Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 SPORT 31


Der Biathlet, der dominierte und Doper abkanzelte


Der Franzose Martin Fourcade hat alles gewonnen und tr itt nun ab – in einem Alter, das keines ist


PHILIPPBÄRTSCH


DieTitelseite und die nächsten fünf Sei-
ten am Samstag, dieTitelseite und die
nächsten vier Seiten am Sonntag:In der
französischen Sportzeitung «L’Equipe»
dominierte amWochenende einThema.
Es war nicht die Corona-Krise, die am
Freitag immerhin auch die höchsten bei-
denFussballligen imWeltmeisterland
lahmgelegt hatte.
Das dominierendeThema war nicht
der grosse Sport. Sondern: Biathlon.
Martin Fourcade hatte am Frei-
tag denRücktritt erklärt. Frankreichs
Schneekönig, der erfolgreichste Olym-
piateilnehmer der gernegrossen Nation
und zweiterfolgreichste Athlet seines
Sports. Nicht auf dem Höhepunkt sei-
nes Schaffens, aber auch nicht weit da-
vonentfernt. Mit 31Jahren, in einem Al-
ter, daskeines ist.
Fourcadeistein Sportstar in der Hei-
mat, natürlich wegen der Erfolge – fünf
Olympiasiege, dreizehn WM-Titel,sie-
ben Gesamt- und neunundsiebzigTages-
siege imWeltcup. Aber auch wegen der
Gesten und Spässchen, die ihm manche
als Arroganz ankreideten.WennFour-
cade schon nach dem letzten Schuss die
Faust ballte statt erst im Ziel. Wenn er
rückwärts über die Ziellinie glitt oder
die Ski schonvor der Linie von den
Schuhen löste.Insolchen Momenten
polarisierteFourcade. Er ähneltePetter
Northug, dem norwegischenLangläu-
fer und währendJahren ärgstenWider-
sacher vonDario Cologna.


DieGlaubwürdigkeit


Fourcade polarisierte auch, wenn es um
Doping und um Doper ging, und darum
geht es im Biathlon oft.Fourcade gab
den furiosen Kritiker, in dieserRolle
war ihm eine hohe Zustimmungsrate
gewiss. Doch die Kritisierten sahen in
ihm natürlich einenFeind, vor allem
dieRussen. Nachdem die McLaren-Be-
richte zum Staatsdoping inRussland er-
schienen waren,hatten dieRussen die
Chuzpe, an denWeltmeisterschaften
2017 in Hochfilzen einen Athleten ein-
zusetzen, dessen zweijährige Doping-
sperre wegen EPO-Missbrauchs ge-
rade erst abgelaufen war. Viele hatten
die Nomination Alexander Loginows
als Provokation empfunden, doch wie
explizit sich MartinFourcade positio-
nierte,war bemerkenswert für einen
Dominator.
In den meisten Sportarten sind die
Topstars vorsichtig mitÄusserungen


zu diesemThemenkomplex. Erstens ist
die Dominanz eine naheVerwandte des
Verdachts.Zweitens hangelt sich der
gewöhnliche Dominator in heiklenFra-
gen lieber mit Allgemeinplätzen durch,
als sich in den verbalen Infight zu bege-
ben.Fourcade deutete in seinerAussen-
darstellung jedes Dopingvergehen eines
Konkurrenten in einen Angriff auf die
eigene Glaubwürdigkeit um – der Logik
folgend, dassesnicht gerade vertrauens-
bildend wirke, wenn er sogar die Betrü-
ger dominiere.
Als der kanadaische Sonderermitt-
ler RichardMcLarendamalspublik
machte, dass 31 russische Biathletinnen
und Biathleten staatlich gedopt worden
seien,drohteFourcade mit einem Boy-
kottderRennen, wenn derWeltver-
band IBU nicht endlich härter durch-
greife. An der Siegerehrung nach dem
erstenRennen der WM 20 17 applau-
dierteFourcade sarkastisch und lief
schnurstracks davon, nachdem ihm Lo-
ginow und die anderen Mitglieder der
russischen Mixed-Staffel den Hand-
schlag verweigert hatten.

Drei Jahre nach derKontroverse
wurde Alexander Loginow vor Monats-
frist in AntholzWeltmeister in der Diszi-
plin Sprint; MartinFourcade belegte den


  1. Platz. An der Medienkonferenz der
    Medaillengewinner machte Loginow


ein eher mürrisches Gesicht. Die Stim-
mung warkonfrontativ, dochFourcade
hielt sich diesmal zurück. Die «Süddeut-
sche Zeitung» fassteseineAussagen so
zusammen: Er fühle sich geehrt, aber
er wolle nicht immer derLautsprecher

gegen Doping sein. Alle wüssten, wie
sehr ihn dasThema schmerze, aber jetzt
wolle er sich auf Biathlonkonzentrieren.
War es verfrühte Altersmilde? Oder
ein weiteres Indiz dafür, dass sich Mar-
tinFourcade möglicherweise auf sei-
ner letzten sportlichen Mission befand
und deshalbkeine Energieverluste auf
Nebenschauplätzen riskieren wollte?
Mit demRücktritt setzte sichFour-
cade seit den Olympischen Spielen 20 18
in Pyeongchang auseinander, an denen
er drei Goldmedaillen gewonnen hatte.
Er machte weiter, doch er verzettelte
sich. Zu viele Projekte, von der Bio-
grafie über den eigenen Biathlon-An-
lass bis zum Biathlon-Gewehr für Kin-
der. Zu vieleVerpflichtungen,nicht nur
wegen der Sponsoren,sondern auch
als Präsident der Athletenkommission
in der Organisation der Sommerspiele
202 4 inParis.
Dem überladenen Sommer folgte
der schlechtesteWinter seit demDurch-
bruch. NachdemFourcade an denWelt-
meisterschaften 20 19 medaillenlos ge-
blieben war, brach er die Saison ab. Sie-

benmalin Serie hatte er den Gesamt-
weltcup gewonnen, nun löste ihn der
Norweger Johannes Böab, mit der
Rekordzahl von sechzehnTagessiegen
in einemWinter.
In dieser Saison gelangFourcade die
sportlicheWiederauferstehung. Soetwas
hatte noch gefehlt für dieVervollstän-
di gung seiner Heldengeschichte. Four-
cade wurdeWeltmeister in derKönigs-
disziplin Einzel und mitder Staffel, was
neunzehnJahre langkeinem franzö-
sischenMännerquartett mehr gelun-
gen war. Während einesTV-Interviews
weinte Fourcade, solche Emotionen
kannte man bisher nicht von ihm.
Der Staffelsieg war der Moment, in
demFourcade klar wurde, dass die Kar-
riere jetzt enden soll. So erzählte er das
amFreitag. Fourcade informierte am
Tag vor dem letzten Saisonrennen zuerst
einige Menschen aus dem nächsten Um-
feld, dann gab er bis abends um halbelf
In terviews. Er wisse jetzt, dass dieKol-
legen die Olympiastaffel 2022 inPeking
auch ohne ihn gewinnenkönnten, sagte
er gegenüber «L’Equipe».
AmTag nach derRücktrittserklä-
rung gelangFourcade in Kontiolahti
der 79.Weltcup-Sieg, exakt zehnJahre
nach dem ersten am gleichen Ort.Im
Gesamtweltcup kam er noch bis auf
zwei Punkte an Bö heran, der imJanuar
wegen einesVaterschaftsurlaubs vier
Rennen verpasst hatte.

Von Björndalen und Killy


Fourcade, der zweiTöchter hat, lässt
das Athletenleben hinter sich, statt die
Rekorde des noch erfolgreicheren Ole
Einar Björndalen zu jagen. Der Norwe-
ger trat erst zurück, als er 44-jährig war
und ihn Herzrhythmusstörungen prak-
tisch dazu zwangen. Björndalen ist mit
dem Biathlon und nun schon mit der
zweiten Biathletin verheiratet. Er und
die vierfache OlympiasiegerinDaria
Domratschewa bilden heute nicht nur
ein Ehepaar, sondern auch einTr ainer-
gespann im chinesischenTeam.
Martin Fourcade will sich künf-
tig vermehrt sportpolitisch engagieren.
«L’Equipe» sieht in ihm bereits einen
modernenJean-Claude Killy. Der legen-
däre Skirennfahrer präsidierte das OK
derWinterspiele1992 in Albertville und
anschliessend denTour-de-France-Ver-
anstalterASO.Mit76 ist Killy immer
noch Mitglied des Internationalen
OlympischenKomitees. Einer, der sich
rigoros gegen Doperstellt, täte diesem
Gremium gut.

Neue Ziele vorAugen: MartinFourcade lässt das Schiess en se in. JUSSI NUKARI / REUTERS

Tom Bradys Aufbruch


Nach 20 Jahren verlässt der erfolgreichste Quarterback der NFL-Geschichte die New England Patriots


NICOLA BERGER


Das letzte Kapitel passte nicht. Am



  1. Januar unterlagTom Brady mit den
    New EnglandPatriots denTennessee
    Titans 13:20, sein letzterPass wurde ab-
    gefangen und führte zu einemTitans-
    Touchdown. Es war ein unwürdiger
    finaler Akt einer Liaison, die als eine
    der eindrücklichstenErfolgsgeschichten
    undeine der verblüffendsten Dynastien
    des nordamerikanischen Profisports in
    Erinnerung bleiben wird.
    In 20Jahren als Arbeitnehmer der
    Patriots war der Muster-Schwiegersohn
    Brady einSynonym für Ehrgeiz und Er-
    folg. Irrwitzige neun Mal zog der Quar-
    terback in den Super Bowl ein, sechs
    Mal gewann er ihn. Es ist eineKonstanz,
    dieetwas Surreales hat imSystem der
    US-Profiligen, das so sehr aufParität ge-
    trimmt ist.
    Nun hat sich Brady für einenAuf-
    bruch entschieden; am Dienstag gab er
    bekannt,New England zuverlassen. Er
    schrieb, es sei «Zeit, eine neue Bühne zu
    betreten». Es ist aus mehrerlei Hinsicht
    ein mutiger Entschluss.
    ImAugust wird Brady 43Jahre alt
    werden, essieht so aus, als wäre er der


älteste Spieler der Liga. Brady hat den
Alterungsprozess mit rigider Disziplin
und einer eigenwilligen Diät jahrelang
überlistet. Doch 20 19 wirkte er erst-
mals ältlich: es fehlte ihm an Mobilität,
an Explosivität. DieFrage ist, woran das
lag. AnBrady. Oder an der mangelnden
Qualität in der Offensivabteilung der
Patriots. Ebenso wie unermüdlich dar-
über diskutiert wird, ob Brady schlicht
der beste Quarterback der Geschichte
is t. Oder nur ein Produkt desTr ainer-
Masterminds Bill Belichick. Der Herbst
wird Antworten liefern. Brady will sich
ein neuesTeam suchen.
Noch ist nicht klar, wo Brady lan-
den wird. Ihm sollen lukrative Offer-
ten derTampaBayBuccaneers und der
Los Angeles Chargers vorliegen.Von bis
zu 30 Millionen Dollar proJahr ist die
Rede. In New England hatte Brady zu-
letzt mehrfach auf ein marktgerechtes
Salär verzichtet, um die Erfolgsaussich-
ten seiner Equipe zu verbessern. Nun,
da er den vermutlich letztenVertrag der
Karriere verhandelt, wird es mit dieser
Noblesse vorbei sein.
Die sportlichen Perspektiven in
Tampa dürften besser sein.Für die Los
Angeles Chargers wäre Brady vor allem

ein Marketinginstrument:Das Team ist
2017 von San Diego nach Los Angeles
umgezogen und hat seither grosse Mühe,
sich in diesem umkämpften Markt zu
behaupten, das Stadion steht oft halb
leer. Die Lichtgestalt Brady würde die
Probleme mit derPositionierung über
Nacht lösen.
Nach amerikanischen Medienberich-
ten wäreBradys bevorzugte Destination
SanFrancisco gewesen, er wuchs einst
in Kalifornien alsFan der SanFrancisco
49ers auf. Doch der Super-Bowl-Fina-
list winkte ab, wasetwasaussagt. Es ge-
schieht sehr selten, dass ein Quarterback
mit den Meriten Bradys auf den freien
Markt gelangt.Dass sich die Premium-
Organisationen nicht um ihn balgen,
zeugt von einem gewissen Misstrauen
gegenüber der heutigenVersion Bra-

dys. Das hat seine Gründe: Er ist zwar
der einzige Quarterback der Geschichte,
der im Alter von mehr als 40Jahren den
Super Bowl gewinnenkonnte. Doch das
ist dreiJahre her.
BradysWeggang ist darum auch ein
Risiko. Er wärenicht der erste Sportler,
der sichkeinen Gefallen damit tut, im
Zwielichtder Karrierenoch den Klubzu
wechseln.Auf Bradys Flughöhe tat das
vor 19 Jahren beispielsweise derBasket-
baller MichaelJordan, der von den Chi-
cago Bulls zu denWashingtonWizards
wechselte. Sein zweijähriges Intermezzo
in der Hauptstadt war ein Misserfolg,
dasTeam verpasste die Play-offs immer.
In New England hätten sie sich ge-
wünscht, dass Brady dieKarrierebei
denPatriots beendet, mit einem letzten
Titel alsRührstück und Schlusspunkt
einer grandiosen Karriere. DerTeambe-
sitzerRobert Kraft sagte: «Es ist nicht
das Ende, das ich mirvorgestellt habe.
AberTom hat es sich verdient, das zu
machen, was er möchte. Ich liebe ihn
wie einen Sohn.» Es muss sich noch
weisen, ob der Anhang das gleich sieht


  • vor allem dann, wenn Brady es gelingt,
    anderswo ein würdiges letztes Kapitel
    seiner Geschichte zu schreiben.


Tom Brady
EPA Quarterback

Fourcade will sich
künftig sportpolitisch
engagieren. «L’Equipe»
sieht in ihm bereits
einen neuen
Jean-Claude Killy.

French Open


verschoben


Kein Grand-Slam-Turnier im Mai


(sda)· Das French Open inParis, das
am18. Mai hätte beginnen sollen, wird
nach demWillendesfranzösischenTen-
nisverbands FFT erst vom 20. Septem-
ber biszum 4. Oktober stattfinden. Die
FFT begründete ihrenEntscheid da-
mit, dass es aufgrund der ungewissen
Lage wegen der Coronavirus-Pande-
mie nicht möglich sei, dieVorbereitung
desTurniers vonRoland-Garros im Mai
seriös voranzutreiben. DieVerschiebung
würde bedeuten, dass es zwischen dem
US Open in NewYork und demFrench
Open nur eineWochePause gäbe. Zu-
dem würde dasFrench Open im Sep-
tember mit demLaver-Cupkollidieren.
Die Organisatoren weisen darauf
hin, dass es dank der Modernisierung
der Anlage im Bois de Boulogne mög-
lich sei, dasTurnier in einer ungewohn-
ten Zeit in den Oktober hineinzuziehen.
Das Hauptstadion, der Court Philippe
Chatrier, verfügt jetzt über ein ver-
schiebbaresDach. Die Neuansetzung
desFrench Open bedeutet, dassRoger
Federer trotzseiner imFebruarvorge-
nommenen Knieoperation theoretisch
alle Grand-Slam-Turniere der Saison
bestreitenkönnte.
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