Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 ZÜRICH UNDREGION 15


Ausnahmezustand in den Kitas


Eindeutige Richtlinien für die Kinderbetreuung fehlen – zum Leidwesen der Eltern


NILS PFÄNDLER, LINDAKOPONEN

Seit der Bundesrat am Montagabend die
«ausserordentlicheLage» ausgerufen
hat, ist für viele Eltern unklar, wie es mit
der Betreuung ihrer Kinder weitergeht.
Die Schulen bleiben mindestens drei
Wochen zu, und es stellt sich dieFrage,
ob auch dieTagesstätten für die Kleins-
ten nächstens geschlossen bleiben.Das
ist bis heute nicht derFall. Klare Ansa-
gen von denRegierungen bleiben bis
jetzt aber aus. Wer dieVerantwortung
trägt und welche Entscheidungen trifft,
scheint unklar. DieFolge ist ein Zirkel-
schluss: Der Bund verweist auf die Kan-
tone, die Kantone auf die Gemeinden,
die Gemeinden auf die Kitas und die
Kitas wieder auf den Bund.

Vom Bund zur Kita undzurück


So liessder Bundesrat am Montag ver-
lauten, dass die Kantone für Betreuungs-
angebote zu sorgen hätten, falls Kinder
nicht privat betreut werdenkönnten.In
einer Mitteilung heisstes, die Kinder-
tagesstätten dürften nur dann geschlos-
sen werden, wenn andere geeignete Be-
treuungsangebote bestünden.
Aufseiten des Kantons Zürich sagte
Bildungsdirektorin Silvia Steiner (cvp.)
gleichentags, dass in den Kitas Kinder
von Eltern in «systemrelevanten Be-
rufen»Vorrang hätten. Doch auch sie
schien sich der Sache nicht ganz sicher
zu sein.«Wenn dieKitas zumachen, was
ich nicht hoffe, werden wir ein anderes
Betreuungsangebot sicherstellen müs-
sen», sagte dieRegierungsrätin,alle r-
dings ohne auszuführen,wie ein solches
Angebot aussehenkönnte. Nur so viel:
Die Gemeinden arbeiteten mit Hoch-
druck daran, eine Lösung zu finden.
Mit der Stadt Zürich meldete sich
am Dienstag die grösste Gemeinde des
Landes zuWort. DieFormulierungen
in der Medienmitteilung blieben aber

vage: Die Anzahl betreuter Kinder sei
«nach Möglichkeit» zureduzieren und
Betreuungsplätze «primär» Eltern zur
Verfügung zu stellen, deren Anwesen-
heit am Arbeitsplatz zwingend erforder-
lich sei. «In erster Linie» seien dies Müt-
ter undVäter im Gesundheitswesen.
Die Kinderkrippen wiederum ste-
hen im Spannungsfeld zwischen Sicher-
heit undVerantwortung, Solidarität und
Wirtschaftlichkeit. Der Branchenver-
band Kibesuisse verzichtete am Diens-
tag auf Anfrage auf eine offizielle Stel-
lungnahme. Im Merkblatt auf seiner
Homepage verweist er auf die Empfeh-
lungen des Bundesamts für Gesundheit


  • womitsich der Kreis wieder schliesst.
    Für die Eltern sind die Umstände
    häufig problematisch. Die Massnahmen
    gegen dieVerbreitung des Coronavirus
    haben ihren Alltag von einemTag auf
    den anderen auf denKopf gestellt.Weil
    Home-Office und Betreuung kaum zu
    vereinbaren sind, leidet entweder der
    Job oder das Kind. Je nach Anstel-
    lungsverhältnis müssen einige zudem
    mit Erwerbsausfällenrechnen. Dazu
    kommt:Laut dem Communiqué der
    Stadt Zürich tragen sie die Betreuungs-
    kosten weiter, auch wenn sie sich selber
    zu Hause um ihr Kind kümmern.
    Die Situation der Elternkönnte sich
    aber bald verbessern. AndréWoodtli,
    Amtschef des kantonalen Amts für
    JugendundBerufsberatung, erwartet
    in dieser ausserordentlichenLage ein
    finanzielles Entgegenkommen seitens
    der Krippen. Diese wiederumkönnten
    eine Abgeltung vom Bund, Kanton oder
    den Gemeinden erhalten, sagtWoodtli
    auf Anfrage. Abklärungen seien dies-
    bezüglich im Gange.
    DerAmtschef appelliert so lange
    an die Eigenverantwortung der Eltern.
    Ihnenempfiehlt er, ihre Kinder selber zu
    betreuen oder kleinräumige Selbsthilfe
    zu organisieren. Die Ansicht scheine
    sich in der Bevölkerung durchzusetzen,


dass weniger Sozialkontakte dieAus-
breitung desVirus verzögerten und das
Gesundheitssystem schonten.
Auch der Stadtzürcher Sozialvor-
steher Raphael Golta (sp.) setzt auf
die Solidarität der Eltern.«Im Einzel-
fall können wir nicht überprüfen, ob je-
mand tatsächlich einen Betreuungsplatz
braucht oder nicht», sagt er. Die Stadt
könne den Eltern auch nicht verbieten,
ihr Kind weiterhin in dieKita zu brin-
gen. Aber:«Wenn wirdas Betreuungs-
system aufrechterhalten wollen, ist es
entscheidend, dass wir die Zahl der Kin-
der minimierenkönnen.»

Betreuerinnen fallen aus


Genaue Zahlen fehlenzwar, laut Golta
werden aber bereits deutlich weniger
Plätze beansprucht als normal. «Social
distancing» und die vom Bundesamt
für Gesundheit verordneten Massnah-
men lassen sich bei kleinen Kindern
aber auch so nicht durchsetzen. Be-
treuerinnen und Betreuer, die einer
Risikogruppe angehören, fallen aus. Es
sei damit zurechnen, dassAusfälle des
Personals aufgrund gesundheitlicher
Einschränkungen oder von Betreu-
ungspflichten zunehmen würden, heisst
es bei der Stadt weiter.
Als private Organisationen steht
es den Kitas frei, selbst zu entschei-
den, ob sie schliessen möchten oder
nicht.«Wenn die Qualität etwa wegen
Personalausfällen unter das absolute
Minimum sinkt, istes sicher sinnvoll,
keine Kinder mehr aufzunehmen», sagt
Golta.Die Stadt wolle denBetrieben
bei Liquiditätsengpässen aber finanziell
un ter die Arme greifen.Auch die Zah-
lungen von Subventionen von bestehen-
den Betreuungsplätzen würden fort-
gesetzt. Zuallererst gelte es das Kinds-
wohl zu wahren.Trotzdem:Solange es
keine Alternativen gebe, seien dieKitas
in derVerantwortung.

Ein Mann lässt si ch in der Praxisauf Covid-19 testen und von Burkhardt beraten.


Als Letzter vor der Mittagspause ist
Helmut Rieder* angemeldet; er zeigt seit
einigenTagen deutlicheSymptome, die
denjenigen von Covid-19 entsprechen.
Der Mittfünfziger ist alsLangstrecken-
läufer in hervorragenderkörperlicher
Verfassung, wegen einerVorerkrankung
aber ein Risikopatient. Sein ersterTest
hattekein eindeutiges Ergebnis gezeigt,
daher ist er nochmals aufgeboten.
Der Ablauf hat sich schon eingespielt:
Die Assistenz bestellt dieVerdachts-
fälle jeweils zuRandzeiten in die Pra-
xis; untersucht werden sie dann in Zim-
mer 2, während Untersuchungszimmer 1
für alle anderenPatienten frei bleibt. An
diesem Mittag sind die anderenPatienten
längst weg. Helmut Rieder wartet gedul-
dig vor derTür, RegulaBänzigerkommt
ihm mit einer frischen Gesichtsmaske
entgegen. Er muss das kleine Metallstück
über der Nase satt andrücken, damit die
Maske auch wirklich dicht hält.
Rieder hustet tatsächlich ziemlich
stark, aber jeweils vorbildlich in die
Armbeuge. Er wirkt ruhig und gefasst
und lässt den Abstrich klaglos übersich
ergehen. Die Prozedur ist unspektaku-
lär, aber nicht sehr angenehm: Ein Stäb-
chen wird durch dieNase eingeführt, es
kitzelt oder schmerzt und kann einen
Niesreiz auslösen. Die Probe wird in ein
Transportmedium gegeben, verschlos-
sen und insLabor geschickt.


Sparsam mit Desinfektionsmittel


Die Verpackung des Tests entsorgt
Burckhardt, ohne dass er dafür denKü-
bel oder den Griff anfassen muss. Die
Oberfläche desTisches wird gründlich
desinfiziert. Der Probebehälter selbst,
die Gummihandschuhe für die Unter-
suchung – alles wird so behandelt, als sei
es vomVirus kontaminiert. ImLabor, wo
RegulaBänziger Blut entnimmt, ist ein
schwarzerKugelschreiber als «Corona»-


Stift markiert. Er wird nur dafür ver-
wendet, die verschlossenen Couverts der
Laborproben gross mit dem Schriftzug
«Corona» zu beschriften – damitder Ku-
rier und dasPersonal imLabor auf den
ersten Blick wissen, womit sie es zu tun
haben. Es sind alles aufwendige Abläufe
mit hohem Materialverschleiss. Aber die
Gesundheit geht vor.
Burkhardt nutzt für die Prozedur
im Übrigen einfache chirurgische Mas-
ken. «Dasreicht aus, sofern man nicht
sehr stark exponiert ist, wie beispiels-
weise bei einer Lungenspiegelung oder
bei einem intubiertenPatienten im Spi-
tal.» Er fühle sich auf jeden Fall wohl
dabei. «Aberes ist klar:Wir hätten auch
gar nicht genug FFP-2-Masken für alle.»
Aus demselben Grund geht er auch
sparsam mitdemDesinfektionsmittel
um, es dient in der Praxis vor allem dem
Personal, sich zu schützen.

Vom Kanton gut informiert


Burkhardt hat seine Praxis an der Glär-
nischstrasse vor elfJahren von seinem
Vater übernommen, dieser hatte sie 1978
gegründet. «Auch ich habe nochnie
eine solche Situation erlebt. Niemand
hat das», sagt er. Es sei eigentlich nichts
Neues, dass sie als Ärzte über Leben und
Tod entschieden und sich dieFrage stell-
ten, welche Behandlung bei welchem
Patienten noch angezeigt sei. Die Menge
an Corona-Fällen, die je nachVerlauf zu
erwarten sei,könne das Gesundheits-
system aber an seinen Anschlag bringen.
Das sei tatsächlich besorgniserregend.
«Grundsätzlich sind wir aber gut in-
formiert durch den Kanton», sagtTobias
Burkhardt, auch wenneinigeKollegen
das zunächst anders wahrgenommen
hätten. Die Logistik zurVerteilung der
Schutzmasken funktioniere etwa.

*Namen aller Patie nten geändert.

Der Bund bestimmt über Zürcher öV


Regierungsrat wehrt sich vergeblich gege n Einschränkungen bei S-Bahn, Tram u nd Bus


STEFANHOTZ

Am Montagabend erklärte sich der
ZürcherRegierungsrat einverstanden
mit der vom Bundesrat ausgerufenen
«ausserordentlichenLage»: Er werde
die beschlossenen Massnahmen zur Ein-
dämmungdes Coronavirusrasch und
konsequent umsetzen. In einem Punkt
weicht er jedoch ab. Die am gleichenTag
angekündigteAusdünnung des öffent-
lichenVerkehrs (öV) in der Schweiz sei
aus Sicht des Kantons Zürich der falsche
Weg, sagteFinanzdirektor Ernst Stocker
(svp.) an der Medienkonferenz, noch in
Unkenntnis der Beschlüsse in Bern zum
öV. Das habe man dem Bundesrat auch
signalisiert.
Nützen wird das wenig. Der Bund
kann nämlich, um seineVorstellungen
in einem Notstand durchzusetzen, die
Bundesbahnen und diePostautoAG
als Hebel einsetzen. Grundlage ist eine
Bestimmung, von der die Öffentlichkeit
bis anhinkeine Notiz genommen hat:
die Verordnung über dieKoordination
des Verkehrswesens im Hinblick auf Er-
eignisfälle (VKOVE), die jetzt erstmals
zur Anwendungkommt. Ein solcher Er-
eignisfall ist mit derPandemie eingetre-
ten.Laut der imJuli 2016 geänderten
Fassung sind nach Artikel 5 beauftragte
Organisationen, welche als sogenannte
«Systemführer» die Massnahmen auf
operativer Ebenekoordinieren, neben
dem Bundesamt für Strassen eben die
SBB für alleBahnen sowiePostauto für
Bus- undTrambetriebe.

Passagierzahlensinken weiter


«Wir müssen die vom Bund beschlosse-
nen Massnahmen umsetzen», heisst es
tags darauf illusionslos beim Zürcher
Verkehrsverbund (ZVV). Stocker be-
gründete seinen ziemlich heftigen Pro-
test ökonomisch. Der öV bleibe auch

in der jetzigen Situation dasRückgrat
der ZürcherWirtschaft.Werde er ausge-
dünnt, seien die Strassen überlastet, und
die Arbeitnehmenden würden kaum
noch in die Betriebe kommen. Der
Bund geht davon aus, dass sich diePas-
sagierzahlen im öV, die bereits um bis zu
50 Prozent gesunken seien, weiterredu-
zieren werden.Ausserdem sei mitPerso-
nalengpässen zurechnen, wennÖV-Mit-
arbeitende wegen Krankheitssympto-
men oder fehlender Kinderbetreuung
der Arbeit fernbleiben müssten.
Der ZVVverfügt noch überkeine
verlässlichen Zahlen, wie stark diePas-
sagierfrequenzen in seinem Gebiet ge-
sunken sind. Zwar werdenregelmässig
in einemTeil der Züge und Busse die
Fahrgäste gezählt. Doch die Messun-
gen dieserTage müssen erst ausgewer-
tet werden. EineAuflageaus Bern ist
einfach umzusetzen:Das Nachtnetz, für
das ohne offene Lokale derzeitkein
Bedarf mehr besteht, wird ebensoein-
gestellt wie die speziellen Züge zur
Hauptverkehrszeit.

Neuer Fahrplan in kurzer Zeit


Allerdings sollte dieAusdünnung des
Fahrplans nicht dazu führen, dass es
in einzelnen Zügen wieder zu viele
Fahrgäste hat, was den Abstandsregeln
widerspräche. Deshalb werden derzeit
die Züge der S-Bahn ausserhalb der
Hauptverkehrszeit nicht verkürzt.Die
Forderung aus Bern, bis Mitte nächster
Wochevom Halbstunden- zumStun-
dentakt zu wechseln, lässt sich zwar auf
der Linie imTösstal einfach umsetzen.
Aber zwischen dem Oberland und Sta-
delhofen kann man, um aus demVier-
tel- einen Halbstundentakt zu machen,
nicht ohne weiteres die S5 oder die
S 15 streichen, weil diese Linien auch
noch das Unterland und das Knonauer
Amt bedienen.

Seit heute morgen arbeiten die Planer
im ZVV mit Hochdruck aneinem neuen
Fahrplan. Was im Normalfall mehrere
Monate in Anspruch nimmt, soll nun in
wenigenTagen gelingen.Das gilt ebenso
für die Busbetriebe und dasTram. Der-
zeit tage der Einsatzstab, heisst es in den
städtischenVerkehrsbetrieben (VBZ),
die, reichlich ungewohnt, plötzlich unter
der «Systemführerschaft» von derPost-
autoAGstehen.
Auf jedenFall müssen sich dieFahr-
gäste laut dem ZVV auf mangelnde An-
schlüsse einstellen, dass also nach der
Ankunft in einemBahnhof nicht immer
der gewünschte Bus nahtlosweiterfährt.
Es wirdgeraten, öfter den Online-Fahr-
plan zukonsultieren. Ein derartkom-
plexesSystem wie die Zürcher S-Bahn
umzumodeln ist, auch wenn danach
weniger gefahren wird, eine enorme
Herausforderung.
Abgesehen wird davon, einfach jeden
zweitenKurs imFahrplan zu streichen.
Zürich wird von einer Möglichkeit
Gebrauch machen, die in der Mittei-
lung des Bundes vom Montag ausdrück-
licherwähnt wird. Demnach kann jeder
Kanton begründeteAusnahmenvon
einer geplanten Streichung imTaktfahr-
plan beantragen.
Die Geschichteentbehrt nicht einer
gewissen Ironie. Vor wenigenJahren
versuchte der Bundesrat, miteinerGe-
setzesänderung das Bundesamt fürVer-
kehr (BAV) als «Systemführer» für den
öV in der Schweiz einzusetzen. Die Kan-
tone wehrten sich unter ZürcherFüh-
rung erfolgreich. 2017 strich dasParla-
ment denPassus. Präsidentin der natio-
nalrätlichenVerkehrskommission war
damals NatalieRickli (svp.), die nun als
Zürcher Gesundheitsdirektorin gegen
die Pandemie kämpft. Mit dem Corona-
virus übernimmt nun der «System-
führer» inForm von SBB undPostauto
vorübergehend doch das Zepter.
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