheint man den
Ernst derLage erkannt zu haben.Wie
AndreasWieland, CEO des Medizinal-
unternehmens Hamilton in Bonaduz
(GR),auf Anfrage sagt, sind auch bei
seinerFirma Bestellungen von Schwei-
zer Spitälern eingegangen.Das Unter-
nehmen entwickelt und produziert in
der Schweiz jene Beatmungsgeräte, die
zurzeit weltweit dringend benötigt wer-
den:«Wir haben an Bestellungen ein
Mehrfaches von dem, was wir produzie-
ren können», sagt Wieland.
SeineFirmaseideshalbdaran,diePro-
duktionskapazitäten hochzufahren. Der-


zeit fertigt sie 30 bis 40 Prozent mehr
Geräte als im letztenJahr, das sind pro
Woche 400 Geräte. Das Ziel ist lautWie-
land gareine Steigerung um 50 Prozent.
Möglich ist das nur, weil Hamilton die
Entwicklung antizipiert und imJanuar
Bauteile aus China «gehamstert» und
sich auch im europäischen Marktrecht-
zeitigeingedeckthat.EinegrosseHeraus-
forderung sei derzeit, dass die Hälfte der
MitarbeiterinnenundMitarbeiterKinder
zu Hause hätten, die Betreuung brauch-
ten.«Da müssen wir beziehungsweise die
Politik schnell eine Lösung finden.»
Wieland, der den Markt für Be-
atmungsgeräte gutkennt,schätzt, dass in
derSchweizderzeitinsgesamtrund10 00
bis1200Gerätevorhandensind.Tatsäch-
lich bestätigt die SGI, dass es über die
850 Gerätein den Intensivstationen der

Spitäler hinaus nochReserven gebe, die
mobilisiert werden könnten.«Ein Bei-
spiel sind transportfähige Beatmungs-
geräte, die in medizinischenFahrzeugen,
Operationssälen und Anästhesieräu-
men zurVerfügung stehen.» Diese Be-
atmungsgeräteseienfürdiemechanische
Beatmung von kritisch erkrankten Co-
vid-19-Patienten geeignet.
Neben den Spitälern hatauch die
Armee Beatmungsgeräte in ihremArse-
nal. Wie viele es sind, darüber kann je-
doch nur spekuliert werden. «Nicht
genug», sagte BrigadierRaynald Droz,
Stabschef Kommando Operationen,
am Dienstag. Genaue Zahlen nannte
er nicht.Wie Tele Basel berichtete, soll
die Armee 204 Beatmungsmaschinen
besitzen. Diese Zahl sei falsch, sagt je-
doch Armeesprecher Daniel Reist. Die

Anzahl sei nicht öffentlich. Klar ist je-
doch, dass die Armee Geräte hat und
diese aufgrund der eingehenden Ge-
suche den zivilen Behörden zurVer-
fügung stellt, wieReist sagt. Und of-
fenbar ist man auch bei der Armee am
Nachrüsten: «Auch die Armee braucht
dringend Geräte», sagt Wieland auf die
Frage, ob er auch von dieser Seite Be-
stellungen habe. Wie die SGI sagt, hat
der Koordinierte Sanitätsdienst desVBS
zusätzlicheAufträge an Hersteller ver-
geben, die ihre Beatmungsgeräte in der
Schweiz vertreiben.
Laut einerReuters-Meldung ist in
Europa einregelrechter Kampf um
medizinisches Material entbrannt, wo-
bei die Beatmungsgeräte ein begehrtes
Gut sind.Anfang März erliess die deut-
scheRegierung eineVerord nung, wo-

nach der Export von Schutzausrüstung
und medizinischen Geräten im Kampf
gegen Corona unter einen Genehmi-
gungsvorbehalt gestellt wird.Von Vor-
würfen,sie h andle damit egoistisch und
unsolidarisch,will dieRegierung in Ber-
lin aber nichts wissen. Der Export in die
europäischenPartnerländer soll weiter-
hin möglich sein.
Hamilton-CEOWielandsagt, dass
er nicht davon ausgehe, dass der Bun-
desrat per Notrecht dieAusfuhr ver-
biete und damit quasi alle Beatmungs-
geräte für den Gebrauch im Inlandkon-
fisziere.Wi e viele Bestellungen aus dem
Inland eingegangen sind, kannWie-
land nicht sagen. Es gebe auchkeine
Bevorzugung des heimischen Marktes.
«Wir priorisieren die Lieferungen der-
zeit nach humanitären Gesichtspunkten.
Die Geräte gehen deshalb dahin, wo der
grösste Bedarf herrscht – derzeit nach
Italien.» Aber Hamilton sei bereit für
den Fall, dass die Krise in der Schweiz
akuter werde.

Mehrgeschultes Personalnötig


In denkommendenWochen dürfte die
Schweiz auf jedes einzelne Beatmungs-
gerät angewiesen sein.Wie eine Stu-
die desrenommierten Imperial College
London zeigt, schafft man es mit den
geeigneten Massnahmen zwar, die Zahl
der kritischenFälle zureduzieren. Doch
auch in diesem «optimalen» Szenario
dürften in den meistenLändern mehr
Beatmungsmaschinen benötigt werden,
als vorhanden sind.
Die Verfügbarkeit v on Geräten ist
dabei das eine, das Personal, das diese
bedienen kann, das andere. Dies er-
klärte am DienstagnachmittagDaniel
Koch vom Bundesamt für Gesundheit.
Denn zusätzliche Beatmungsgeräte be-
nötigen mehr Platz für Betten und vor
allem mehr geschultesPersonal. Dieses
könne nicht innerhalb von zweiTagen
ausgebildet werden, betonteKoch. «Wir
werden zusätzliches Personal in den
Krankenhäusern benötigen», ist man
auch bei der SGI überzeugt. Damit sich
das intensivmedizinische Fachperso-
nal um die schwerkranken, intubier-
ten Patienten kümmernkönne, müssten
weitere Kräfte mobilisiert werden.

Ein Arztbehandelt einenCoronavirus-Patienten im KantonsspitalLa Carità in Locarno. ALESSANDRO CRINARI /TI-PRESS / KEYSTONE

Knappheit bei der medizinischen Ausrüstung macht erfinderisch


Weil die Medtech-Branche nicht nachkommt, sollen auch andere Unternehmen bei der Produktion mithelfen


GIORGIOV. MÜLLER, BENJAMIN TRIEBE,
LONDON, RENÉHÖLTSCHI


Wegen der riesigen Zusatznachfrage gibt
es europaweit zu wenige Geräte für die
künstliche Beatmung. Grosse Hersteller
wie Getinge (Schweden), Drägerwerk
(Deutschland), Philips (Niederlande),
Medtronic (Irland) oder Hamilton Medi-
calinderSchweiz,diejährlichrund15 000
Beatmungsgeräte herstellt,können trotz
den jüngsten Kapazitätserhöhungen die
hohe Nachfrage nicht befriedigen.
Immerhin nützen die Hersteller die
derzeitige Extremsituation nicht für
Preissteigerungen aus. Der Hamilton-
Konzernchef AndreasWieland bestä-
tigte dies AnfangWoche gegenüber
dem SchweizerFernsehen. Etwas weni-
ger kooperativ verhalten sich die Be-
hördenin anderenLändern.Aus Frank-
reich und Deutschland hört man den
Ruf nach Exportrestriktionen, damit
die Versorgung im eigenenLand sicher-
gestellt werdenkönne. Im Gegensatz
dazu erteilt die Seco-Direktorin Marie-
Gabrielle Ineichen-Fleisch einer allfäl-
ligen Exportbeschränkung bei Schwei-
zer Produkten eineAbsage. Der Handel


dürfe nicht eingeschränkt werden, sagte
sie an einer Medienorientierung in Bern.

Grossauftragfür Drägerwerk


Welch extremeAuswirkung diese Man-
gellage hat, zeigt nicht zuletzt dieKurs-
entwicklung der Aktien des deutschen
Medizintechnikkonzerns Drägerwerk:
SeitDonnerstagsprangderKursumüber
50% in die Höhe, allein deshalb, weil die
Firma einen Grossauftrag der deutschen
Regierung zur Lieferung von 10000 Be-
atmungsgeräten meldenkonnte. Misst
man dieBestellungderRegierungan der
Zahl der Betten auf deutschen Intensiv-
stationen (rund 28000 od er 34 Betten
pro100000Einwohner),erhältmaneine
Ahnung davon, auf welchen Ansturm
sich die Behörden vorbereiten. Die Mit-
teilungmachtaberauchdeutlich,dassder
Ausbaunichtvonheuteaufmorgenmög-
lich sein wird. Die Abwicklung desAuf-
trags werde sich über das ganzeJahr er-
streckenunddieProduktionskapazitäten
inLübeckwürden«erheblich»ausgewei-
te t, hiess es. Ausserdem ist Drägerwerk
starkvonZulieferernabhängig,dieihrer-
sei ts unter erhöhtem Druck stehen.

Noch grösser ist das Beschaffungspro-
blem nachAuskunft des deutschen Bran-
chenverbands für Medizintechnik, Spec-
tari s, allerdings bei Schutzausrüstungen
für das Spitalpersonal. Hier gebe es be-
reits Engpässe, erklärt der Spectaris-
Sprecher BenediktWolbeck. Ein Gross-
teil dieser Produkte werde in China und
weiterenLändern in Asien produziert,
auch von europäischenFirmen wie Drä-
gerwerk. Problematisch sei im Nachhin-
ein, dass noch bis vor wenigenWochen
unter anderen Deutschland Schutzaus-
rüstungennachChinaexportierthabe,als
das Virus nur dort vermutet worden sei.
In Grossbritannien zwingt der abseh-
bar schwere Mangel an Beatmungsger ä-
ten dieRegierung zu einem ungewöhn-
lichen Schritt: Premierminister Boris
Johnson hat Industrieunternehmen vom
Automobil- bis zum Maschinenbau ge-
beten, bei der Produktion von medizi-
nischen Geräten zu helfen, die zur Be-
handlung von Covid-19-Patienten un-
abdingbar sind. DerRegierungschef
wandte sich am Montagabend an rund
60 Firmenchefs. Zu denAdressaten ge-
hörenunter anderem die inGrossbritan-
nien mitWerken vertretenenAutomo-

bilkonzerneFord und Honda,aber auch
der TriebwerksbauerRolls-Royce, der
Bau- undLandmaschinenhersteller JCB
und der Staubsaugerfabrikant Dyson.

Erheblichepraktische Hürden


Johnson soll die Bereitstellung von
Zehntausenden Beatmungsgeräten
innerhalb wenigerWochen gefordert
haben. Gesundheitsminister Matt Han-
cock hatte am Sonntag erklärt, das na-
tionale Gesundheitssystem NHS verfüge
nur über 5000 Beatmungsgeräte, dürfte
imVerlauf der Krise aber einVielfaches
dessen benötigen.«Wir möchten, dass
jeder , der seineFertigungskapazitäten
auf die Herstellungvon Beatmungs-
geräten umstellen kann, das auch tut»,
so Hancock gegenüber der BBC.
Unternehmen erklärten weitherum
die Bereitschaft zur Hilfe, doch bestehen
erhebliche praktische Hürden.Kurzfris-
tig dürfte es fast unmöglich sein, be-
stehende Produktionsstrassen fürAutos
oderTraktoren zur Herstellung von
medizinischem Gerät umzurüsten. Zu-
dem existierenkeine frei verfügbaren
Pläne von Beatmungsgeräten, sondern

die Bauweise ist Eigentum des jewei-
ligen Herstellers. Deshalbkönnten die
Firmen zunächst nurPersonal oder freie
Räumlichkeiten an ihren Produktions-
stätten zurVerfügung stellen, die exis-
tierende Gerätehersteller zurAuswei-
tung der jeweils eigenenFertigung nut-
zen können, heisst es aus der Branche.
Doch dieRegierunghofft , dass inei-
nigenWochen die Produktion auch mit-
hilfe neuer Hersteller ausgeweitet wer-
den kann. Industrieverbände haben
signalisiert, alle Möglichkeiten zu prü-
fen. Die Einigung auf ein frei verfügba-
resGerätedesignistderersteSchritt.Ent-
scheidendwirdauchdieKoordinationmit
mittelständischen Zulieferern sein, wel-
che die massenhaft benötigtenKompo-
nenten herstellen müssen. EineVersor-
gungüber denWeltmarkt gilt wegen
Engpässen aber ebenfalls als schwierig.
BesondersherausforderndistdieProduk-
tion elektronischerBauteile und Prozes-
soren.Rechtlichkönnte derRahmen für
den Effort mit speziellen,prioritär zu be-
handelnden Staatsaufträgen legitimiert
werden. Sie werden sonst bei Militärein-
sätzen und Kriegsfällen vergeben,um die
Versorgung der Armee zu sichern.
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