Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

12 SCHWEIZ Mittwoch, 18. März 2020


Einkaufstourismus war gestern


In der Region Basel ze igen sich schon am erst en Tag nach der Grenzschliessung weitreiche nde Folgen


DANIEL GERNY


«Danke, weiter», mit diesenWorten
winkt der Zollbeamte einFahrzeug nach
dem andern durch, nachdem er einen
kurzen Blick in die Grenzgängerbewil-
ligung geworfen hat. So wird am Diens-
tag überprüft, ob die Einreise gemäss
Corona-Notverordnung noch zulässig ist.
Das Prozedere dauert nur wenige Sekun-
den, doch dieFolgen sind deutlich spür-
bar : Für die Einreise in die Schweiz ver-
zeichnet man um 7 Uhr 30 am Zoll Otter-
bach, wo dieAutobahn von Lörrach,
Freiburg und Karlsruhe herkommend
in die Schweiz führt, eine Wartezeit von
gut einer Stunde. In umgekehrter Rich-
tung herrscht tote Hose. Auch Deutsch-
land hat die Grenzen dichtgemacht–
Einkaufstourismus war gestern.
Für die Stadt Basel, deren Leben
grenzüberschreitend pulsiert,herrscht
deshalb am Dienstag mancherorts
eine beinahe surreale Stimmung. Basel
kommt auf einen Schlag ein grosserTeil
seines Umlandes abhanden. Der tri-
nationaleWirtschaftsraum bestand in
dieserRegion lange vor derPersonen-
freizügigkeit. Schon zwischen den zwei
Weltkriegen fuhren Baslerinnen und
Basler mit demTram direkt nach Lör-
rach. Und ein altes Gesetz erlaubte es
den ElsässerBauern im letztenJahrhun-
dert,ihre Produktein Basel erleichtert
und zu günstigen Zoll- und Steuertari-
fen zu verkaufen.Heute gehört der Ein-
kauf bei Hieber in Deutschland zum fi-
xen Samstagsprogramm vielerBasler.


Das Gebiet istwie ausgestorben


Auch die chemische Industrie ist auf
Grenzgänger angewiesen. Der An-
teil der Arbeitnehmer mitWohnsitz im
Ausland liegt deshalb traditionell höher
als in anderen Regionen. Grenzgänger
werdenhier im Unterschied zumTessin
mehrheitlich alsAusdruck einer wirt-
schaftlich gesunden Entwicklung ange-
sehen.Rund 35000 reisen im Kanton
Basel-Stadt jedenTag in die Schweiz zur
Arbeitein, etwas mehr ausFrankreich
als aus Deutschland.Viele sind nun un-
erwünscht:Wer im Gastrobereich oder
in einem für den täglichen Gebrauch
entbehrlichen Geschäft angestelltist,
hat keine Arbeit mehr.
Um etwa einViertel sei der Grenz-
verkehr gegenüber derVorwoche zu-
rückgegangen, schätzt der Zöllner am
Übergang Otterbach. Genaue Zahlen
gib es nicht.Verschiedene kleine Grenz-
übergänge sind garkomplett geschlos-


sen. Die Zufahrtstrasse zum ZollWeil
Ost ist gesperrt. Der kleine Übergang
liegt gleich bei derFondation Beyeler,
die derzeit mit der Edward-Hopper-
Show einen Publikumsmagneten im
Programm hätte. Doch das ganze Ge-
biet ist wie ausgestorben.Das öffent-
liche Lebenist – zumindest hier – bei-
nahe zum Erliegen gekommen.Der
Frühlingsspaziergang überdie Anhöhe
bei Inzlingen mit einem anschliessen-
den Weisswein-Halt in einer Garten-
beiz: gestrichen. DieBaslerinnen und
Basler wandern gerne im Elsass, gehen
in Hüningen zum Spargelessen oder in
Badenweiler zum Wellness-Wochen-
ende. Doch über die Grenzekommt nur
noch, wer wirklich muss – und dies auch
nachweisen kann.
Auch beim ZollBasel-St. Louis an
der Grenze zuFrankreich ist alles ab-
geriegelt. Praktisch niemand fährt
heute nachFrankreich, während sich
die Autos Richtung Schweiz stauen.Am
Abend, wenn die Grenzgänger nach
Hause fahren, wird es umgekehrt sein.
Wagen umWagen wird so beim Grenz-

übertritt zügig abgewickelt. An syste-
matischeKontrollen, beispielsweise ob
zu verzollendeWaren mitgeführt wer-
den oder wer insLand einreist, ist den-
noch nicht zu denken.Dafür reicht die
Zeit nicht. Ein kurzer Blick in die Grenz-
gängerbewilligung muss genügen, damit
der Verkehr nichtvöllig zum Erliegen
kommt.Wer also auf die Idee gekommen
sein sollte, die Corona-Krise zeige, dass
Grenzkontrollen zum Schutz vor Krimi-
nalität oder illegaler Einwanderung pro-
blemlos wieder eingeführt werdenkönn-
ten, sieht sich getäuscht: Niemand ist hier
in derLage zu überwachen,wer mit wel-
chen Absichten insLand einreist.
Man wolle derWirtschaft ja nicht
noch zusätzliche Probleme bereiten, er-
klärt der Zöllner und winkt einenPas-
sat durch, dessenFahrer ein Schreiben
des Arbeitgebers hervorkramt.Viele
der Zöllner tragen zum SchutzLatex-
Gummihandschuhe. Schutzmasken sind
aber keine zu sehen – auch bei den Ein-
reisenden nicht. Und obwohl die Leute
heute für ihren Arbeitsweg wegen der
Grenzkontrollen deutlich länger brau-

chen, herrschtRuhe und Gelassenheit.
«Keiner hupt,keiner drängelt», stellt der
Zollbeamte fest.Das sei bei einem aus-
serordentlichenRückstau unter norma-
len Umständen ganz anders, erklärt er.

Zurückin die Heimat


Soeben fährt ein etwasverbeul ter Mer-
cedes-Bus mit rumänischemKennzei-
chen im Schritttempo vor. Drinnen sit-
zen einige Männer. In die Schweiz einrei-
sen dürfen sie nicht.Doch die Notverord-
nung erlaubt denTransit in ein anderes
Land. «Die wollen nach Hause», vermu-
tet der Zollbeamte und winkt den Mini-
bus auf einParkfeld.Viele Leute mach-
ten sich in der Krise auf denWeg zurück
in die Heimat, sagt er. Ob wirklich alle
die Schweiz nur passieren – auch das lässt
sich in dieser ausserordentlichenLage
nicht wirklichkontrollieren. Die Zoll-
beamten müssen abschätzen, was plau-
sib el klingt. Die Zöllner sprechen kurz
mit denRumänen,kontrollieren dieAus-
weise und werfen einen Blick insWagen-
innere. Dann rollt der Mercedes weiter.

Der Grenzübergang zwischenRiehen undWeil am Rhein ist seit Montagmorgen geschlossen. GEORGIOS KEFALAS / KEYSTONE

Das Coronavirus belastet auch das Gerichtswesen


Anwälte und Richter streiten sich über mögliche Massnahmen, um den Rechtsstaat aufrechtzuerhalten


KATHRIN ALDER


Ein prominenter Gerichtsfall bringt das
gegenwärtige Dilemma imGerichts-
wesen auf den Punkt: derFifa-Prozess,
der nun wegen des Coronavirussistiert
wurde(siehe Zusatz). Alle Gerichte
habensich dieser Tage mit derFrage zu
befassen,wiewährendderPandemiemit
öffentlichenVerhandlungen oder Ein-
vernahmen umzugehen sei.Das Bun-
desgericht hat die für März angesetzten
öffentlichen Beratungen verschoben,
auch das Bundesstrafgericht hatVer-
handlungenvertagt.GemässderWebsite
der Zürcher Gerichte ist derVerhand-
lungsbetrieb am Obergericht sowie an
den Bezirksgerichten bis zum 31. März
eingestellt.Davon ausgenommen sind
dringlicheVerfahren, diekeinenAuf-
schub oderkeine Verzögerung dulden.
Etwas weiter gehen die Gerichte im
KantonBasel-Landschaft, wo «derPar-
teiverhandlungsbetrieb»bis mindestens
zum 30. April eingestellt wird.Ausge-
nommensind auch dort dringliche Fälle.
UnsicherheitbestehtauchbezüglichFris-
ten.Baselland teilt mit,dass bei derFest-
setzung und Erstreckung richterlicher
Fristen der «aktuellen besonderen Situa-


tion»Rechnunggetragenwerde.Doches
gib t auch gesetzlicheFristen, die zwin-
gendeingehaltenwerdenmüssen.Dessen
istsichauchderSchweizerischeAnwalts-
verband (SAV) bewusst: Man vermisse
griffige Massnahmen imJustizbereich,
schreibt derSAV in einem Brief anJus-
tizministerin KarinKeller-Sutter. In eini-
gen Kanzleien hätten sich bereits Infek-

tionenereignet,«einebeachtlicheAnzahl
von Anwältinnen und Anwälten haben
zudem die für den Krankheitsverlauf
heikle 65er-Altersgrenze überschritten».
DerSAVverlangtdahervomBundes-
rat, die Justizbehörden des Bundes und
derKantoneanzuweisen,«sämtlicheVer-
handlungstermine, Einvernahmen, Be-
sprechungenundAugenscheineschweiz-

weit zu vertagen,solange der bereitsaus-
gerufeneAusnahmezustand besteht».
Weiter möchte derSAV, dass hängige
Verfahrensowierichterlicheundbehörd-
licheFristen sistiert werden. Er fordert
von Keller-Sutter gar einen «Rechtsstill-
stand», verhängt via Notrecht.
Die SchweizerischeVereinigung der
Richterinnen und Richter (SVR-ASM)
sieht das anders und beschwert sich
ebenfalls per Brief beiJustizministerin
Keller-Sutter über die «undifferenzierten
und pauschalenForderungen desSAV».
Die Richtervereinigung warnt gar vor
einer (nahezu) handlungsunfähigenJus-
tiz in der Schweiz,sollten dievom SAV
geforderten Massnahmen umgesetzt wer-
den. Dies gelte es selbst unter Berück-
sichtigung der dramatischen Gesamt-
lage zu verhindern. DerSAV verkenne
zudem, dass die Schweizer Gerichte be-
reits Massnahmen im Zusammenhang
mit dem Coronavirus ergriffen hätten.
Das EidgenössischeJustiz- undPoli-
zeidepartement (EJPD) bestätigt auf
Anfrage, dass die vom Bundesrat ange-
ordneten MassnahmenFolgen für die
Justiz haben. Es prüfe das weitereVor-
gehen und bereite allfällige Beschlüsse
des Bundesrats vor.

«Heb de Latz» –


Corona spaltet


die SVP


Roger Köppel macht Stimmung
gege n den Shutdown

SIMON HEHLI

«Die Massnahmen sind einschneidend,
aber dringend notwendig, um den dro-
hendenKollaps des Gesundheitssystems
zu verhindern,gefährdete Mitmenschen
zu schützen und diese Krise zu bewälti-
gen.»Das schreiben sämtlicherelevan-
ten Parteien desLandes in einer gemein-
samen Mitteilung vom Montagabend.
Dass dieSVP die Schliessungaller
Restaurants, Museen oder Coiffeur-
salons sowie fast sämtlicherLäden gut-
heisst, ist nichts alskonsequent:DiePar-
tei hat genau dies am Sonntag ultima-
tiv gefordert.DerFraktionschefThomas
Aeschi hatte zudem bereits vor mehr als
einerWoche für denAbbruch der Ses-
sion plädiert. Auch AeschisParteikolle-
ginMagdalenaMartullo-Blochermachte
früh auf die Dramatik der Situation auf-
merksam.Als sie zu Beginn der Session
mit Atemschutzmaske in der grossen
Kammer erschien, verwies sie dieRats-
präsidentin Isabelle Moret des Saales.
Ein prominenterSVP-Vertreter hin-
gegen hält die ganzeAufregung wegen
Corona offensichtlich für übertrieben:
Roger Köppel. In hoher Kadenz äussert
er sich aufTwitter zur Corona-Pandemie


  • und warnt dabei insbesondere vor den
    ökonomischenFolgen. «Hört mit dieser
    Selbstverbrennung derWirtschaft auf»,
    schrieb er am Montagabend. Man solle
    die Kranken und Gefährdeten isolieren,
    aber alle anderen arbeiten lassen, for-
    dert der«Weltwoche»-Verleger. «Es ist
    komplett unverhältnismässig, die Wirt-
    schaft zu ruinieren.»
    Köppels Äusserungen unterschei-
    den sich grundlegend von den offiziel-
    len SVP-Statements. Er greift den Bun-
    desrat massiv an und unterstellt ihm,
    fahrlässig und falsch zu handeln. Bun-
    despräsidentin Simonetta Sommaruga
    wirft er vor, sie behaupte irreführend,
    alle seien gleichermassen vomVirus be-
    troffen.Köppel bedient sich einer his-
    torischen Analogie: 1968 hätten trotz
    der Hongkong-Grippe, die weltweit
    Hunderttausende bis Millionen von
    Toten forderte, Monster-Rockkonzerte
    mit Jimi Hendrix und den Doors so-
    wie gigantischeKundgebungen in fast
    allen Hauptstädten Europas stattgefun-
    den.«Wo ist heute dieVerhältnismässig-
    keit?», fragt der Nationalrat deshalb.
    Für solcheAussagen erntetKöp-
    pel auch aus denReihen der eigenen
    Partei harscheReaktionen. Der Zür-
    cher Lokalpolitiker MichaelFrauchi-
    ger schreibt, ebenfalls aufTwitter , er sei
    «sowasvon sauer auf solche Idioten».
    Er fordertKöppel auf: «Heb eifacht
    de Latz!» Ein «anständiger»SVPler
    wisse, was Solidarität sei, aberKöppel
    nicht. Unterstützung bekommt Frau-
    chiger vom St. Galler Sam Büsser, dem
    Regionalleiter derJungen SVP in der
    Region See-Gaster. Er verweist auf das
    Communiqué der nationalenSVP vom
    Wochenende und schreibt dazu: «Für
    alle, die aufgrund irgendwelcherSVP-
    Nationalräte glauben, dieSVP stünde
    nicht hinter dem Bundesrat.»


Albert Rösti


bleibt vorerst


SVP-Präsident


(sda)· Wegen des Coronavirus bleibt
SVP-Präsident AlbertRösti bis auf wei-
teres im Amt. DieWahl eines Nachfol-
gers oder einer Nachfolgerin wird auf
Eis gelegt. Rösti habe sich bereit erklärt,
seine Amtszeit alsParteipräsident zu
verlängern, bis wieder ordentlicheWah-
len durchgeführt werdenkönnten, teilte
die SVP am Dienstag mit.Die Gremien-
sitzungvom 27. März und die Delegier-
tenversammlung vom 28. März werden
auf einen späteren, noch nichtdefinier-
ten Ze itpunkt verschoben. Seine Einwil-
ligung sei ein Beitragan die Stabilität,
sagteRösti.

Game-Over im Fifa-Fall


ald.· Das Fifa-Verfahren ist mindestens
bis zum 20. April sistiert. Dies hat das
Bundesstrafgerichtam Dienstagabend
mitgeteilt.Das Gericht begründetseinen
Ents cheid damit, dass sämtliche Beschul-
digtenüber65Jahrealtseienundteilweise
Vorerkrankungenaufwiesen.Ihnenkönne
«zumindest für dieDauer der durch den
Bundesrat angeordneten Massnahmen
nicht zugemutet werden, an der Haupt-
verhandlung teilzunehmen». Beschuldigt
sind die drei ehemaligen deutschenFuss-
ballfunktionäreTheo Zwanziger, Wolf-
gang Niersbach und Horst R. Schmidt so-
wie der Schweizer Urs Linsi, einst Gene-
ralsekretär derFifa. Die Anklage wirft

ihnen Mittäterschaft oder Gehilfenschaft
zum Betrug vor. Konkret geht es um eine
dubiose Zahlung des DeutschenFuss-
ball-Bundes in der Höhe von 6,7 Millio-
nen Euro imVorfeld derFussball-Welt-
meisterschaft 2006 in Deutschland.
Damit ist so gut wie klar, dass das
Verfahren verjährt. Um den Eintritt der
Verjährung zu verhindern, müsste bis
zum 27. April ein erstinstanzliches Urteil
vorliegen. Angesichts der ursprünglich
geplanten dreiVerhandlungswochen
und derTatsache, dass sämtlicheVertei-
diger wohl mehrstündige Plädoyers hal-
ten werden,ers cheint dies als äusserst
unwahrscheinlich.
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