Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

18 WIRTSCHAFT Mittwoch, 18. März 2020


Europas Autokonzerne schliessen ihre Fabriken


Volkswagen, Fiat und PSA wollenMitarbeiter schützen und reagieren auf Nachfrageeinbruch und Störung der Lieferketten


MICHAEL RASCH, FRANKFURT


Die Autoindustrie in Europa leitet
wegen derAusbreitung des Corona-
virus den Shutdownein. Bereits am
Montag hattenFiat ChryslerAutomo-
biles (FCA) sowie die französische PSA
die Schliessung vonFabriken in Europa
angekündigt, am Dienstag zog nun der
Volkswagen-Konzern nach. DieWerk-
schliessungen sind bereits vorgenom-
men worden oder werden in den nächs-
ten Stunden undTagen eingeleitet. Sie
betreffen im Prinzip sämtliche Produk-
tionsstandorte in Europa. Zudem wird
der Volkswagen-Konzern für seine Mit-
arbeiterKurzarbeitergeld beantragen.
Am späten Nachmittag gab auchDaim-
ler bekannt, einen Grossteil der Pro-
duktion in Europa für zweiWochen zu
unterbrechen. Die globalen Lieferketten
seien nicht überall aufrecht zu erhalten.


Massive Marktverwerfungen


Mit der Schliessung vonAutofabriken
sowie vonKomponenten- und Motoren-
werken wollen die Unternehmen zum
einen ihre Mitarbeiter vor einer Anste-
ckung im Betrieb schützen, zum ande-
ren reagieren sie auf die Marktverwer-
fungen.Die Nachfrage nachFahrzeugen
geht in Europa massiv zurück, ebenso,
wie man das bereits auf dem chinesi-


schenAutomarkt in den vergangenen
Wochen gesehen hatte. Dortsind die
Verkäufe um rund 75% eingebrochen.
Auch die Lieferketten geraten zuneh-
mend in Schwierigkeiten, wenngleich es
am Dienstag vomVolkswagen-Konzern
hiess, dass sie bis jetzt nicht nennens-
wert unterbrochen seien.Von den fünf
grossenFahrzeugmärkten in Europa –
Deut schland,Frankreich, Grossbritan-
nien, Italien und Spanien – melden fast
alle eine hohe und zumTeil weiter stark
steigende Zahl von Infizierten.

Erholung könnteJahre dauern


Die Wolfsburger, die am Dienstag auch
ihre vollständigen Geschäftszahlen für
das Jahr 2019 bekanntgegeben haben,
erwarten jedoch zunehmende Schwie-
rigkeiten in der Logistik sowie ab der
kommendenWoche sogar Unterbre-
chungen der Lieferketten. Die zahl-
reichen Grenzschliessungen und ver-
stärktenKontrollen, die zuLastwagen-
staus führen, dürften die Produktion
in denWerken, die heutzutage ohne
grosseLagerhaltung erfolgt, angesichts
der internationalen Lieferwegevorerst
vor grosse Herausforderungen stel-
len, obwohl die Grenzen in Europa für
den Warentransport offen bleiben sol-
len. Das Institut für Customer Insight
(ICI) an der Universität St. Gallen er-

wartet bei einem optimistischen Sze-
nario einen Einbruch desAutomarktes
in Westeuropa um 1,6 Mio. Fahrzeuge
oder von 11% und in der Schweiz einen
solchen von 6%.
EineRückkehr derVerkäufe auf das
Vorkrisenniveau von14,3 Mio. Fahr-
zeugen inWesteuropakönnte lautFer-
dinandDudenhöffer vom ICI bis zum
Jahr 2030 dauern. Die Ursache dafür
sei nicht nur das Coronavirus. Weitere
Gründe seien die internationalen Han-
delskonflikte sowie die Umstellung auf
die Elektromobilität und das autonome
Fahren. DieKonzerne stehen weltweit
vor milliardenschweren Investitionen.
Volkswagen hat bereits vergleichs-
weise viel Erfahrung im Umgang mit
der Coronavirus-Krise gemacht, da das
Unternehmen sehr stark in China expo-
niert ist. Der Konzern hatte schon am


  1. Januar eineTask-Force für den Um-
    gang mit dem Coronavirus eingerich-
    tet. Gemessen an den derzeitigen Er-
    kenntnissen, normalisiere sich dieLage
    im Reich der Mitte wieder, sagte der
    Konzernchef Herbert Diess an einer
    Medienkonferenz, die im Internet über-
    tragen wurde. Die Produktion in China
    sei wieder angelaufen.Das Reich der
    Mitte ist für das Unternehmenaufgrund
    seiner wirtschaftlichen Bedeutung ein
    Klumpenrisiko. Inzwischen normalisier-
    ten sich dieAutoverkäufe allerdings, die


Showrooms seien wiedereröffnet und
würden von den Menschen auch auf-
gesucht.Volkswagen beschäftigt welt-
weit 670000 Mitarbeiter. Nach Unter-
nehmensangaben gibt es global 25 be-
kannteFälle einer Infizierung von An-
gestellten mit dem Coronavirus.
Geschäftlich sei ein verlässlicher
Ausblick für dasJahr 2020 nicht mög-
lich, sagte derFinanzvorstandFrank
Witter. Ganz wichtig im gegenwärti-
gen Umfeld sei das Liquiditätsmanage-
ment.Der VW-Konzern verfüge über
eine Nettoliquidität von 21,3Mrd.€
und achte bei den Geschäftsprozessen
streng auf Liquiditätsabflüsse. Für den
Gewinn vor Steuern und Zinsen (Ebit)
erwartet derKonzern im ersten Quar-
tal mindestens eine Halbierung. In den
ersten drei Monaten 2019 hatte das
Unternehmen einen Ebit-Gewinn von
4,8 Mrd. € erzielt.Finanzielle Risiken
für das Unternehmen würden letztlich
von derDauer der Krise sowie derKon-
junkturerholung nach dieser Krise ab-
hängen, sagteWitter.
In derAutobranche wird angesichts
der enormenHerausforderungen bereits
über einAussetzen der ab diesemJahr
anfallenden CO 2 -Strafzahlungen disku-
tiert und spekuliert. Die Strafen dürften
bei verschiedenenKonzernen fällig wer-
den, weil diese die Flottenvorgaben der
EU für dasJahr 2020 verfehlen. Volks-

wagen verlangt eine solcheAussetzung
bis anhin nicht. In SachenWerkschlies-
sungen macht die FCA Group für FCA
Italy und Maserati die Produktionsstät-
ten in Italien sowie jeweils einWerk in
Serbien und inPolen dicht. Bei PSA mit
seinen fünf MarkenPeugeot, Citroën,
DS Automobiles, Opel undVauxhall
wiederum sind verschiedeneWerke in
Frankreich, Spanien, Deutschland,im
VereinigtenKönigreich, in Polen, Portu-
gal und der Slowakei betroffen.

Werke schliessen bis EndeMärz


DerVolkswagen-Konzern stoppt die
Produktion in den meisten seinerWerke
in Deutschland und in Europa. Dies
dürfte nahezu sämtliche Marken betref-
fen, welche dieWerkschliessungen ein-
zeln bekanntgeben. Die letzte Schicht
soll diesenFreitag laufen, heisst es laut
Agenturberichten in einem Brief des
Betriebsrates an die Mitarbeiter. In Ita-
lien hatte derVolkswagen-Konzern be-
reits vergangeneWoche dieWerke ge-
schlossen, in Spanien stehen die Haupt-
werke seit Anfang dieserWoche still. In
Nordamerika laufen die Produktions-
stätten hingegen derzeit nochreibungs-
los. Die genannten Unternehmen gehen
vorerst vonWerkschliessungen bis Ende
Märzaus, danach wird in Abhängigkeit
von derLage neu entschieden.

Das Weisse Haus will die Geldschleusen öffnen


Der US-Kongress wird über ein Hilfspaketbefinden müssen, das Direktzahlungen an Privathaushalte umfassen soll


MARTIN LANZ,WASHINGTON


In Washington wird derzeit ein gewalti-
ges Programm zur Stützung der ameri-
kanischenWirtschaft entworfen.Finanz-
minister Steven Mnuchin sagte, die
RegierungTrump prüfe, unverzüglich
1000-$-Checks an die Bevölkerung aus-
zuteilen. «‹Unverzüglich› heisst in etwa
zweiWochen», präzisierte derFinanz-
minister. Die Massnahme istTeil eines
Hilfspakets, das einen Umfang von
1 Bio. $ erreichenkönnte, aber noch
vom amerikanischenKongress zu bewil-
ligenist. «Wir wollen sicherstellen, dass
dieAmerikanerrasch Geld in derTasche
haben und dass sich die Unternehmen
finanzierenkönnen», sagte Mnuchin.
Man sei sich der dringenden Bedürf-
nisse insbesondere von Hotels und Flug-
gesellschaften bewusst.Allein 50 Mrd. $
werden möglicherweise für die Flug-
gesellschaften bereitgestellt, die bereits


im Weissen Haus vorstellig geworden
sind. PräsidentTrump hat wiederholt
versprochen, die Branche zu 100% zu
unterstützen. «Esist nicht ihre Schuld»,
meint der Präsident.

Umstrittene Bail-outs


Allerdings sind seit derFinanzkrise sol-
che «Bail-outs» politisch heikel, vo r
allem wenn sie als Blankochecks daher-
kommen und nicht anrestriktive Bedin-
gungen geknüpft sind. Gerade die Air-
lines haben in den vergangenenJahren
zum Teil enorme Gewinne erwirtschaf-
tet. Statt diese jedoch zurückzulegen
und Polster für schwierige Zeiten auf-
zubauen, haben sie in grossem Stil Divi-
denden ausgeschüttet und eigeneAktien
zurückgekauft (siehe Grafik).
Die Hilfsmassnahmen zugunsten
von Branchen undFirmen dürften also
noch zureden geben.Weniger umstrit-

ten dürfte eine andere Massnahme sein,
welche Finanzminister Mnuchin am
Dienstag bestätigte. So soll dieFrist für
die Begleichung der Einkommenssteuer
für dasJahr 2019, die am15. April aus-
gelaufen wären, um 90Tage verlängert
werden. DerAufschub gilt für Indivi-
duen mit Steuerrechnungen von weni-
ger als 1Mio. $ und für Unternehmen
mit solchen von weniger als 10 Mio. $.
Mnuchin ermunterte allerdings die
Steuerzahler, die Steuererklärung den-
noch bis Mitte April einzureichen, auch
wenn die Steuerbehörde IRS auf die Er-
hebung vonVerzugszinsen und Bussen
verzichten werde.
Nachdem dasWeisse Haus die Situa-
tion lange verharmlost hat, ist es nun in
einen heillosenFiskal-Aktivismus ge-
kippt.Finanzminister Mnuchin spricht
von Hunderten von wirtschaftlichen
Stütz- und Stimulierungsmassnahmen,
die im Gespräch seien.Was dann aber in

eine abstimmungsreifeVorlage Eingang
findet, ist eine andereFrage. Die Lage ist
unübersichtlich, Details stehen aus, und
die genannten Beträge und Massnahmen
dürften in denkommendenTagen noch
mehrfach ändern. Beispielsweise hatte
PräsidentTrump zuerst lange einer tem-
porären Senkung oder garAussetzung
der Lohnsteuer dasWort geredet,die US-
Arbeitnehmern direkt vom in derRegel
zweiwöchentlich ausbezahlten Lohn zur
Finanzierung der Sozialwerke abgezo-
gen wird. Am Dienstag sagte der Präsi-
dent nun, eine Steuersenkung würde zu
langsam wirken und Geld müsserascher
verfügbar gemacht werden.«Wir wollen
klotzen», erklärteTrump.
Das am Dienstag vorgestelltePaket
wäre das dritte, das bisher wegen der
Corona-Krise aufgelegt wurde. Das
erste umfasste 8,3Mrd. $ an Sofort-
massnahmen zugunsten der Gesund-
heitsbehörden und ist bereits in Kraft.
Ein zweitesPaket, das einen Umfang
von 100 Mrd. $ erreichenkönnte, steckt
noch in der parlamentarischen Bera-
tung. SeinKernstück sind die Gewäh-
rung undFinanzierung von bezahlten
Kranken- undFamilientagen sowie der
Ausbau der Arbeitslosenversicherung
und der Lebensmittelhilfen.
Das Repräsentantenhaus hat eine
ersteVersion diesesPakets amFreitag
verabschiedet, musste aber am Montag
na chbessern.Jetzt liegt derBall beim
Senat, wobei gut möglich ist, dass dieser
nun das zweite und das drittePaket zu-
sammenfasst.Bereits wird auch überein
mögliches viertesPaket gesprochen, das
nach überstandener Corona-Krise Mil-
liarden in Infrastrukturprojekte pum-
pen würde. Über all dieser Hektik steht
allerdings dieFrage, wie rasch und wie
lange derKongress angesichts der Epi-
demie noch handlungsfähig ist.

Fed bautdas Arsenal aus


Derweil hatdas amerikanischeFede-
ral ReserveSystem (Fed) am Dienstag
eine weitere Massnahme zur Gewähr-
leistung des Kreditflusses ergriffen, in-
dem es eine Fazilität zurFinanzierung
von Geldmarktpapieren eingerich-
tet hat. Geldmarktpapiere werden von
Emittenten allerArt,aber vor allem von
Grossfirmen,zur Beschaffung kurzfristi-
ger Gelder ausgegeben. Der Markt für
Geldmarktpapiere ist in den vergange-

nen Tagen unter Stress geraten; wegen
der grossen Unsicherheit haben viele
Unternehmen zunehmend Mühe, sich
zu finanzieren.
Der Commercial Paper FundingFaci-
lity (CPFF) genannteAuffangmecha-
nismus desFed kann nun per sofort un-
besicherte und mitVermögenswerten
unterlegte, in Dollar denominierte Geld-
marktpapiere von qualifiziertenFirmen
erwerben. Die CPFF ist das erste Pro-
gramm in dieser Krise, das gestützt auf
Nothilfe-Abschnitt 13 (3) des Noten-
bankgesetzes eingeführt wird. Eine
solcheFazilität war auch während der
Finanzkrise vom 27. Oktober 2008 bis
Frühling 2010verfügbar. Der Zentral-
bank bzw. dem Steuerzahler entstanden
darauskeine Verluste.
Die amerikanischenAktienmärkt e
waren auch am Dienstag wieder auf
Achterbahnfahrt, wie auch die An-
leihemärkte ungewöhnlich volatil blie-
ben.Die Investoren wissen nach wie vor
nicht, mit welchem Negativszenario sie
rechnen sollen. Weder dieAussicht auf
ein umfangreiches Stützungspaket mit
allfälligen Direktzahlungen an Privat-
haushalte noch die vomFed aktivierte
Geldmarkt-Fazilität haben für grosse
Erleichterung gesorgt. Der Dow-Jones-
Index legte um 5% zu, dies nach einem
Der Präsident verlässt eine Pressekonferenz der Coronavirus-Task-Force imWeissen Haus. YURI GRIPAS/REUTERS Sturz amVortag von 13%.

Free download pdf