Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

16 ZÜRICH UND REGION Mittwoch, 18. März 2020


1890 endete das Virus auf dem Scheiterhaufen


An der «russischen Grippe » starben Hunderte Zürcher – am Sechseläuten wurde sie dann vertrieben


ADI KÄLIN


Es ist erstaunlich, wie die Situation von
1889/90jener von heute gleicht: Fast
täglich berichteten schon damals die
Medien über neuste Entwicklungen der
Influenza-Pandemie in allerWelt. Die
Ärzte und das Gesundheitswesen waren
überfordert,zu Beginn wusste man noch
gar nicht, ob man es mit Denguefieber,
Cholera oder möglicherweiseTyphus
zu tun hatte. Erst allmählich wurde klar,
dass die Influenza grassierte und sich
schliesslich vonRussland aus über die
ganzeWelt verbreitete.


Schreckensmeldungen frei Haus


Die regelmässigen Berichte der
«Zürcherischen Freitagszeitung» ge-
ben uns heute noch einen Eindruck,
wie Herr undFrau Zürcher denLauf
der neuartigen Krankheit damals ver-
folgen konnten. Am 13. Dezember
1889 las man über «die inRussland
herrschende Epidemie». Vermutungen
wurden auch über eine gleichzeitig in
Paris auftretende Krankheit angestellt:
«Ein epidemischesFieber (die Influ-
enza?) soll bei den Magazinangestell-
ten des LouvreinParis grassieren und
deren 400 gepackt haben.» Nun gab es
jedeWoche neue Schreckensmeldun-
gen frei Haus:


„13. Dezember 1889:«Die Influenza
hat inPetersburg in wenigenWochen
eineAusdehnung und Heftigkeit er-
reicht, wie sie von der jetzigen Genera-
tion noch nicht erlebt worden ist.»


„20. Dezember:«In allen grossen Städ-
ten Deutschlands ist die Influenza einge-
zogen.» – «In Unterstrass erkrankte ein
Ehepaar an Influenza; der Mann war in
Paris in den Magazinen des Louvre.»


„28. Dezember:«Selbst derKaiser
littanInfluenza, ist aber wieder her-
gestellt.» – «Baselstadt: Schliessen aller
Schulen wegen der Influenza.»


„4. Januar 1890:«Die Herren Bundes-
räthe hatten alle die Influenza und ver-
sandtenkeine Neujahrsgratulationen.»–
Der Orientalist Alfred von Kremer starb
in Wien «an denFolgen der Influenza, in-
dem er zu früh wieder ausging». – Wei-
tereFälle werden aus Spanien,Portugal
und aus den USA gemeldet.


„10. Januar: «In NewYork liegen
ihrer 100 00 0 an der Influenza darnie-
der.» –«VieleTodesfälle in der Stadt
Bern durch Influenza und Lungenent-
zündung.» – «InParis ist die Influenza
am Abnehmen, doch gibt es noch immer
vieleTodesfälle.»


„17. Januar:«Mehrals 450 000 Perso-
nen sind inWien an der Influenza krank
gewesen.»

„24. Januar:«Auch derPapst ist an
der Influenza erkrankt.»

Und in Zürich? In den Zeitungen liest
man wenig, dasAusmass der Epidemie
wird aber deutlich aus einem Bericht des
Regierungsrats an das Departement des
Innern vom 28.Februar. Darinheisst es,
die Amtsärzte hätten berichtet, in ihren
Bezirken seien «30, 40, ja über 50 Pro-
zent der Bevölkerung in mehr oder
weniger hohem Grade von der Influ-
enza befallen worden». SechsWochen
lang sei die Epidemie «in einerAus-
dehnung, mit einer Hartnäckigkeit und
schliesslich Bösartigkeit aufgetreten, die
alle Erwartungenresp. Befürchtungen
unseres Sanitätsrathes weit hinter sich
zurückliessen».
Die Ärzte seien überlastet gewesen,
weshalb ihnen wohl auch «nicht der
Wille, aber die Kraft» gefehlt habe, «Auf-
zeichnungen und statistische Notizen»
zu machen. Von den angefragten
220 Ärzten hatten sich denn auch nur
89 an der Umfrage desRegierungsrats

beteiligt, «was denWerth einer solchen
Statistik in hohem Masse beeinträch-
tigt, ja sozusagen illusorisch macht».
In dieser Statistik wird berichtet, dass
117 Menschen an der Influenza gestor-
ben seien.Beiweiteren184 Toten sei
«die Influenza als mitwirkende Krank-
heit anzusehen».

Normalisierungim März


Im März ist das Gröbste überstanden.
Konzerte, die verschoben wurden,kön-
nen jetzt durchgeführt werden, das
öffentliche Leben normalisiert sich.
Auch dieDurchführung des Sechse-
läuten-Umzugs vom14. April ist nicht
gefährdet – anders als bei der gegen-
wärtigenPandemie. Es gibtaberein Pro-
blem mit dem zweiten Bestandteil des
ZürcherFrühlingsfests, demFeuer und
derVerbrennung des «Bööggs». Damals
waren Umzug undFeuer noch zwei ge-
trennteVeranstaltungen, die auch von
verschiedenen Gruppen organisiert
wurden: Die Zünfte kümmerten sich um
den Umzug, eine Nachbargesellschaft
zum Kratz um dasFeuer.
Die Bewohner des Kratzquartiers
organisierten das grosseFeuer, auf dem

unterschiedliche Strohpuppen verbrannt
wurden, seit1866.Damit verbunden war
auch ein Protest gegen die Pläne der
Stadt, ihr Quartier zwischen See und
Fraumünster mit sämtlichen Gebäu-
den dem Erdboden gleichzumachen. Es
half aber nichts: Seit1880 wurderadi-
kal abgebrochen,1890 wohnte fast nie-
mand mehr im langsam verschwinden-
den Quartier.
Damit war auch das Kratzfeuer in
Gefahr:Wegen der «gänzlichen Um-
baute des Kratzquartiers» seien von
der Gesellschaft, die jährlich dasFeuer
organisierte, nur noch zweiPersonen
übrig geblieben. Im«Tagblatt» war
schon vermeldet worden,das Feuer
am Sechseläuten entfalle diesesJahr.
Darief ein «E.G.» in der NZZ dazu
auf, dass sich nun die Zünfte auch an
der Organisation desFeuers beteiligen
müssten.
Wie jedesJahr sollteauch diesmal
eine «Landplage» symbolisch als Stroh-
puppe verbrannt werden.Das Defizit
war schon einThema, ein Spielkasino
oder dieReblaus. Diesmal, so meinte
der Schreiber in der NZZ,solltees die
Krankheit sein, unter der Zürich so ge-
litten hatte: «Als zu verbrennenden

Bögg (!) erlaube ich mir dieInfluenza
vorzuschlagen.»
Nicht alle hattenFreude am vorge-
schlagenenThema. Ebenfalls in der
NZZ wandte sich ein Leser vehement
dagegen, die Krankheit, die so viele
Familien in tiefeTr auer gestürzt habe,
«zum allgemeinenJux und Gaudium»
durch die Stadt zu führen.Das sei doch
recht rücksichtslos, und an vielen Häu-
sern werde wohl der gewohnte festliche
Schmuck fehlen, «weil eben diese heim-

tückische Macht, die begafft auf dem
Wagen thront, ihren verderblichen Ein-
zug darin gehalten».
Kratzgesellschaft und Zünfte liessen
sich nicht beirren, und sokonnte die
«Freitagszeitung» am 4. April vermel-
den: «Zürich wird schliesslich doch auch
diesesJahr wieder am Sechseläuten das
althergebrachte Kratzfeuer haben. Die
Influenza zieht am Morgen hoffentlich
zumletzten Mal durch die Stadt, um
Abends dann den verdientenFeuertod
zu erleiden.»

Verbrennung ohne Erfolg


So geschahes denn auch. «Der wüste
Wintergast» wurde auf dem Kratzfeuer
verbrannt.Dank dem Hobbyfotogra-
fenRobert Breitinger, der denAufbau
desFeuers dokumentierte, wissen wir
auch, wie dieFigur aussah: Sie war eine
Mischung aus düsteremTodesengel
undVogelscheuche, auf den Flügeln in
grossen Buchstaben mit «Influenza»
beschriftet. Ab1892 übernahmen die
Zünfte übrigens definitiv auch die
Organisation desFeuers, 1902 wurde
dieseserstmals auf demTonhalle-Platz
entzündet, der1947 in Sechseläuten-
platz umgetauft wurde.
Wie der Böögg in der heutigen
Zeit nicht ganz zuverlässig denWin-
ter vertreibt, war auch nach dem
Verbrennen der Influenza-Puppe die
russische Grippe nicht ausgestanden:
Sie kam in mehreren Wellen zurück. In
Europa dürften an der Epidemie um
die 250 000 Menschen gestorben sein,
weltweitkönnten es bis dreimal so viel
gewesen sein.

Die Knacknüsse liegen im Detail


Die Stadt Zürich bewill igt die Pläne für die umstrittene Siedlung Brunaupark


ADI KÄLIN


Das Bauprojekt hat selbst für Zürich
aussergewöhnlicheAusmasse: Die CS-
Pensionskasse ersetzt vier der fünf heu-
tigen Gebäudekomplexe des Brunau-
parks im Süden der Stadt durch einen
Neubau mit 500Wohnungen. Neu wird
zudem dasLadenzentrum der Migros,
die ihreKunden während der ersten
Etappe derBauarbeiten in einem Pro-
visorium auf demBaugelände bedient.


Mehrmalsnachgebessert


Ungewöhnlich lang war auch das Be-
willigungsverfahren für das Grosspro-
jekt nach den Plänen des Zürcher Archi-
tektenAdrian Streich; im letzten März
wurde dasBaugesuch eingereicht, vor
gut einerWoche hat nun dieBausektion
des Zürcher Stadtrats, bestehendaus
André Odermatt, RichardWolff und
Filippo Leutenegger, die Bewilligung
mit zahlreichenAuflagen erteilt.


Aus einer Vorbemerkung in der
Baubewilligung wird ein wenig klarer,
warum dasVerfahren so lang gedauert
hat. DieBauherrschaft musste nämlich
mehrmals ihr Projekt nachbessern. Zum
einen stellte die Bewilligungsbehörde
Verstösse des Grenzabstands fest, was
dazu führte, dass ein Gebäude leicht ver-
kleinert und in der Höhe anders gestaf-
felt werden musste. Auch die Abstände
zu öffentlichenWegen wurden nicht
überall eingehalten; auch hier mussten
Pläne und Begleitunterlagen nachgelie-
fert werden.
Überhaupt dürfte dasThemaFuss-
undVelowege noch zureden geben.So
wirdeinVeloweg, der im Richtplan ein-
getragen ist, neu geführt – nicht mehr
durch dieTiefgarage, sondern aussen,
im östlichenTeil des Grundstücks. Das
sei eineVerbesserung gegenüber heute,
sagt zwar dieBausektion des Stadtrats.
Gleichwohlkönnte einRekurrentauf
die exakte Einhaltung des Richtplans
pochen. Als sehr spezielles Problem er-

scheint, dass wegen derTiefgarage der
unterirdische Grenzabstand zum oben
verlaufendenFussweg nicht eingehalten
ist.Wir hören zwar zum ersten Mal von
so einer Bestimmung in derBau- und
Zonenordnung, aber dasBaurecht ist ja
bekanntlich ein kaum zu durchdringen-
der Dschungel.
Kein Problem sieht dieBausektion,
was Städtebau, Gestaltung und Einord-
nung des Projekts betrifft.Weil dieses
mit dem Instrument einer Arealüber-
bauung erstellt wird, muss es verschie-
dene Bedingungen erfüllen,unter ande-
rem besonders gut gestaltet sein.Dass
dieBausektion diesals erfüllt ansieht, ist
keine Überraschung, hat sich doch das
Baukollegium der Stadt intensiv mit der
städtebaulichen Setzung der Gebäude
befasst und selber auf eine Gesamtüber-
bauung gepocht.
In derBaubewilligung ist nun die
Rede davon, dass die parallel angeord-
netenWohngebäude mit denschma-
len Gassen und den durchgrünten Hö-

fen «eine dem Ort angemessene, trag-
fähige und klug gewählte Grundlage für
die Schaffung eines neuen städtischen
Quartiers» seien. Die Gebäude erinner-
ten in mancher Hinsicht, etwa durch die
langen Zeilenbauten oder die als Mate-
rial verwendetenBacksteine, an die ehe-
maligenFabrik- undLagerhallen inWie-
dikon. DieBacksteine seien zudem eine
Referenz an die früheren Lehmgruben
in diesem Gebiet.

Und derSchattenwurf?


Weniger zufrieden ist die Bewilligungs-
behörde mit der Umgebungsgestaltung.
Diese genüge in manchen Punkten den
Anforderungen für eine besonders
gute Gestaltung noch nicht. Um dies
auch noch zu erreichen,brauchtes da
und dortRetuschen, etwa zusätzliche
Bäume in den Gassen zwischen den
Häusern.
Für einmalkein Problem ist der bei
Bauherren gefürchtete Schattenwurf;

laut demBaugesetz darf ein Nachbar-
gebäude an bestimmtenTagen nicht
mehr als zwei Stunden Schatten durch
den Neubau erhalten. Diese Zeit wird
zwar an einem Ort leicht überschritten,
ist aberkein Problem, weil das Nachbar-
gebäudekeinWohnhaus ist. Bei einer
Neuüberbauung der Nachbarparzelle
müsse aber darauf geachtet werden, dass
keineWohnungen im Bereich des Zwei-
stundenschattens entstünden, heisst es
in derBaubewilligung.
Erstaunlich viele Personen und
Verbände haben sich dieBaubewilli-
gung zusenden lassen.Sie werden nun
den 56-seitigenBauentscheid im Detail
studieren und können dann innert
dreissigTagen beimBaurekursgericht
Rekurs einlegen. Ein Detail amRand:
Die Bearbeitungsgebühr für diese Be-
willigung beläuft sich auf 300 00 0 Fran-
ken. Schreibgebühren, Verwaltungs-
kosten, Gebühren fürKontrollen, Bau-
abnahmenund Ähnlicheskommen dann
noch hinzu.

Umzug und Feuer
waren zwei getrennte
Veranstaltungen, die
auch von verschiedenen
Gruppen organisiert
wurden.

Der Scheiterhaufen für die Influenza wird aufgerichtet. Das Sechseläutenfeuer stand damals noch auf der andern Seite
der Limmat, auf demBoden des ehemaligenKratzquartiers. ROBERT BREITINGER/E-MANUSCRIPTA
Free download pdf