Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

32 SPORT Mittwoch, 18. März 2020


Der Biathlet Martin Fourcade hat alles gewonnen –


nun tritt er er st 31-jährig zurückSEITE 31


Tom Brady ist der erfolgreichste Quarterback


der NFL-Geschichte – nun verlässt er die PatriotsSEITE 31


Kommentar


EM-Transfer


ist alternativlos


PETER B. BIRRER

Am Dienstag fällten dieVerantwort-
lichen des europäischenFussballver-
bands Uefa einen Entscheid, der vor
kurzem amKongress in Amsterdam un-
denkbar gewesen war. Nur in Albträu-
men wurden dieFunktionäre damals
mit dem Gedanken geplagt, dass die
Euro im Sommer 2020 in Gefahr sein
könnte. Jetzt wird ihr Albtraum innert
zweierWochen Wirklichkeit:Wegen der
Coronavirus-Krise wirddie Euro 2020 in
den Sommer 2021 verschoben.Theore-
tisch hätte die Uefa noch zuwartenkön-
nen,aber der Druck aus denLandesver-
bänden ist viel zu grossgeworden.
Das Zeitfenster im Sommer muss
freigegeben werden,damit für die natio-
nalen Ligen die Option offenbleibt,die
sistierten Meisterschaften zu Ende zu
spielen – in welcherForm und ab wel-
chemDatum auch immer. Das Verdikt
der Uefa kann niemanden überraschen
und ist beispiellos, wie noch vieles bei-
spiel los ist im Zuge der Corona-Krise.
Doch der Zeitdruck und dieAussicht,
dass ab dem 12.Juni in nicht weniger
als 12 europäischenLändern EM-Fuss-
ball gespielt worden wäre, bekräftigten
die Uefa und ihre Interessenvertreter
darin,denAnlass aus dem Programm zu
kippen. Die Uefa hat schnell den einzig
richtigenWeg gewählt.
Die Einschnitte, die das Coronavirus
mit sich bringt, gehen tief. Das spürt der
internationaleFussball, der Massen an-
zieht und für einen beträchtlichenTeil
der Unterhaltungsindustrie steht. Zu-
mal in einem Sommer wie diesem, in
dem die EM zelebriert und bis zum Ex-
zess vermarktet worden wäre. Es gibt
keine Veranstaltungen, die dasVolk
währendWochen ähnlich durchdringen
wie die grossenFussballturniere. Das
gilt für dieLänder, die sie durchführen
und vorallem auch für all jenePersonen,
die nicht im Stadion zugegen sind, aber
den Fussball vor demFernsehgerät ver-
folgen – bei sich zu Hause oder in den
Public-Viewing-Zonen inRestaurants,
Bars oder auf irgendwelchen Plätzen
vor Grossbildschirmen.Da wird jetzt in
grossem Stil der Stecker gezogen.
Der Vorgang ist einzigartig in der
Geschichte der EM-Endrunde, obschon
Uefa-Grossanlässe schon von anderen
Krisen überschattet wurden. Erinnert
sei an die Heysel-Katastrophe1985, als
der Meistercup-Final zwischenJuventus
Turin und dem Liverpool FC eine Mas-
senpanik zurFolge hatte, die 39Tote und
üb er 450Verletzte forderte. 1992 lud der
Verband das NationalteamJugoslawiens
10 Tage vor der EM in Schweden wegen
des Balkankonflikts aus. In Erinnerung
gerufen sei auch an die Euro 2016 in
Frankreich.Wer sich damals anlässlich
der Eröffnung inParis aufhielt, wurde
eines Sicherheitsapparats seltenenAus-
masses gewahr. Frankreich war durch
Terrorangriffe traumatisiert und hatte
die Euro zu schützen. Der Preis für die
öffentliche Hand war hoch.
Noch sind vieleFragen nicht beant-
wortet.Die Uefa hofft,den unterbroche-
nen Europacup dank dem EM-Transfer
vollenden zukönnen. Irgend wie. Laut
dem Uefa-PräsidentenAleksander Cefe-
rin bietet derFifa-Chef Gianni Infantino
Hand, «den neuenFussball-Kalender
zum Laufen zu bringen». Die Fifa hätte
im Sommer 2021 die Klub-WM in China
veranstalten wollen.Per Communiqué
lässt derFifa-Chef Gianni Infantino ver-
lauten,dass derFifa-Council besprechen
werde, wann die neue Klub-WM statt-
findenkönne – «später 2021, 2022 oder
2023». Noch ist nichts abgesagt,aber die
Terminnot wird immer grösser. Cefe-
rin preist die Solidarität derFussball-
gemeinde. Zu vermuten ist vielmehr,
dass auch in der Krise die Machtpoli-
tik nicht unberücksichtigt bleibt und die
Fifa der Uefa Zugeständnisse abringt.

Ein Sommer ohne Euro


Die Uefa verschiebt die Fussball-EM um ein Jahr – und entspricht dem Wunsch der nationalen Ligen


STEFAN OSTERHAUS


EineFussball-Europameisterschaft im
Sommer 2020 wird es nicht geben – diese
Entscheidung hat die Uefa nach einer
Krisensitzung gefällt und am Diens-
tag kommuniziert. Sie dürfte damit den
Nerv der Klubs der europäischenTop-
ligen getroffen haben. DenVorschlag
des Dachverbandes nahmen dieVertre-
ter der Ligen ebenso an wie die Euro-
päische Klubvereinigung (ECA).
In einerVideokonferenz gaben die
Uefa-Mitgliedsverbände grünes Licht.
Das Turnier, das ursprünglich vom



  1. Juni an während eines Monats in
    zwölf europäischenLändern angesetzt
    war, soll auf daskommendeJahr ver-
    schoben werden, es ist nun vom 11. Juni
    bis zum 11. Juli terminiert. Es ist das
    erste Mal, dass eineFussball-Europa-
    meisterschaft nicht plangemäss aus-
    getragen werden kann. Betroffen von
    der Verschiebung sind auch die für den
    März geplanten Play-off-Spiele zur EM.
    Sofern es möglich ist, sollen diese An-
    fang Juni ausgetragen werden.


Klub-WM 2022?


Unklar war lange, was mit der von der
Fifa vorgesehenen Klub-WM geschehen
würde, die zeitgleich im Sommer 2021
mit 24 Mannschaftenin Chinastatt-
finden sollte. Der Fifa-Präsident Gianni
Infantino teilte mit, dass er am Mittwoch
empfehlen wolle, der von der Uefa an-
gestrebtenVerlegung desTurniers zu-
zustimmen. Später, wenn mehr Klarheit
herrsche, werde dann entschieden,wann
die Klub-WM ausgetragen werden solle.
Infantino nannte in der Mitteilung nicht
nur 2021 als möglichesAustragungsjahr,
sondern auch 2022 und 2023. Ebenfalls
verschoben wordenist di e Copa Amé-
rica, die südamerikanischeKontinental-
meisterschaft. DerVerbandschef Ale-
jandro Domínguez erklärte: «Das ist
eine ausserordentliche Massnahme für
eine unerwartete Situation.» Die Copa
América soll parallel zur Europameis-
terschaft ausgetragen werden.
Überraschend war dieVerschiebung
der EM nach denReaktionen der letz-
ten Tage nicht. ZahlreicheVertreter des
Klubfussballs hatten ihre Sorge artiku-
liert, wonach das Beharren der Uefa die
Vereine in eine enorme Schieflage brin-
gen könnte. Die Situation sei für man-


chen Klub durchaus existenzbedrohend,
hatte etwa Christian Seifert erklärt, der
Geschäftsführer der DeutschenFuss-
ballliga. Er war amTag zuvor von einer
Verschiebung ausgegangen.Dass dies
nun geschieht mit derFrist einesJahres ,
könnte den Klubs dieMöglichkeit geben,
ihre Meisterschaft in einem halbwegs ge-
ordnetenRahmen zu Ende zu spielen–
sicher ohnePublikum und unterAuf-
lagen, wie sie derFussball ausPerspek-
tive derGesundheitsvorsorge noch nicht
erlebt hat.Gespielt werdenkönnte dann
wohl bis zum 30.Juni, an je nem Tag lau-
fen für gewöhnlich dieVerträge imFuss-
ball aus. Allenfalls sind aber auch Spiele
im Sommer möglich, dieFifa signalisiert
Bereitschaft, dieTransfer- undVertrags-
regeln anzupassen.
Lange hatte sich die Uefa nicht ent-
schlussfreudig gezeigt, obschon immer
mehr nationale Ligen den Spielbetrieb
einstellen mussten.«Es warwichtig, dass
die Uefa alsDachverband des europäi-

schenFussballs den Prozess anführte
und das grösste Opfer brachte», erklärte
der Uefa-Präsident Aleksander Ceferin
im Communiqué: «In Zeiten wie diesen
muss dieFussballgemeinschaftVerant-
wortung, Einigkeit und Altruismus zei-
gen.» DieVerschiebung sei für denVer-
band extremkostspielig, gleichwohl,
so Ceferin, habe die Uefa die «lebens-
wichtige Finanzierung des Breiten-
und Frauenfussballs» im Blick. Ein Be-
richt der Online-Publikation«The Ath-
letic», wonach die Uefa von den Klubs
300 Millionen Euro für denAusfall ge-
fordert habe, wurde nichtkommentiert,
laut der «NewYorkTimes» hat die Uefa
dies ausdrücklich dementiert.

EngerTerminplan


Der Entscheid der Uefa stiess allent-
halben aufZustimmung. Fritz Keller,
der Präsident des DeutschenFussball-
bundes, erklärte, die Uefa sei «ihrer

Verantwortung gerecht geworden».
Zur Verschiebung desTurniersgebees
«keineAlternative». Zugleich aber stehe
der Fussball in der Pflicht, zu schauen,
wie es «nach derPandemie» weitergehe.
Der deutsche BundestrainerJoachim
Löw nannte dieVerlegung der End-
runde «völlig richtig und alternativlos».
Offen ist indes noch, wie es um die
Austragung der europäischen Klub-
wettbewerbe bestellt ist. Eine Arbeits-
gruppe soll sich laut Uefa darum küm-
mern. Der Zeitrahmen ist eng gesteckt.
Der DFB skizzierte in seiner Mittei-
lung ein mögliches Szenario: Der hohe
Termindruck «könnte bewirken, dass
Uefa-Wettbewerbe wie die Champions
League und die Europa League auch
am Wochenende stattfindenkönnten».
Für die Ligenkönnte dies heissen, dass
«im Gegenzug» Spiele von Dienstag
bis Donnerstag möglich seien,Tage, die
normalerweise für die Uefa-Matches
reserviert sind.

Vorerst bleiben Europas Stadien leer, der Uefa-Entscheid eröffnet den Klubs aber neueMöglichkeiten. MANUEL BRUQUE / EPA

Die Unsicherhe it bleibt


Der Uefa-Entscheid bringt etwas Zuversicht – aber Schweizer Klubs schliessen Stadien und melden Kurzarbeit an


BENJAMINSTEFFEN,STEPHAN RAMMING


Es istein Entscheid, der bis in alle
Ligen nationalen Profifussballs hinun-
terstrahlt. Nachdem die Uefa beschlos-
sen hat, die Euro 2020 zu verschieben,
sehen grosse und kleineFische wieder
eine Chance, die Meisterschaft 2019/20
zu beenden – eine klitzekleine Chance
vielleicht nur, aber immerhin. Claudius
Schäfer, der CEO derSwiss Football
League (SFL), sagt: «Dieser Entscheid
war Voraussetzung dafür, dass über-
haupt Szenarien für Spieltermine im
Juni entwickeltwerden können.»Robert
Breiter,der Generalsekretär des Schwei-
zerischenFussballverbands (SFV), sagt:
«Es gibt nun allenfalls die Möglichkeit,
dass die Meisterschaft zu Ende gespielt
wird.Aber das ist unsicher.»
Die Ungewissheit bleibt überall.
«Was vorgestern war, wirkt heute schon
anachronistisch», sagt WernerBaum-
gartner, der Präsident des Challenge-
League-Klubs Kriens und Mitglied des


SFL-Komitees. Baumgartner leitet einen
solch kleinen Klub, dem der Uefa-Ent-
scheid etwas Zuversicht schenkt.«Zwei,
drei Monate» halte der SC Kriens durch
ohne Einnahmen, «etwas Geld» sei in
der Kasse, «wir sind uns gewöhnt,kleine
Brötchen zu backen».
Wie viele andere Unternehmen mel-
den die KrienserKurzarbeit an. Es wird
Hilfe brauchen allenthalben. Auf einen
Anteil an den 50 MillionenFranken,die
der Bundesrat demProfi-Mannschafts-
sport inForm von zinslosenDarlehen
versprochen hat, wird breitflächig An-
spruch erhoben werden. Der SFV-Gene-
ralsekretär Breiter sagt: «Das Bundes-
amt für Sport arbeitet an einerVer-
ordnung, was mit den 50 Millionen des
Bundes für zinsloseDarlehen geschehen
soll. Dafür werden wir sicher vermit-
teln.» Der SFVkönne die Profivereine
«Stand heute» nicht direkt unterstützen,
«wir sindkeine Bank», sagt Breiter.
Einen grossenTeil der 9,25 Millio-
nen Euro betragenden Antrittsprämie

hat die Uefa den Endrunden-Teilneh-
mern schon ausbezahlt, wie Breiter sagt


  • «davon haben wir noch fast nichts aus-
    gegeben.Unsere Liquidität ist gesichert.
    Ab er wir werden Einnahmeneinbussen
    haben. Die März-Länderspielefallen
    aus, und es ist ungewiss, ob der Cup zu
    Ende gespielt wird.»
    Der SFV-Generalsekretär ist im
    Home-Office tätig, nachdem bekannt-
    geworden ist, dass derVerbandspräsi-
    dent Dominique Blanc am Coronavirus
    erkrankt ist.Auch die SFL-Angestellten
    arbeiten von zu Hause aus. Am Montag
    beschloss die SFL, denTrainingsbetrieb
    vorerst auszusetzen, die Meisterschaft
    ruht ohnehin schon bis am 30.April.
    Aber fast niemand glaubt ernsthaft,
    dass am ersten Mai-Wochenende so-
    gleich Meisterschaftsspiele stattfinden
    werden. Selbst wenn die Corona-Krise
    bisAnfangMai entschärft wäre, benötig-
    ten alleTeams nach dem längerenTrai-
    ningsunterbruch einen neuenFormauf-
    bau.Vermutlich tun alle das Möglichste.


Als der Kriens-PräsidentBaumgart-
ner am Montagabend ins Stadion kam,
sah er, wie ein Spieler noch Hanteln mit
nach Hause nahm.
Der FCBasel hat seine Spieler vor-
läufig bis am 31. März vomTraining frei-
gestellt. Der CEORoland Heri sagt am
Telefon,es gebe den nationalenVerbän-
den «Luft, dass man in den Mai und in
den Juni denken kann». Der FCThun
teilte am Dienstag mit, dass die Ge-
schäftsstelle und das Stadion geschlos-
sen würden, zudemreiche er «umgehend
ein Gesuch fürKurzarbeit ein». Der
Nationaltrainer VladimirPetkovic sagt,
der Schritt, die Euro zu verschieben,sei
«in dieser Situation vernünftig und rich-
tig ». Der Kriens-PräsidentBaumgartner
sagt: «Richtig jubeln kann man ja nicht.
Aber der Entscheid, die Euro zu ver-
schieben,ist sicher positiv – er gibt auch
dem Optimismus etwas mehr Platz.» Es
ist ein Zeichen des Moments:Allereden
gleich, von oben bis unten – und alle su-
chen nach der Zuversicht.
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