Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

14 ZÜRICH UNDREGION Mittwoch, 18. März 2020


ANDRÉ MÜLLER


Stimmt hier etwas nicht? In Männedorf
blühen derzeit dieForsythien undFel-
senbirnen.Aus demWartezimmer der
Hausarztpraxis vonTobias Burkhardt
erhascht man einen wunderbaren Blick
auf den See und den wolkenlosenFrüh-
lingshimmel.Auch drinnenkönnte man
fast meinen, es sei ein ganz normaler
Arbeitstag für die drei Assistentinnen
und den Hausarzt.
An denWänden hängen dieselben
Plakate wie immer:«Wenn Sie Anti-
biotika erhalten.. .» steht auf einem,
«Rede über Organspende» auf dem
zweiten. Doch seiteinigenWochen
hängt daneben ein drittes Plakat; eine
tiefrote Mahnung, sich die Hände zu
waschen und richtig in die Armbeuge
zu niesen.
Der Kanton Zürich zählt am Diens-
tag bereitsrund300 bestätigte Corona-
Fälle. Das Viruskommt daher nicht nur
an den Spitälern, sondernvermehrtauch
in den Hausarztpraxen des Kantons an.
Seit einem Strategiewechsel der Ge-
sundheitsdirektion werden sie für viele
Verdachtsfälle die erste Anlaufstelle:
Seit Montag vergangenerWochekön-
nen Hausärzte selbständig dieTests auf
Sars-Cov-2 durchführen, rund 90 im
Kanton Zürich tun es auch.Sie sollen
insbesondere die Spitälerentlasten, die
in der jetzt anrollendenPandemie mit
den schwerenFällen mehr als genug zu
tun haben werden.


Telefon klingelt im Minutentakt


Die Abläufe in der Praxis vonTobias
Burkhardt sind dafür längst fest-
gelegt. Noch herrscht aberRuhe vor
demSturm: Bis Anfang dieserWoche
hat Burkhardt erst fünf Corona-Tests
durchgeführt.Das Virus hält vor allem
diedrei Praxisassistentinnen aufTr ab.
Zeitweise klingelt dasTelefon am Emp-
fang fast im Minutentakt.Viele «nor-
male»Patienten wollen wissen, ob sie
ihreRoutinekontrolle wahrnehmen sol-
len. «Allein vier von ihnen haben ihre
Termine an diesem Morgen schon ver-
schoben wegen des Coronavirus», sagt
PraxisassistentinRegulaBänziger.
Wie ihreKolleginnen arbeitet sie
auch für das Ärztefon, die kantonale
Hotline für alle, die befürchten, sich
mit demVirus infiziert zu haben. Die
Anrufe hätten hier stark zugenom-
men,sagt sie. Bänziger muss ihnen die
Standardprozedur erklären:Wer keine
schweren Symptome hat und kein
Risikopatient ist, wird nicht getestet.


Er solldieKrankheit,welche immer es
ist, zu Hause auskurieren.
DiePatienten, die Burkhardt an die-
sem Morgen empfängt, sinddagegen er-
staunlich abgeklärt. Sei es, weil sie viel
Lebenserfahrung mitbringen; sei es, weil
sie mit noch gefährlicheren Krankheiten
kämpfen. Es sindPatienten wie der Se-
niorJakob Weger*: Er hat seit einigen
Jahren Krebs, und es sieht nicht gut aus.
Vor wenigen Monaten unterzog er sich
erneut einer Chemotherapie, dochsie
schlug nicht richtig an. Burkhardt fragt
nach der Blasenentzündung; ob dasWas-
serlassen Probleme bereite. Die Entzün-
dungswerte im Blut sind nicht gut.
Es klingt banal: Mit dem neuenVirus
sind die anderen Krankheiten natürlich
nicht aus dem Leben von Burkhardts
Patienten verschwunden. Er muss wei-
terhin für sie da sein; sie beraten, behan-
deln und beruhigen.

Geübtin Katastrophen


Mit seinen 48Jahren strahlt Burkhardt
die Seriosität aus, die man von einem
Hausarzt erwartet. Dennoch hat er sich
etwasJugendliches bewahrt. Bei der
Besprechung mitWeger kippt er den
rechtenFuss zur Seite, sodass über den
schwarzen Lederschuhen die dunklen
Socken mit weissen Punkten zumVor-
scheinkommen. Sie passen perfekt zur
Krawatte, die Burkhardt unter dem
weissen Kittel trägt. Die Untersuchung
bei HerrnWegergehenArzt undPatient
routiniert an. «Haben Sie Flanken-
schmerzen?» – «Nein.» Burkhardt tas-
tet denBauch ab. «Tutes hier weh?»–
«Nein, gar nicht.»
Weger ist wegen seines Alters und
der Krebserkrankung natürlich ein
Hochrisikopatient. Das ist ihm bewusst:
«Wir sindkonsequent und gehen nir-
gendwo mehr hin», sagt er. SeineFrau
kaufe jetzt ein. Seine Enkel, die er sonst
regelmässig hütet und zum Mittagessen
bei sich hat, darf er vorerst nicht mehr
sehen. «Der Schwiegersohn hat Schiss,
dass er mich ansteckenkönnte, weil er
beruflich viel unterwegs ist. Erkommt
daher auch nicht mehr vorbei.»
Dass dieFamilie wegen desVirus
nicht bei ihm sein kann – «ja, das ist
schon schwer», sagtWeger. Doch man
müsse zuversichtlich sein. «HerrWeger,
amFreitag möchte ich Sie wiedersehen»,
sagt ihm Burkhardt zum Abschied. Es
gilt, die Blutwerte zu überprüfen, die
Antibiotika gegen die Entzündung
richtig einzustellen.Weger nickt, ver-
abschiedet sich und geht bedächtig zur
Tür. Das Wartezimmer hat sich inzwi-

Zwischen


Virentest und


Krebstherapie


Hausarzt Tobias Burkhardt darf ob der Corona-Krise


seine «normalen» Patienten nicht vergessen


Der Abstrich wird inein Transportmedium gegeben, verschlossenund ins Labor geschickt. BILD ER CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ

Medizinstudenten bieten den Spitälern ihre Hilfe an


jhu.· Die Zahlen steigen auch im Kan-
ton Zürich steil an. Gemäss den An-
gaben der Gesundheitsdirektionvom
Dienstag wurdenim Kanton 294 Perso-
nen positiv auf das Coronavirus getes-
tet. Die Spitäler rüsten sich bereits für
den grossenPatientenansturm, der in
den nächstenTagen undWochen erwar-
tet wird.Dazureduzieren sie einerseits
die Arbeitslast – auf Anordnung der Ge-
sundheitsdirektion dürfen die Spitäler
ab Samstagnur noch dringend notwen-
dige medizinische Eingriffe vornehmen.
Andererseits stellen die Spitäler zu-
sätzlichesPersonal ein.Das Kantons-
spitalWinterthur hat per InseratPer-
sonen gesucht, die temporär aushelfen
könnten.Weit über 60 Bewerbungen
seien bereits eingegangen, sagt Spital-
sprecher André Haas auf Anfrage. Im
Fokus stehen ausgebildete Pflegefach-
personen mit Erfahrung im Bereich
Akutspital. Willkommen seien aber auch
Medizinstudenten, die als Pflegehilfen


eingesetzt werdenkönnten. Die Arbeits-
last sei schon jetzt sehr hoch, allein am
Montag liessen sich 127Personen testen,
am Dienstag dürften es nochmals gegen
80 Personen gewesen sein.
Nach Medizinstudenten suchtauch
das Zürcher StadtspitalTr iemli. Gemäss
derAusschreibung umfasst derAufga-
benbereich einfache klinische Tätigkei-
ten, Unterstützung der Pflege, Beglei-
tung vonPatienten und Besuchern so-
wie logistische und organisatorische
Aufgaben.DieEntschädigung beläuft
sich auf 900Franken im Monat, «inklu-
sive der grenzenlosenDankbarkeit des
Tr iemlis und der betroffenenPatienten»,
wie es im Schreiben an die Studenten
heisst. ÜbersWochenende hätten sich
bereits zahlreichePersonen beworben,
sagt die Sprecherin MariaRodriguez.
«Vorerst verzichten wir aber auf den
Einsatz von pensionierten Ärzten und
Pflegefachpersonen, daauch diese zur
Risikogruppe gehören.»

Auch die Studenten selbst haben sich
organisiert und bieten ihre Hilfe an. Der
St aatsverein, der sonst für die Organisa-
tion undDurchführung des Staatsjahres
der MedizinischenFakultät Zürich zu-
ständig ist, hat die am stärksten betrof-
fenen Institute des Universitätsspitals
(USZ) angeschrieben.Gemeinsam er-
arbeiteten sie ein Schulungsprogramm.
Die spontane Bereitschaft der Studie-
renden aus dem 6. Studienjahr sei über-
wältigend, schreibt dasUniversitäts-
spital auf Anfrage. «Sie wollen helfen,
trotz den Staatsexamen, diein wenigen
Monaten stattfinden.»
Die ersten rund 100Freiwilligen wur-
den letzteWochegeschult undsind be-
reits seit Montag im Einsatz. Mittler-
weile hätten sich weit über 200 zusätz-
licheFreiwillige aus allen Studienjahren
gemeldet, schreibt das Spital.Auch aus
den Pflegeberufen seien zahlreiche Mel-
dungen eingegangen. «Es ist toll, dieses
Engagement zu sehen, ebenso die un-

glaubliche Einsatzbereitschaft unse-
rer eigenen USZ-Mitarbeitenden über
alle Berufe und Spezialisierungen hin-
weg.» Die Pflege sucht nach Pflegefach-
personen mit Praxiserfahrung oder in
Ausbildung, für Einsätze in den pflege-
rischen Bereichen.«Weil die Krise eine
gewisse Zeit dauern wird, sind wir dar-
auf angewiesen, dass sich auch in eini-
genWochen nochFreiwillige für Ein-
sätze melden», heisst es vom USZ.
Für die grosse Einsatzbereitschaft gibt
es auch Applaus von Gesundheitsdirek-
torinNatalie Rickli. In einer Medien-
mitteilung vom Dienstagabend lässt sie
sich zitieren: «Ich danke allen, die tat-
kräftig mithelfen, damit unser Gesund-
heitssystemkeinenKollaps erleidet.» Die
Gesundheitsdirektion verlangt neben der
Schaffung von Behandlungskapazitäten
auch ein systematisches Controlling, um
den Bestand und dieVerfügbarkeit von
Schutzmaterial und Intensivpflegeplät-
zen steuern zukönnen. «Das oberste Ziel

aller Bemühungen ist es, für den erwar-
teten Ansturm in ungefähr zweiWochen
genügend Intensivpflegeplätze und Be-
atmungsstationen bereit zu halten», heisst
es in der Mitteilung des Kantons.
Die Gewerkschaft VPOD fordert
«Sofortmassnahmen zum Schutz des
Gesundheitspersonals und zurAufrecht-
erhaltung des Gesundheitssystems»,
wie es in einer Medienmitteilung heisst.
Das Arbeitsgesetz dürfe nicht ausge-
hebelt werden.Konkret fordert die Ge-
werkschaft, dassPausen undRuhezeiten
eingehalten werden und gefährdete
Personen sowie über 60-Jährigenicht
in Isolationsabteilungen arbeiten oder
ihre Höchstarbeitszeiten überschreiten.
Zudem solle die Kinderbetreuung sicher-
gestellt werden. Es brauche eine bezahlte
Freistellung allerPartner vonPersonen
im Gesundheitsbereich mit Betreuungs-
pflichten. Nach der Krise seien demPer-
sonal für Überstunden Geld- oder Zeit-
zuschläge von 25 Prozent zu gewähren.

schen gefüllt, es warten schon die nächs-
tenPatienten auf ihreViertelstunde mit
Burkhardt.
Der Arzt spricht freundlich, aber
auch bestimmt mit seinenPatienten. Er
war Oberleutnant im Militär, das merkt
man ihm noch immer an: Er ist geübt
darin, Sicherheit zu vermitteln, auch
wenn dieLage ungünstig und unüber-
sichtlich erscheint.«Wir haben solche
Katastrophenfälle geübt, beispielsweise
einen Carunfall. Diese Erfahrung hilft
mir sicherlich noch.»
«Angst vor demVirus habe ich nicht
gerade – ich hoffe einfach, ich kann
noch etwas leben», sagt Elisabeth Kam-
ber*.Auch sie lässt ihre Enkel nicht
mehr in ihre Nähe. Dabei macht die

79-Jährige tatsächlich einen sehr guten
Eindruck: Sie hat «bloss» mit einer
entzündeten Gallenblase zu kämpfen.
«Falls Sie eine Lungenentzündung be-
kämen, macht es einen grossen Unter-
schied, ob Sie fit sind oder nicht», sagt
Burkhardt.«Und Sie gehen ja jeden
Tag laufen; das würde Ihnen in demFall
sicher helfen.»

Ziemlichviele sind Risikofälle


Auch der 64-jährige Gian Müller*, der
für eineKontrolle des Blutdrucks vor-
beikommt, ist nicht sonderlich beunru-
higt.Vom Alter und von seinenWer-
ten her schrammt er wohl knapp daran
vorbei, ein Risikopatient zu sein. Der

Blutdruck scheint anständig, es bleibt
Zeit für ein paarWorte zumVirus. «Sie
arbeiten auf demBau,gälled Sie?Da
arbeiten Sie draussen und oftallein,
das ist jetzt einVorteil», sagt Burk-
hardt. «Im Geschäft hatsich noch nicht
viel verändert», sagt Müller. «Wir ver-
zichten jetztauf den Handschlag.Am
Anfang musste ich mich schon zurück-
halten, aber es ist richtig so.» – «Und
die Enkel?» – «Die habe ich manchmal
gehütet, im Moment aber nichtmehr;
auch wegen meiner Schwiegermutter,
die bei uns wohnt.Wegen ihr haben wir
letzthin auch das Geburtstagsfest abge-
sagt.»– «Und Sie gehen jetzt für sie ein-
kaufen? Oder machen Sie das sowieso
schon?» – «Jetzt auf jedenFall.»
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