Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 WIRTSCHAFT 19


Die Coronavirus-Rezession steht vor der Tür


DieSchweizer Wirtschaft dürfte einen Rückschlag erlei den –ob es so schlimm kommt wie 2008/09, hängt vo n verschiedenen Faktoren ab


NICOLERÜTTI


Dass es in der Schweiz zu einerRezes-
sionkommen wird, ist mittlerweile wohl
eineTatsache – selbst für den Bundes-
rat, der normalerweise eher darum be-
müht ist, die Besorgnis der Bevölkerung
zu dämpfen. EineRezession zu ver-
meiden, sei sehr schwierig, wenn man
schaue, welcheLänder betroffen seien,
erklärteWirtschaftsminister GuyPar-
melin an der Medienkonferenz des Bun-
desratesamFreitag. Und er fügte gleich-
zeitig an, dass dies wohl ein Euphemis-
mus sei. Nachdem dieLandesregierung
am Montag die ausserordentlicheLage
ausgerufen und das öffentliche Leben
mehr oder weniger zum Stillstand ge-
bracht hatte, hat sich die wirtschaftliche
Situation zusätzlich verschärft.
Der wirtschaftliche Schock weltweit
ist gross, darin sind sich die Ökonomen
einig. Denn es handelt sich um einen ver-
heerenden Cocktail aus Coronavirus und
drastischen Massnahmen zur Begren-
zung von dessenAusbreitung. DieFol-
gen sind überall spürbar: einbrechende
Aktienmärkte, die sich selbst von weite-
ren geldpolitischen Lockerungen nicht
beeindrucken lassen, Fluggesellschaften,
die breitabgestützte Hilfsmassnahmen
anfordern, abgeriegelte Grenzen und
unterbrochene Lieferketten, geschlos-
seneRestaurants, Läden, Kinos, Fitness-
center, Veranstalter und andereFirmen,
die ums Überleben kämpfen.


Die KOF stellt Szenarien vor


Mit der sich täglich oder gar stündlich
ändernden Nachrichtenlage zurAus-
breitung desVirus sowie den staat-
lichen Gegenmassnahmen sindkon-
kreteWirtschaftsprognosen ausgespro-
chen schwierig. So hat das Staatssekre-
tariat fürWirtschaft (Seco) seinen für
Dienstag angekündigtenKonjunktur-
ausblick auf Donnerstag verschoben.
Wie man bei derKonjunkturforschungs-
stelle derETH Zürich (KOF) ausführt,
ist die Krise noch kaum in den gesamt-
wirtschaftlichenDaten angekommen,
die in die üblichen Prognosemodelle
einfliessen. DieKOF-Ökonomen haben
deshalb mit Blick auf die Schweiz drei
Szenarien entworfen: einBasis-, ein mil-
des sowie ein negatives Szenario.


Basisszenario: Eskommt zu einer
scharfenRezession,aber auf wenige
Quartale beschränkt.In denkommen-
den zwei Quartalenkommt es zu einem
starken Rückgang beim privatenKon-
sum.Firmen halten sich mit Investitio-
nen zurück. Veranstaltungen fallen für
längere Zeit aus, Schul- und Grenz-
schliessungen beeinträchtigen die Pro-
duktion. Die Schweiz fällt in der ersten
Jahreshälfte 2020 in eineRezession. Be-
troffen davon sind praktisch alle Bran-
chen, vor allem auch die exportorien-
tierten. Eine Ausnahme bildet das
expandierende Gesundheitswesen,
das die Entwicklung des Bruttoinland-
produkts (BIP) stützt. Die ergriffenen
Gegenmassnahmen führen im Sommer
2020 dazu, dass die wirtschaftlichenAus-
wirkungen derPandemie abgemildert
werden. DieKurzarbeit sowie weitere

Massnahmen des Bundes und der Kan-
toneverhindern, dass es zu einer Ent-
lassungswellekommt, die Arbeitslosig-
keit steigt nur leicht.Im dritten und im
vierten Quartal 2020 wächst das BIP
dank Nachholeffekten wieder. Für das
Gesamtjahrresultiert ein BIP-Anstieg
von 0,3%. 2021 (+1,4%) setzt sich die
Erholung fort.

Jetzt ist Flexibilität gefragt


Mildes Szenario: Der wirtschaftliche
Schaden beschränkt sich auf das zweite
Quartal. Im dritten Quartal wird der
Grossteil der ausgefallenen Produktion
nachgeholt. Die Beschäftigungsentwick-
lung erlebt eine kleineDelle,erholt
sich danach allerdings schnell. Der ge-
bremsteWelthandel hinterlässt gleich-
wohl Spuren: Die SchweizerWirtschaft

wächst (ohne sportliche Grossanlässe
der Uefa und des IOK) um 0,8% (2020)
und 1,3% (2021).
Negatives Szenario: DieWirtschafts-
leistung bricht im ersten Halbjahr ein.
Wegen wirtschaftlicher Unsicherheit,
steigender Haushaltsverschuldung, an-
haltender Lieferschwierigkeiten, ver-
breiteter Liquiditätsengpässe und des
stärkerenFrankens schrumpft das BIP
auch im dritten und im vierten Quar-
tal 2020. Die Schieflage der Staatsfinan-
zen in einigenLändern und Liquidi-
tätsengpässe bei einzelnen Geschäfts-
banken belasten die Kreditvergabe und
beeinträchtigen die Produktion wichti-
gerHandelspartner der Schweiz.Das
Schweizer BIP sinkt 2020 um 2,3%. 2021
resultiert ein BIP-Wachstumvon 1,3%.
Wie KOF-LeiterJa n-Egbert Sturm
in einer Videokonferenz ausführte,

scheint das milde Szenario mittler-
weile von der Aktualität überholt wor-
den zu sein. «Wir bewegen uns eher
in RichtungBasis- bis Negativ-Szena-
rio», sagt Sturm. Gleichzeitig sprach
er sichfürzielgerichtete und schnell
wirksame Massnahmen aus, umFir-
men mit kurzfristigen Liquiditätspro-
blemenzuhelfen.Kurzarbeit sei ein
wirksames Instrument. Sie greife aller-
dings nicht für Selbständige sowieFir-
men mit hohenFixkosten und tiefer
Lohnquote. Vorübergehende Steuer-
stundungen oder unkomplizierte staat-
liche Garantien fürBankkredite an
Unternehmen wären deshalb im Urteil
von Sturm wichtige zusätzliche Instru-
mente. Auch Lohnfortzahlung für Selb-
ständige, Temporärbeschäftigte sowie
Eltern, die aufgrundvon Schulschlies-
sungen zu Hause bleiben müssen, seien
angezeigt.

Das Schlimmste kommt noch


Vorauseilende Indikatoren derKOF
deuten derweil darauf hin, dass ein
ausgeprägterRückschlag nicht auszu-
schliessen ist. Laut denKOF-Ökonomen
sind die globalenKonjunkturbarometer
auf den niedrigsten Stand seit 2009 ge-
fallen, und zwar bereitsvor der starken
Ausbreitung des Coronavirus in Europa
und den USA. In den Krisenjahren 2008
und2009 war dieWirtschaftsleistung in-
folge derFinanzkrise in der Schweiz ins-
gesamt um 3,5% eingebrochen.Inner-
halbvon zweiJahren stieg die Zahl
derregistrierten Arbeitslosen schweiz-
weit um 63 000 auf175 000Personen.
Doch die schwersteRezession erlebte
die Schweiz während des ersten Erdöl-
schocks1975/76 − mit einemRückgang
des BIP um über 7%.
Insgesamt ist davon auszugehen, dass
die Marktturbulenzen weiter anhalten
werden. Denn sowohl Europa als auch
den USA dürfte im Hinblick auf die
Pandemie das Schlimmste noch bevor-
stehen. DieAufmerksamkeit vonPoli-
tikern, Unternehmen, Investoren und
Konsumenten wird sich weiterhin auf
die exponentiell wachsende Zahl der In-
fizierten und die Sterblichkeitsrate rich-
ten – Schlagzeilen,dieauch in denkom-
mendenWochen fürVerunsicherung
sorgen werden.

Wo sonst ein Gedränge herrscht, wie zumBeispiel in der Luzerner Altstadt, gibt es derzeit viel Platz zum Flanieren. URS FLÜELER / KEYSTONE

Die Corona-Krise hat vier Phasen – wir sind inder gefährlichst en


Ökonomen schätzen, dass ein einmonatigerStillstand Unterstützung im Umfang von1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung nötig machen könnte


CHRISTOPH EISENRING


Auf Zahlen muss man wohl nicht mehr
warten: Diese Krise wird die meisten
Industrieländer in eineRezession stür-
zen. Zwar handelt es sich bei einerPan-
demie um ein vorübergehendes Phäno-
men. Aber entscheidend ist, was «vor-
übergehend» heisst.Das haben die
Volkswirtschaften zumTeil selbst in
der Hand. Mit immer rigideren Mass-
nahmen zum «social distancing» versu-
chenRegierungen jedenfalls, der Ge-
schwindigkeit der Ansteckung Herr zu
werden, um einenKollaps des Gesund-
heitssystems abzuwenden.
Das ist aber nur möglich, indem man
das wirtschaftliche Leben für einige Zeit
einfriert.Wenn sich dadurch die medizi-
nischeLage beruhigt, passiert im besten
Fall das, was die Ökonomen gerne mit
dem Buchstaben«V»beschreiben: eine
rasche Erholung. Lieber jedenfalls ein
tiefer Einschnitt als eine lang währende
Phase mit wirtschaftlicher Unsicherheit,
die bleibende Schäden nicht nur bei vie-
len Menschen, sondern auch im Gewebe
einerVolkswirtschaft hinterlässt.


Die Lichteranlassen


Um zu verstehen, wo man derzeit steht,
hilft es, die Krise in mehrere Phasen zu
unterteilen.Darauf lassen sich dann
auch die Massnahmen abstimmen. Die
Ökonomin Agnès Bénassy-Quéré hat


mitKollegen, darunter auch die Schwei-
zerin BeatriceWeder di Mauro, vor ei-
nigenTagen ein solches Phasenmodell
für Europa vorgestellt. Die erste Phase,
die vonJanuar bis Anfang März dau-
erte, war von einem Angebotsschock
geprägt.Damit ist gemeint, dass viele
Fabriken in China stillstanden. Dies
brachte weltweit Lieferketten durchei-
nander, mandenke an die Produktion
von iPhone oderWirkstoffen für Medi-
kamente. Diese Einschränkungen wer-
den jetzt wieder weniger, daPeking
erste Erfolge in der Bekämpfung des
Virus erzielt hat.
SeitFebruar hat dasVirus jedoch
auch andere Industrieländererreicht.
Davon waren zunächst vor allem die
Dienstleistungsbranchen betroffen.
Laut einer Umfrage des Münchner Ifo-
Instituts sagen zum Beispiel 96% der
deutschenReiseveranstalter, dass ihr
Geschäft vom Coronavirus in Mitlei-
denschaft gezogen worden sei.Auch
die Fluggesellschaften warteten mehr-
fach mit Hiobsbotschaften auf. Ryan-
air kürzt die Kapazitäten um 80%, die
Swiss hat die Hälfte der Flotte aus dem
Verkehr genommen. IndieserPhasehel-
fenKurzarbeit für die betroffenen Mit-
arbeiter und Liquiditätshilfen fürFir-
men. Gastgewerbe, Tourismus undFrei-
zeit machen laut denAutoren rund 5%
der europäischenWirtschaft aus. Wäre
das der einzige Brandherd, liesse sich
das also beherrschen.

Spätestens nach den Massnahmen
vom Montag befindetsich die Schweiz


  • wie andereLänder auch – jedoch auch
    in Phase 3: einer akuten Störung der Ge-
    samtwirtschaft.Das besonders betrof-
    fene Italien ist bereits Anfang März in
    diese Phase eingetreten, andereLänder
    wie die Schweiz ein bis dreiWochen spä-
    ter. Durch die Schliessung allerRestau-
    rants undLäden, die nichtessenzielle
    Güter verkaufen, die Absage allerVer-
    sammlungen undVeranstaltungen wird
    ein neuerlicher massiver Angebots-
    schock ausgelöst.
    Dazu kommt die Schliessung der
    Schulen.Laut einer älteren Studie führt
    die Schliessung von Schulen dazu, dass
    das Arbeitsangebot um etwa15% zu-
    rückgeht, weil Eltern vermehrt Kinder
    betreuen müssen. So hat derAutobauer
    VW zum Beispiel am Montag angekün-
    digt, dass er die Produktion in seinem
    Werk inPortugal um16% reduzie-
    ren werde. EinTeil der 5500 Mitarbei-
    ter wird wegen der Schulschliessungen
    ausfallen.
    DieAutorinnen undAutoren äus-
    sern die Hoffnung, dass dieWirtschafts-
    leistung im ersten Quartal der Krise
    um weniger als 10% zurückgeht. Aller-
    dings mutet diese Schätzung nachweni-
    genTagen schon zu optimistisch an, ge-
    rade auch, wenn man die ersten Zah-
    len aus China berücksichtigt. Der Out-
    put der Industrie brach dort imJanuar
    undFebruar um 13,5% ein, die Detail-


handelsumsätze um einFünftel und die
Investitionen in Sachanlagen sogar um
einViertel.
In dieser dritten Phase muss laut den
Ökonomen zunächst sichergestellt wer-
den, dass das Gesundheitswesen die nö-
tigen finanziellenRessourcen hat, um
den Anstieg derFälle zu bewältigen. In
der Schweiz werden zur Unterstützung
sogar die Spitalbataillone der Armee
aufgeboten.

Zusätzliche Hilfe für KMU


Sodann ist laut denAutoren finanzielle
Unterstützung für kleine und mittlere
Unternehmen gefragt, dievomStillstand
hart getroffen werden.Durch das fakti-
scheAusgehverbot sind ihre Umsätze
weggebrochen. Der Handelsverband
Deutschlands spricht von einemAusfall
von täglich 1,2 Mrd. € im Non-Food-Be-
reich und fordert Direktzahlungen.Das
Ökonomenteam schlägt Steuererleich-
terungen undDarlehen mit günstigen
Bedingungen vor. Auch Zuschüsse wer-
den nicht ausgeschlossen. Es geht also
um mehr als Liquiditätshilfen, die in
Phase2 noch das Mittel derWahl waren.
DieAutoren schätzen, dass bei einem
einmonatigen Stillstand Unterstützung
nötig wird, die sich auf rund 1,5% der
Wirtschaftsleistung beläuft. Die 10 Mrd.
Fr., die der Bundesrat vorigeWoche ge-
sprochen hat, würden dem gerade etwa
entsprechen. Allerdings wurde von der

Regierung am Montag bereits angetönt,
dass das kaumreichen werde. Der Still-
stand wurde vorerst bis zum19. April
angeordnet, was gerade einem Monat
entspricht. Es würde aber nicht über-
raschen, wenn alles länger dauerte.
In Phase 3sind dieUnwägbarkeiten
riesig. DerenDauer hängt entscheidend
davon ab, ob sich die Bürger an dieWei-
sungen der Behörden halten. Hält die-
ser Zustand über Monate an, verstärkt
sich der Einbruch. Und nicht nur das: Es
werden dann auch viele Betriebe ver-
schwinden. Abhängig von derTiefe der
Krise ist denn auch derVerlauf der letz-
ten Phase, der Erholung.
Hier empfehlen dieAutoren klassi-
schekeynesianische Instrumente, umdie
Nachfrage anzukurbeln. Demnach sol-
len die Bürger vom Staat Geld erhal-
ten.Die Menschen sollen weiter Geld
ausgebenkönnen, auch wenn sie nicht
arbeiten, so die Devise. Man mag ein-
wenden, dass die sozialen Netze in den
europäischenWohlfahrtsstaaten ohne-
hin für eine vergleichsweise gross-
zügige Unterstützung sorgen, sofern die
Arbeitslosigkeit nicht zu lange dauert.
Während derFinanzkrise sank die
weltweiteWirtschaftsleistung im ers-
ten Quartal 2009 um 3,2%.Das war der
Tiefpunkt derRezession. Es würde nicht
überraschen, wenn der Einbruch dieses
Mal tiefer ist. Wie lange er dauert, hängt
davon ab, wie gut wir jetzt das «social
distancing» umsetzen.
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