Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 INTERNATIONAL 3


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Chinas Furcht vor dem Virusimport


Rückkehren de Ausl änder müssen für zwei Wochen in Quarantäne


MATTHIAS MÜLLER, PEKING


Auf resolut-freundliche Art sagt Zhang
Xueqiu zu den ausländischen Gästen:
«Ich bin sehr beschäftigt. Ihr seid hierals
Ausländer eh nicht willkommen.» An-
schliessend zückt sie einThermometer,
misst dieKörpertemperatur, drückt den
ungebetenen, auf der Strasse ausharren-
den Gästen einenKugelschreiberin die
Hand und bittet sie, Namen undTelefon-
nummer einzutragen. Zhang ist Ärztin
in dem rund 50 Kilometer nördlich vom
Pekinger Stadtzentrum liegenden Dorf
Tailing, in dem es 300 Haushalte gibt.


Fremde sind nicht erwünscht


Seit dem 25.Januar ist die idyllisch ge-
legene Gemeinde abgeriegelt.In der land-
wirt schaftlichgeprägtenRegion hält der
Frühling Einzug. Auf denFeldern sind
vereinzelt Arbeiter zu sehen, dieBäume
pflanzen. Andere bewachen die Dörfer
vor Eindringlingen.EinMann hat seine
Baseballmütze, auf der «Freiwilliger» zu
lesen ist, tief ins Gesicht gezogen.Auf
derroten Armbindestehtmit gelben
Schriftzeichen«Virus-Vermeidung». «Wir
haben insgesamt drei Gruppen gebildet,
die jeweils acht Stunden die Zufahrten
ins Dorfkontrollieren», sagt er. Hinter
ihm an derWand prangen Plakate, auf
denen erklärt wird, wie man eine Maske
trägt und sich mit Seife sowieWasser die
Hände wäscht.Auf der gegenüberliegen-
den Strassenseite ist ein Spruchband an-
gebracht, dessen Hauptbotschaft lautet:
«Gewinnt den Kampf gegen dasVirus.»
In Tailing sind alleRestaurants ge-
schlossen worden. Ein Geschäft ver-
kauft lebensnotwendige Güter. Kurier-
dienste geben die im Internet bestellten
Waren am Dorfeingang ab. Ein Ende
der von derPekingerRegierung vorge-
gebenen Absperrung ist nicht in Sicht.
Die Ärztin Zhang meint, wenn alles gut-
gehe, sei die Massnahme EndeJuni aus-
gestanden. Und derTailing bewachende
Landwirt betont, er habe für die Abrie-
gelung des DorfesVerständnis. «Es hätte
desaströseFolgen, wenn sich nur einer
aus dem Dorf infizieren würde.»
DieRegion nördlich vonPeking gilt
als wohlhabend, weil sie vor allem wäh-
rend der Sommermonate viele chinesi-
scheTouristen aus der Hauptstadt an-
lockt. Sie verbringen bei kühlererWit-
terung sowie besserer Luft dasWochen-
ende in Dörfern wieTailing und geniessen
die lokaleKüche.Auch die unweit gelege-
nen Ming-Gräber sind eine Attraktion.
Nur einen Steinwurf vonTailing ent-
fernt liegt mit Zhuishikou ein zweites


Dorf mit rund 300 Haushalten, das seit
Beginn des chinesischen Neujahrsfestes
abgeriegelt ist.Vor dem Eingang sitzen
ein paar Einheimische und mustern die
Unbekannten kritisch. «Bei uns im Dorf
ist alles geschlossen, selbst der kleine
Lebensmittelladen hat zu», sagt ein Mann,
der ebenfalls eineBaseballmütze mit dem
Schriftzug «Freiwilliger» trägt.Wer etwas
braucht,bestellt es im Internet.Oder man
läuft ins nahe gelegeneTailing. Da man
sichkennt,dürfen die Bewohner von Zhu-
ishikou nachMessung derKörpertempe-
ratur und Angabe derPersonalien in dem
dortigen kleinen Supermarkt einkaufen.

Vom Flughafen direkt ins Hotel


Derweil verfolgen dieWachhabenden in
Zhuishikou jeden Schritt derFremden mit
wachem Blick.«Steht nicht zu nah beiein-
ander», lautet eine derAufforderungen.
Und es darf auch der Satz nicht fehlen:
«Wir wollen hierkeine Ausländer.»
Die Erfahrungen im NordenPekings
stehen sinnbildlich für den Bewusstseins-
wandel in der chinesischen Bevölkerung.
War China lange Zeit mit sich selbst und
der Eindämmung von Covid-19 beschäf-

tigt, schaut es nun verstärkt aufsAusland,
weil aus derFerne betrachtet die Mass-
nahmen in Europa undAmerika dilettan-
tisch wirken. Chinesen haben denn auch
Angst vor ausländischen Besuc hern,weil
sie nicht wissen, wo diese sich zuvor auf-
gehalten haben.Man will den Importvon
Infektionen um jeden Preis vermeiden.
Die chinesischen Zentral- und Lokal-
regierungen verfolgen die Ankunft von
Ausländern mit Argusaugen. InPeking
müssen seit Montag alleRückkehrenden
unabhängig von ihrem Herkunftsort für
zweiWochen an einem zentralen Ort in
Quarantäne. DieAusländer werden am
Flughafen in einen Bus verfrachtet und
in ihre Unterkunft transportiert. Zwei
Wochen dürfen sie ihre Hotelzimmer
nicht verlassen. DieKosten müssen sie
selbst tragen,weil diePekingerRegierung
sagt, es sei ihr freier Entscheid gewesen,
in die chinesische Hauptstadt zureisen.
Einem Chinesen ist es am Sonntag
nochvor Inkrafttreten der neuenRe-
gel gelungen, aus demAusland an sei-
nen Arbeitsort Peking zurückzukehren.
Er kann die14-tägige Quarantäne in sei-
nen eigenen vierWänden verbringen.Die
Räume darf er jedoch nicht verlassen.Spa-

ziergänge auf dem Gelände desWohnvier-
tels sind ihm untersagt.Vor seinerWoh-
nung ist einSystem installiert, das umge-
hend Alarm schlägt, sobald er dieTür öff-
net. Allein diese Anlage dürfteWarnung
genug sein, sich an dieRegeln zu halten.

Überwachungskamera sieht alles


Ähnliche Erfahrungen macht auch ein
Telekom-Experte, der nach seinemAuf-
enthalt in einemostasiatischenLand in die
unweit von Hongkong gelegene Metro-
pole Shenzhen zurückgekehrt ist. Er
wurde nach der Ankunft am Flughafen in
ein Hotelgebracht, wo er getestet wurde.
Als das negative Ergebnis vorlag, eskor-
tierte man ihn in seineWohnung, wo er
nun zweiWochen langausharren muss.
Einen Schritt weiter gingen die Behörden
bei einem anderenRückkehrer. Vor des-
sen Eingangstür ist eine Überwachungs-
kamera installiert worden, durch die ver-
folgt wird,ob er es wagt,dieRäumlichkei-
ten zu verlassen.EineProbe aufs Exem-
pel, wie zuverlässig dasSystem ist, wird er
kaum machen. Entdecken die Behörden
seinen Fehltritt,verlängert sich seine Qua-
rantäne automatisch um zweiWochen.

Bewo hner verwehrenAuswärtigen mitBarrieren den Zugang zu ihren Gebieten. KEVIN FRAYER / GETTY

Die Briten gehen über die Bücher


Boris Johnson hat die zurückhaltende Strategie im Kampf gege n das Co ronavirus fallen gelassen


MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON


Es ist noch keine Woche her, als Boris
Johnson einVorgehen gegen das Corona-
virus ankündigte, das sich vondemjeni-
gen anderer Staaten gründlich unter-
schied. Schulen und Lokale sollten offen
bleiben; bis auf besonders gefährdete Be-
völkerungsteile sollte sich die Allgemein-
heit möglichst normal verhalten. Schon
am Montag sah alles anders aus. Zwar
verzichtet dieRegierung auf Zwangs-
massnahmen, und Schulen bleiben geöff-
net. Aber die Öffentlichkeit – nicht nur
älte re und geschwächte Menschen – soll
nun Pubs, Kinos und dergleichen meiden,
nach Möglichkeit von zu Hause aus ar-
beiten und öffentlicheVerkehrsmittel nur
benutzen, wenn dies unerlässlich ist.


Grosszügige Finanzspritze


Der Kursänderung zugrunde liegen
neue Einschätzungen derWissenschaf-
ter des Imperial College, die das Kabi-
nett beraten.Aus den in Italien gewon-
nenen Erkenntnissen folgern sie, dass
die angestrebte Bildung einer sogenann-


ten Herde vonPersonen, die sich mit
de m Virus Sars-CoV-2 infizieren und
Immunität erlangen, zu risikoreich sei.
Das Vorgehen würde laut den Experten
aus demRuder laufen und bis zu einer
ViertelmillionTodesopfer fordern. In
den Spitälern müsste die Zahl der Bet-
ten auf den Intensivstationen verdop-
pelt werden – was unrealistisch ist. In
der Folge wurde die Strategie angepasst.
DieWissenschafter erwarten allerdings,
dass dasVirus dadurch die Krise über-
dauert und möglicherweise imWinter
eine zweite Erkrankungswelle auslöst.
Die Verbände vonTheater-, Pub- und
Restaurantbetreibern kritisierten die
Regierung. Man lasse sie mit einer halb-
herzigenPolitik dieFolgen der Krise aus-
baden, hiess es. Sie können ohneVerweis
auf behördlichen Zwangkeine Versiche-
rungsleistungen beanspruchen. John-
son hatte amVortag dieFreiwilligkeit
der Massnahmen damit begründet, dass
Grossbritannien eine liberale Demokra-
tie sei; «die Bevölkerung versteht die
Ratschläge, die wir ihr erteilen», sagteer.
Schatzkanzler Rishi Sunak gab in
der täglichen vomFernsehen übertra-

genen Pressekonferenz des Krisenstabs
derRegierung bekannt, welche weitere
Unterstützung dieRegierung für die
Wirtschaft plant.Das si eben Milliarden
Pfund schwerePaket, das er vorWochen-
frist in den Haushaltsplan aufgenom-
men hatte, um Firmen unter die Arme
zu greifen, wird bereits als ungenügend
angesehen. Sunak erklärte ausdrücklich,
die Regierung werde alles tun, was nö-
tig sei, um einenWirtschaftseinbruch zu
bekämpfen. Unter anderem versprach er
dafür Kreditgarantien, Bürgschaften und
Finanzspritzen in der Höhe von insgesamt
nicht weniger als 330 Milliarden Pfund.

KeineVertagung derGespräche?


Von der Krisesindauch dieVerhandlun-
gen zwischen London und der EU über
einen Handels- undKooperationsvertrag
betroffen.Für den Mittwoch ist der Be-
ginn der zweitenRundevonGesprächen
geplant, die eigentlichin London statt-
finden sollten. Im Zug der Corona-Krise
will man nun bloss eineVideokonferenz
abhalten. Die EuropäischeKommission
hatte im Hinblick darauf amWochen-

ende einen fast 450 Seiten langen Ent-
wurf für einVertragswerk vorgelegt.
BritischeRegierungsvertreter wie der
für die Verhandlungsführung mitverant-
wortlicheVizepremierminister Michael
Gove weisen Spekulationen zurück, wo-
nach die Gespräche vertagt werdenkönn-
ten. Am Brexit-Fahrplan ändere sich
nichts, wiederholt er gebetsmühlenhaft.
Johnson und Gove hoffen, dass der ge-
sundheitspolitischeAusnahmezustand bis
im Hochsommer beendet ist und dass bis
etwa im Oktober über das Gerüst einer
Übereinkunft verhandelt werden kann.
DieRegierung setzt darauf, dass ein
gewisser Brexit-Schocksinnvoll ist, um
Unternehmen zu Anpassungen zu drän-
gen.Dazu gehören etwa Einsparungen,
um dieKosten neuer Zollformalitäten
zu kompensieren.Aber wagt esJohnson
tatsächlich, Zehntausenden vonFirmen,
die im Herbst alsFolge der Corona-Krise
straucheln dürften, am Ende desJahres
auch noch den Brexit-Schock aufzubür-
den? Die Ankündigung einerVerlänge-
rung der Übergangsfrist scheint aus die-
ser Sicht nicht eineFrage des «ob», son-
dern eine des «wann» und «wie» zu sein.

Die «Festu ng


Europa»


wird Realität


Die Europäische Union
schliesst ihre Aussengrenzen

DSt., Brüssel· Die EU macht dicht
nach aussen – aber längst nicht nur
gegenüber Migranten und Flüchtlingen,
wie der Begriff bisher suggerierte. Bür-
ger aus Drittstaaten sollen generell nicht
mehr in den Schengen-Raum einreisen
dürfen, jedenfalls nicht ohne zwingen-
den Grund, das ist die neueRealität auf
demKontinent.Für vorläufig30 Tage
sollen sämtliche unnötigeReisen in den
Schengen-Raum untersagt werden, um
die Mobilität in Europa drastisch zu sen-
ken und das Coronavirus besser zu be-
kämpfen.So hatte es am Montagabend
die Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen vorgeschlagen,und so nickten
es am Dienstagabend die 27 Staats- und
Regierungschefs der EU ab.
Bereits zum zweiten Mal in einer
Woche hatten sich die Europäer in einer
Videokonferenz über ihrVorgehen in der
Coronavirus-Krise abgestimmt.Nach-
dem mehrere Mitgliedstaaten in den ver-
gangenenTagen einseitigund ohneRück-
sprachen Grenzschliessungen,Personen-
kontrollen undReiseverbote verkündet
hatten, ging es von der Leyen und EU-
Rats-Chef Charles Michel darum, Ord-
nung in das europäische Chaos zu brin-
gen.«Wir müssen zusammenarbeiten»,
hatte Michel schon vorigeWoche nach
dem erstenVideogipfel die Staats- und
Regierungschefs beschworen.Zumindest
auf das Abriegeln der EU-Aussengrenze
konnten diese sich nun einigen.
Betroffen sind von derRegelung
alle 27 EU-Staaten ausser Irland sowie
die assoziierten Schengenländer Nor-
wegen, Schweiz,Island und Liechten-
stein. Irland und Grossbritannien, die
durch ihr gemeinsamesReisegebiet an-
einander gebunden sind, wurden jedoch
dazu ermuntert,sichan der Massnahme
zu beteiligen. Es liege nun an den Mit-
gliedstaaten, den Beschluss umzusetzen,
sagte von der Leyen. Sie hätten ihr aber
zugesagt, dies sofort tun zu wollen.
Zu den Staaten, diekeine Zeit ver-
streichenliessen,gehörtFrankreich, das
bereits am Dienstagmittag dieRege-
lung in Kraft setzte. Der deutsche Innen-
minister Horst Seehofer wartete immer-
hin noch den Ratsbeschluss ab und ord-
nete kurz darauf ein Einreiseverbot für
Nicht-EU-Bürger an.Das Verbot be-
trifft alle Flüge und Schiffsreisen, die
ihren Ausgangspunkt ausserhalb der
Europäischen Union haben.Weiter ein-
reisen dürfen neben allen EU-Bürgern
und ihren Angehörigen allerdingsPerso-
nen mit dauerhafterAufenthaltsgeneh-
migung, Diplomaten, Ärzte, Kranken-
pfleger, Fo rscher und Experten.Auch
Menschen, die wichtige Güter transpor-
tierten, undPendler in Grenzregionen
sollen weiter in die EUkommen.
In Brüssel besteht nun die Hoffnung,
dass nach der Schliessung derAussen-
grenzen dieKontrollen an den Binnen-
grenzen der EU gelockert werden könn-
ten. EtlicheLänder hatten in den ver-
gangenenTagen Grenzkontrollen im
eigentlichkontrollfreien Schengenraum
eingeführt. So staute sich vielerorts der
Güterverkehr, und Pendler konnten
nicht zurArbeitkommen.

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