Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 SCHWEIZ 13


Was ist eine «Veranstaltung»?


Der Bund präzisiert die strengerenCorona-Regeln und macht dabei ein erstaunliches Beispiel


Ein Fondueabend ist erlaubt –


über fünf Kinder sind zu viel: Die


Erklärungen zur Corona-


Verord nung zeigen, wie wichtig


jetzt Eigenverantwortung ist.


FABIAN SCHÄFER


Im Kampf gegen das Coronavirus betre-
ten auch dieJuristen des Bundes Neu-
land. Sie müssen für den Bundesrat ex-
trem schnell extrem einschneidende
Vorschriften aufsetzen. Ein involvierter
Fachmann spricht von «experimenteller
Gesetzgebung», bei der sich dieRechts-
gelehrten nicht immer so gründlich ab-
sichernkönnen, wie sie dies von Natur
aus gerne machen würden.
So lässt auch die verschärfte Corona-
Verord nung, die in der Nacht auf Diens-
tag inKraft trat,einigeFragen offen. Ins-
besondere dasVerbot von privatenVer-
anstaltungen ist auslegungsbedürftig.
Am Dienstag hat der Bund zusätzliche
Erläuterungen veröffentlicht, die auch
den Kantonen bei der Anwendung der
neuenRegeln helfen sollen.


Geburtstagsessenerla ubt


ZumVeranstaltungsverbot ist darin ein
unerwartetes Beispiel zu finden: Ein
«Fondueabend» im kleinen privaten
Rahmen sei weiterhin möglich. Aller-
dings wird sofort ergänzt, es sei wichtig,
dabei die Empfehlungen zu Hygiene
und sozialer Distanz einzuhalten. Zur
Erinnerung:Empfohlen wird grundsätz-
lich ein Abstand von zwei Metern.Dass
dies bei einemFondueplausch möglich
ist, erscheint schwer vorstellbar. Das
Beispiel sorgte auch bei kantonalenVer-
antwortlichen für Stirnrunzeln – wobei
man sich mit Kritik zurückhält, da alle
wissen, wie schwierig dieLage ist.Laut
den Erläuterungen sind auch Geburts-
tagsessen im kleinenRahmen und ähn-
liche Anlässe erlaubt.
Der Bund liefert nun eine Defini-
tion dafür, was eineVeranstaltung ist–
und folglich verboten wird: «ein zeitlich
begrenztes, in einem definiertenRaum
oderPerimeter stattfindendes und ge-
plantes Ereignis, an dem mehrerePerso-
nen teilnehmen». Die Organisation liege
in derVerantwortung einerPerson oder
Institution. Klar verboten sind: Kon-
zerte, Kongresse, Theater, Kinos, Zirkus,
Partys, Sportanlässe, Demonstrationen,
Quartierfeste, Jahr- und Lebensmittel-
märkte, Firmenjubiläen, Gottesdienste,
Generalversammlungen,Tage der offe-
nen Tür, Fahrschulkurse. Als Ausnahme
erwähnt sind «Beerdigungen im engen


Familienkreis». Ebenfalls erlaubt blei-
ben Blutspendeaktionen.
Die Erläuterungen illustrieren, dass
der Bundesrat inkeiner Weise einVer-
sammlungsverbot erlassen hat, auch
wenn dies teilweise so dargestellt wurde.
Wenn sich eine GruppeJugendlicher
mehr oder weniger spontan imFreien
trifft, ist fraglich, ob diePolizei da-
gegen vorgehen kann. Sie müsste nach-
weisenkönnen, dass es sich dabei um
eine organisierteVeranstaltung handelt.
Hier baut der Bundesrat offenkundig
auf Selbstverantwortung. Die Drohung
steht imRaum: Werden die gegenwär-
tigen Massnahmen nicht eingehalten,
kann der Bundesrat weitergehen und
Versammlungsverbote oder «Ausgangs-
sperren» aussprechen.
Viele Eltern treibt dieFrage um, was
die Kinder noch machen dürfen – jetzt,
wo siekeinen Unterricht haben. Ant-
wort des Bundes: Vom Verbot ausge-
nommen ist zum einen die private Kin-
derbetreuung durch Nachbarn oderVer-
wandte. Zum anderen dürfen Kinder
weiterhin mitKollegen abmachen und
mit diesen spielen –im Prinzip. Die Ein-
schränkung folgt sogleich: «Dabei sollte

darauf geachtet werden,dass dieAnzahl
Kinder, welche miteinander spielen oder
betreut werden, nicht zugross ist.» Emp-
fohlen wird «im Sinne einer Orientie-
rungshilfe», dass sich nicht mehr als fünf
Kinder gleichzeitig an einem Ort aufhal-
ten sollten.Für Familien ist zudem wich-
tig, dass Spielplätze offen bleiben.

Warum eineObergrenze fehlt


Auch hier zeigt sich, dass der Bundes-
rat mit seinerVerord nung primär einen
Rahmen setzen will und gleichzeitig auf
den gesunden Menschenverstand zählt.
Deshalb hat er darauf verzichtet, eine
klare Obergrenze festzulegen, die vor-
gibt, wie vielePersonen sich an einem
Ort treffen dürfen, damit der Anlass
erlaubt ist. Dies wurde teilweise kriti-
siert, weil Behörden und Bevölkerung
nicht genau wüssten, was nun gelte. In-
volvierteJuristen entgegnen, dass eine
fixe Zahl zu schematisch wäre und un-
verhältnismässige Eingriffe bewirken
könnte. In einer Einzimmerwohnung
kann ein Nachtessen zu viert schon pro-
blematisch sein, während sich in einem
Park womöglich zehnPersonen versam-

melnkönnen, ohne dieVorsichtsregeln
zu verletzen.
Der Bund liefert auch weitere Details
zur Frage, welcheLäden noch geöffnet
werden dürfen. Es gilt eineAusnahme-
klausel für alle Geschäfte, die Lebens-
mittel verkaufen sowie andere Güter
des täglichen Bedarfs wieTagespresse,
Tierfutter, Tabakwaren, Hygiene- oder
Papeterieartikel.Laut den Erläuterun-
ge n dürfen unter anderemBäckereien,
Metzgereien, Reformhäuser sowie
Wein- und Spirituosenläden offen blei-
ben. Allerdings müssen namentlich die
Bäckereien allfällige integrierte Cafés
schliessen.Dasselbe gilt für Handwerks-
und Gewerbebetriebe: Siekönnen wei-
terarbeiten,müssen aberVerkaufs- oder
Ausstellungszonen absperren, falls sie
solche haben.
Klar ist wiederum, dassreine Par-
fümerien schliessen müssen. Selbstver-
ständlich geöffnet bleiben hingegen
Apotheken, Drogerien und Arztpraxen.
Nicht ganz einfach ist die Situation für
Warenhäuser und grössere Geschäfte.
Sie müssen diejenigen Bereiche absper-
ren, in denenWaren für den nicht täg-
lichen Gebrauch angeboten werden.

Zahl der


Neuinfizierten


steigt stark an


Die Welle lässt sichlaut dem BAG
nicht stoppen, aber beeinflussen

GEORG HÄSLERSANSANO, BERN

Seit Tagen steigt die Zahl der Corona-
Kranken. Der Leiter der Abteilung An-
stec kende Krankheiten im Bundesamt
für Gesundheit (BAG), Daniel Koch,
hat am Dienstag vor den Medien eine
vielbeachtete Aussage gemacht, die
wohl auch mit der starken Belastung der
BAG-Mitarbeitenden zu tun hat:«Die
Zahlensteigen so stark, dass wir sie gar
nicht mehr richtig verarbeitenkönnen.»
Es gebe so viele Neuansteckungen, dass
es jetzt nur noch um eines gehe:in dem
Moment, wenn die ganz grosseWelle
kommt, genügend Kapazitäten für die
Betreuung zur Verfügung zu haben.
«Die Zahlen sind jetzt nicht mehr so
wichtig», antworteteKoch aufinsistie-
rende Fragen derJournalisten.

Risikogruppenschützen


Der BAG-Chefepidemiologe wieder-
holt seitTagen die gleiche Botschaft:
«Es muss uns gelingen, die Infektionen
untereinander zurückzubinden. Es muss
uns gelingen, die Risikopatienten besser
zu schützen.» In aller Deutlichkeitskiz-
zierteKoch dieLage: «Wir können das
Virus nicht stoppen, dieWelle wirdkom-
men,aber wirkönnen sie noch beeinflus-
sen.» Die Bevölkerungkönne etwas da-
für tun, die Risikogruppen zu schützen,
«indem jeder und jede schaut, dass er sich
nicht ansteckt und niemanden ansteckt.»
Der Kampf um eine flachere An-
steckungskurve dominiert unterdes-
sen alle Lebensbereiche. Für die Ge-
werbetreibenden geht es um die finan-
zielle Existenz, für vieleFamilien um
die nervenaufreibende Detailorganisa-
tion des Alltags zwischen Home-Office
und Kinderbetreuung. Die Frage etwa,
ob vielleicht bald die Spielplätze ge-
schlossen würden, zeugt von einer tie-
fen Verunsicherung der Gesellschaft.
Daniel Koch vomBAGantwortet ein-
dringlich: «Mir machen nicht die Kin-
der Sorgen, sondern die jungen Eltern,
die in Gruppen auf dem Spielplatz sind
und dann die Einkäufe der Grosseltern
nach Hause tragen.» Genau sokönne
das Virus weiterwandern.
Offenbar melden sichFreiwillige zum
Dienst in derArmee zurück.DasVertei-
digungsdepartement hat in einemTweet
das Vorgehen skizziert: Name, militäri-
sche Einteilung, ziviler Beruf undAHV-
Nummer mailen,dann wird diemögliche
Verwendungabgeklärt.Ähnlich verhält
es sich mit den per SMS aufgebotenen
Soldaten der sanitätsdienstlichen Miliz-
formationen mit hoher Bereitschaft.
Der Stabschef desKommandos Opera-
tionen, BrigadierRaynald Droz, sprach
von einemraschenRücklauf an Bestäti-
gungen,dasAufgebot erhalten zuhaben.
Gut zwei Drittel der Soldaten rückten
vorbehaltlos ein.
«Es ist unsere Pflicht, diese jun-
gen Menschen gesund zu halten», sagte
Droz weiter. Dazu gehöre der sorgfäl-
tige Check beim Einrücken oder mög-
lichst viel Platz für den einzelnen Sol-
daten in der Unterkunft. Gewisse Ein-
heiten schlafen deshalb in Hallen. Die
Armee habe aber auch«die Chance , die-
jenigen unter denJungen zu erziehen,
welche die Situation noch nicht verstan-
den haben», machte Droz klar.

«Eine hochkomplexeWelt»


Ausserdem unterstrich er noch ein-
mal das Schwergewicht dieses grössten
Einsatzes der Armee seit dem Zweiten
Weltkrieg:Alle Spitalsoldaten und Sani-
täter werden zugunsten des zivilen Ge-
sundheitswesens eingesetzt. Selbst vom
Wachtdienst seien sie deshalb befreit,
dies übernähmen unter anderem die
Infanteristen,erklärte der Stabschef des
Kommandos Operationen den Medien:
«Die Kampftruppen unterstützen die
Sanität.Wer hätte das gedacht.Wir le-
ben in einer hochkomplexenWelt.»
Die Zahl der positiv getesteten
Krankheitsfälle belief sich am Mittwoch
auf 2650.Das BAGpublizierte den letz-
ten Stand nach dem Mittagessen.

Spielplätzewerden nicht ganzverw aisen. Kinderdürfen sichweiterhinzum Spielentreffen – aber nur inkleinerZahl. KARIN HOFER/NZZ

Erstes Zentrum für Corona-Schnelltests


Der KantonBern eröffnet nächste Woche ein Drive-in für bis zu 1000Corona-Abklärungentäglich


CHRISTOF FORSTER, BERN


Das Mantra derFachleute lautet in die-
sen Tagen: Tests, Tests, Tests. Das sei ein
wirksamesMittel,umdieAusbreitungdes
Coronavirus zu verlangsamen. Als Bei-
spiel dient Südkorea,das breitflächig tes-
tet. Diese Strategie habe dazu beigetra-
gen, die Ansteckungsraten imLand zu
dämpfen.Südkorea macht 4070Tests pro
Million Einwohner. In Italien liegt diese
Rate bei 1005, in der Schweiz bei 939.
Nun gehen zwei Kantone in die Of-
fensive und bieten neueTestmöglichkei-
ten an.Im KantonBasel-Landschafttes-
ten mehrere mobileTeams Personen mit
Symptomen in deren gewohntem Um-
feld. Dieses Angebot ist für Menschen
mit Behinderungen oderVorerkrankun-
gen gedacht.Zuvor muss allerdings wei-
terhin der Hausarztkontaktiert werden.
ZumTeam gehören eine Pflegefachper-
son, ein «Saubermann», zuständig für die
Desinfektion,und einFahrer. Die mobi-
len Teams ergänzen die beiden neuen
Abklärungsstationen, die am Mittwoch
geöffnet werden.Dazu werden einKul-
tur- und Sportzentrum (Münchenstein)


und eine Mehrzweckhalle (Lausen) um-
genutzt. DieTestkapazität im Kanton
wird damit nicht erhöht.

Der Standort istnoch offen


EinenanderenWeg gehtder Kanton
Bern. DerRegierungsrat hat am Mon-
tag denAufbau vonTestzentren be-
schlossen,die mit demAuto und zuFuss
gut erreichbarsind.Es wird auch mög-
lich sein,sich im Auto einen Abstrich
machen zu lassen (Drive-in). Bereits
nächsteWoche wird eine solche Einrich-
tung amRande der Stadt Bern eröffnet.
Der Standort ist noch offen,eine Option
ist das Bernexpo-Gelände neben dem
Wankdorf-Fussballstadion. Die Hirs-
landen-Gruppe stellt Ärzte und Pflege-
personal zurVerfügung. Weil die Spitä-
ler der Gruppe nichtdringende Eingriffe
verschoben hätten,stehe medizinisches
Personal zurVerfügung, sagt Gundekar
Giebel von der Berner Gesundheits-
direktion.Das Diagnostiksystem liefert
Roche, das mittels eines neuen maschi-
nellenVerfahrens die Kapazitäten mas-
siv ausbauen kann.

Die Testanlage wird in einem Zelt
oder Container aufgebaut. Um zusätz-
liche Ansteckungen zu vermeiden, ist
eine sorgfältigeTriage wichtig. In einer
Reihe werdenPersonen mitSymptomen
wie Husten undFieber getestet. Eine
zweiteReihe ist gedacht für Leute, die
zu einer Risikogruppe gehören. Perso-
nen ohneSymptome, die nicht zu einer
Risikogruppe gehören,werden nicht ge-
testet. Sie werden angehalten, wieder-
zukommen, falls sichSymptomeent-
wic keln. Sie erhalten bei BedarfAus-
kunft über die Krankheit und ihre Zei-
chen.Personen mit starkenSymptomen
werden direkt an die Spitäler verwiesen.
Ob die Anlage rund um die Uhr in
Betrieb sein wird, stehtnoch offen. Dies
hängt auch von den verfügbaren Perso-
nalressourcen ab. Die Abstriche kom-
men ins Berner Inselspital, wo sie aus-
gewertet werden. Dortkönnen proTag
800 bis 1000 Proben aus dem Zentrum
analysiert werden. Sie ergänzen die be-
stehendenTestkapazitäten des Insel-
spitals. Noch am gleichen Tag erhalten
die Getesteten ihrResultat. Sie soll-
ten sich bis zum Bescheid wieder nach

Hause in die Quarantäne begeben.Wer
die Tests bezahlt,ist noch nichtgeregelt.

Entlastungfür Arbeitsmarkt


Vom Testzentrum erhofft sich der
KantonBern eine Entlastung für den
Arbeitsmarkt.Wer nachein em negati-
ven Test die Gewissheit hat, nicht mit
dem Coronavirus infiziert zu sein, darf
sofort wieder arbeiten. Gerade in Bran-
chen,indenenkeineHeimarbeitmöglich
ist, kann dies dazu beitragen, Engpässe
zu vermeiden. Zudem erhalte der Kan-
ton Informationen über möglicheViren-
herde undkönne solcheRegionen unter
Quarantäne setzen, sagt Giebel.Falls
man in Bern gute Erfahrungen macht,
sollen in zwei bis dreiWochen auch in
Biel undThun solcheTestzentren auf-
ge baut werden. Die Anlagen schliessen
eine Lücke,weil mansich dort testenlas-
sen kann, ohneandere zu gefährden.
Die Schweiz kann derzeit proTag
2500 Corona-Tests machen. Die Kapa-
zitäten würden laufend ausgebaut, sagte
Daniel Koch,oberster Seuchenbekämp-
fer des Bundes, am Dienstag.
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