Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

4 INTERNATIONAL Mittwoch, 18. März 2020


ICC weckt den Zorn der Amerikaner


Die mutmasslichen Straftaten, die der Internationale Strafgerichtshof in Afghanistan untersucht, wiegen schwer


SAMUEL MISTELI


Anfang März hat die Chefanklägerin des
Internationalen Strafgerichtshofs (ICC)
die Erlaubnis erhalten, eine Unter-
suchung mutmasslicher Kriegsverbrechen
in Afghanistan einzuleiten. Es geht unter
anderem umTötungen,Folter, Vergewalti-
gung, Entführung und Angriffe auf Zivilis-
ten.Das meisteAufsehen erregte nicht die
Tatsache, dass esJahrzehnte gedauert hat,
bis ein Gericht mutmassliche Kriegsver-
brechen in Afghanistan untersucht. Der
Konflikt am Hindukusch istvier Jahr-
zehnte alt, allein seit dem Sturz derTali-
ban 20 01 wurden mindestens eine halbe
Million Afghanen getötet oder verwundet.
Eine systematische juristischeAufarbei-
tung der Kriegsgreuel gab es nie.
Die anstehende ICC-Untersuchung
warf deshalbWellen, weil sie sich nicht
nur gegen dieTaliban und afghanische
Armeeangehörige richtet, sondern auch
gegen Amerikaner. Die Chefanklägerin
Fatou Bensouda glaubt, esgebe ausrei-
chend Beweise dafür, dass amerikanische
Soldaten und CIA-Angehörige Kriegs-
verbrechen verübt hätten.
Es ist das erste Mal, dass der Gerichts-
hof gegen die Supermacht USA vorgeht.
Diese hat das ICC-Statut nie unterzeich-
net und das Gericht immer wieder heftig
angefeindet. Es überraschte deshalb nicht,
dassAussenminister MikePompeo die an-
gekündigte Untersuchung verurteilte. Es
handle sich um «einen wahrhaft atem-
beraubenden Schritt einer unverantwort-
lichen politischen Institution, die sich als
Rechtsinstanz ausgibt», sagte er.


Neue Glaubwürdigkeit?


Nach Einschätzung von Stefanie Bock,
die sich an der Universität Marburg mit
internationalem Strafrecht befasst, be-
weist der ICC Selbstbewusstsein, in-
dem er mutmassliche Kriegsverbrechen
amerikanischer Staatsbürger untersucht.
Tatsächlich wird dem Strafgerichts-
hof praktisch seit Beginn seiner Tätig-
keit vorgeworfen, dieKonfrontation mit
mächtigen Staaten zu scheuen.Von den
13 Untersuchungen, die der ICC bisher
lanciert hat, richteten sich 10 gegen afri-
kanische Staaten.
Stefanie Bock sagt aber, derVorwurf,
der Gerichtshof nehme vor allem Afri-
kaner insVisier, sei verzerrt. So habe der
ICC imRahmen vonVoruntersuchun-
gen etwa auch Grossbritannien mitFol-
tervorwürfen gegen britische Armee-
angehörige im Irak-Krieg konfron-


tiert. Zudem seienauchgegen russische
Staatsangehörige im Zusammenhang
mit dem Ukraine-KonfliktVorermitt-
lungen eingeleitet worden.
Dennoch betritt der ICC mit der Unter-
suchung gegen amerikanische Militär-
und Geheimdienstangehörige Neuland.
Indem der Gerichtshof gegen den mäch-
tigsten Staat derWelt vorgeht,könnte
er sich neue Glaubwürdigkeit verschaf-
fen. Erkönnte danach aber auch, falls die
Untersuchung imAnsatz steckenbleibt,
ohnmächtiger denn je dastehen.
DieRechtsprofessorin Bock glaubt
an Ersteres. «Der ICC hat aus seiner
institutionellen Logik heraus richtig ge-
handelt», sagt sie. Für die Glaubwürdig-
keit des Gerichts sei es entscheidend,
dass es sich nicht demVerdacht aus-
setze, aus politischerVorsicht vor Unter-
suchungen zurückzuschrecken.

«USA nehmenden ICC ernst»


DieJuristin warnt davor, die Leistung
des Strafgerichtshofs an denVerurtei-
lungen zu messen, die seine Ankläger

erwirken.Tatsächlich wird es kaum so
weitkommen, dass sich amerikanische
Staatsangehörige in Den Haag werden
verantworten müssen. Ohne dieKoope-
ration der amerikanischenRegierung
dürften die ICC-Ermittlerkeine stich-
haltige Anklage bewerkstelligen.
Laut Bock muss die Glaubwürdigkeit
des Gerichts dadurch nicht zwingend
Schaden nehmen. Sie sagt, die Bedeutung
des ICC bestehe darin, den Staaten zu ver-
stehen zu geben, dass die Ankläger ermit-
teln würden, wenn die nationalen Behör-
den die Arme verschränkten.Auch die
USA, die bisher nur einige Militärange-
hörige niedrigenRanges wegen Kriegs-
verbrechen in Afghanistan zurVerant-
wortung gezogen hätten, hätten das ver-
standen. «Allein dass die amerikanische
Regierung so aggressivreagiert, zeigt
doch, dass sie den ICC alsRegulierungs-
instrument ernst nimmt», sagt Bock.
Auch ein anderer Staat scheint den
Internationalen Strafgerichtshof als
Regulierungsinstanz ernst zu nehmen:
Afghanistan. Das Land hat das ICC-Sta-
tut 2 00 3 unterzeichnet,wasdie jetzige

Untersuchung möglich gemacht hat.Den-
noch lehnt die Regierung die Ermittlun-
gen ab. Sie verweist darauf, dass sie eine
eigene Behörde eingesetzt habe, um mut-
massliche Kriegsverbrechen zu untersu-
chen. Der Menschenrechtler Hadi Mari-
fat, der eineKoalition von zweiDutzend
afghanischen Menschenrechtsorgani-
sationen beim ICC vertritt, hält die-
ses ArgumentfürAugenwischerei. Die
Regierungreagiere damit auf den Druck
des Gerichtshofs. Tatsächlich seien bisher
weder hochrangige afghanischeMilitär-
angehörige verurteilt worden, noch wür-
den die Behörden überhaupt ermitteln.
Hadi Marifat hat einen ähnlich prag-
matischen Blick auf die ICC-Unter-
suchung wie dieRechtsprofessorin Ste-
fanie Bock: Es sei klar, dass der Ge-
richtshof nichtTausende von Tätern zur
Verantwortung ziehen werde. «Doch die
Untersuchung sendet das Signal, dass
auch der KriegRegeln hat und dass du
verfolgt wirst, wenn du sie verletzt.» So
fordere die Untersuchung dieKultur der
Straflosigkeit heraus, die in Afghanistan
seitJahrzehnten herrsche.

Dieser 12-jährige afghanische Bub verlor durch eine LandminebeideBeine und einAuge. KAMRAN JEBREILI / AP

Flüchtlingspolitik per Videokonferenz


Erdogan verhandelt mit Merkel, Macron und Johnson über die Zukunft der EU-Türkei-Vereinbarung


VOLKERPABST, ISTANBUL


Dierasenden Entwicklungen der Corona-
Pandemie lassen inVergessenheit gera-
ten, dass noch vor zweiWochen eine ganz
andere Krise die Schlagzeilen in Europa
dominierte: der Streit mit derTürkei
um die Flüchtlingspolitik. Am Dienstag
stand diesesThema beim Gespräch zwi-
schen dem türkischen PräsidentenRecep
Tayyip Erdogan, der deutschen Bundes-
kanzlerin Angela Merkel, dem französi-
schen Staatschef Emmanuel Macron und
dem britischen Premierminister Boris
Johnson wieder imVordergrund. Statt
eines persönlichenTr effens in Istanbul
hielten die vier Staats- undRegierungs-
chefs eineVideokonferenz ab.


Misstöneim Vorfeld


Über allfällige Übereinkünfte, die beim
Gespräch erzielt wurden, war bis am
Abend nichts bekannt. TürkischeRegie-
rungsstellen bestätigten lediglich,dass
neben der Flüchtlingsfrage und dem
Virusauch die Situation inSyrien und
in Libyen besprochen worden sei.
Seitdem dieTürkei EndeFebruar ver-
kündet hatte, Flüchtlinge und Migranten
nicht mehr an derAusreise in die EU zu


hindern, hat es an Misstönen zwischen
denParteien nicht gemangelt. Der Höhe-
punkt wurde wohl erreicht, als Präsident
Erdogan vergangeneWoche dasVor-
gehen der griechischen Grenzschützer
gegen die Migranten mit Nazi-Methoden
verglich. Aus Brüssel war derVorwurf ge-
kommen, Erdogan unternehme mit der
Hoffnung verzweifelter Menschen einen
zynischen Erpressungsversuch.
Dennoch ist man auf beiden Seiten auf
eine Zusammenarbeit angewiesen.Die
Türkei ist aussenpolitisch und wirtschaft-
lich unter Druck. Die EU wiederum bringt
die harte Linie an derAussengrenze bei
aller ostentativen Unterstützung in Be-
drängnis. Die Kritik an Griechenlands
Aussetzung des Asylrechts, aber auch am
hartenVorgehender Grenzwächter wird
bereits jetzt lauter. Am Dienstag ver-
urteilte die Menschenrechtsorganisation
Human RightsWatch dieVorfälle an der
türkisch-griechischen Grenze.
Dass der Druck an dieser Grenze all-
mählich nachlässt, wird als gutesVorzei-
chen gewertet – gerade weil die türki-
scheRegierung von Anfang an steuernd
eingriff. Zwar harren wohl noch immer
mehr als tausendPersonen am Übergang
Pazarkule bei Edirne unter prekärsten
Bedingungen aus. Auch bleibt die tür-

kische Grenzöffnung laut Ankarawei-
terhin in Kraft. Allerdings berichtete die
«NewYorkTimes» amFreitag, dass die
Regierung Busse schicke, um Migranten
zurück nach Istanbul zu bringen.
Angela Merkel hatte bereits bei ihrem
letztenTr effen mit Erdogan imJanuar an-
gedeutet, dass Deutschland bereit wäre,
das sogenannte EU-Türkei-Abkommen
zu verlängern.Daran hat sich trotz den
Verwerfungen der letztenWochen nichts
geändert.Auch der griechische Minister-
präsidentKyriakos Mitsotakis, der die
türkische Grenzöffnung als asymme-
trische Kriegsführung bezeichnet hatte,
sprach am Montag gegenüber dem bri-
tischen «Guardian»von einerWin-win-
Situation, wenn das Abkommen fort-
geführt werde.

Blick aufSyrien


Die zwischen Brüssel und Ankara ge-
troffeneVereinbarung von 20 16 hat zu
einem drastischenRückgang der Migra-
tion nach Europa geführt. In dem Ab-
kommen verpflichtet sich dieTürkei,
syrische Flüchtlinge an derWeiterreise
zu hindern. Im Gegenzug beteiligt sich
die EU mitinsgesamt 6 Milliarden Euro
an denKosten für die Grundversorgung

dieserPersonen in derTürkei, etwa im
Bildungs- und Gesundheitsbereich.Dass
dieser Bedarf fortbesteht, wenn die Mit-
tel aufgebraucht sind, steht ausserFrage.
Weniger Unterstützung gibt es für die
integrationspolitischen Gegenleistun-
gen im Abkommen.Weder bei der visa-
freien Einreise für türkische Bürger in
den Schengenraum noch bei derVertie-
fung der Zollunion zwischen der EU und
derTürkei sindFortschritte zu erwarten.
Allerdings dürfte Erdogan ohnehin eher
aufRückendeckung in anderen Bereichen
hoffen, vor allem inSyrien.
Das ungleiche Kräfteverhältnis
gegenüberRussland ist seit den letz-
ten Verhandlungen offensichtlich. Zu-
dem ist der vereinbarteWaffenstillstand
äusserst brüchig.Mit einerWiederauf-
nahme der syrisch-russischen Offen-
sive gegen die letzteRebellenhochburg
in Idlib und dem damit zunehmenden
Flüchtlingsdruck auf die Grenze zur
Türkei muss jederzeit gerechnet wer-
den.Für die geforderte Flugverbots-
zone braucht Erdogan aber weniger die
Unterstützung der Europäer als jene der
Amerikaner. Und solange dieTürkei am
russischen Flugabwehrsystem S400 fest-
hält, ist auch in dieserFrage mitkeinen
Fortschritten zurechnen.

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Slowakischer


Aufbruch wird


verschoben


Kampf gege n Coronavirus verdeckt
Schwächen der neue n Regierung

mij.,Wien· Die politische Gefühlslage in
Bratislavaistgerade sehr widersprüch-
lich. Nach lediglich 13TagenVerhand-
lungen steht die neue Mitte-rechts-
Regierung bereit – und symbolisiert
eigentlich denAufbruch. «Die Slowakei
befindet sich an einemWendepunkt», er-
klärte Igor Matovic, den die Staatsprä-
sidentin Zuzana Caputova am Samstag
als Ministerpräsidenten vereidigen will.
«Nun liegt unser einziges Interesse darin,
die Coronavirus-Krise zu bekämpfen.»
Die neueRegierung will dabei die
Massnahmen der alten weiterführen und
auch kaum Änderungen an der Spitze
der Ministerien vornehmen. Zwar haben
sich in der Slowakei erst 91Personen mit
demVirus infiziert, doch die Zunahme
ist exponentiell, trotz Abriegelung des
Landes und Schliessung vieler Institutio-
nen. Matovic weiss, dass dem wirtschaft-
lich stark mit demAusland vernetzten
ostmitteleuropäischenLand eine tiefe
Krise droht, die die Handlungsfähigkeit
derRegierung stark einschränkt.
Dassvage bleibt, wofürdie slowaki-
sche «Kleeblatt»-Koalition aus vierPar-
teien darüber hinaus inhaltlich steht, ist
jedoch nicht allein auf diePandemie
zurückzuführen. MatovicsPartei «Ge-
wöhnliche Leute und unabhängigePer-
sonen» (Olano) ist auf seinePersön-
lichkeit ausgerichtet, der Wahlsieger
einPopulist, der seinen Erfolg fastaus-
schliesslich der Antikorruptionsrhetorik
verdankt.
Diese traf nach den Skandalen unter
den mehr als einJahrzehnt lang eigen-
mächtigregierenden Sozialdemokraten
und der damit verbundenen Ermordung
desJournalistenJan Kuciak den Nervder
Wähler. Auch die dreiJuniorpartner von
Olano, dieParteien«Wir sindFamilie»,
«Freiheit und Solidarität» sowie «Für
dieMenschen» sind jung und auf starke
Führungspersönlichkeiten zugeschnit-
ten.Alle gelten alsrelativ proeuropäisch.
Gemeinsam verfügen sie nun mit 95
von150 Sitzen über eine Mehrheit, die
Verfassungsänderungen erlaubt. Der
Wunsch nachradikalen Neuerungen ist
dabei in der Bevölkerung ebenso ausge-
prägt wie derReformbedarf, etwabei der
Justiz oder in der Sozialpolitik. Beide Be-
reiche sind allerdings heikel, ersterer aus
Gründen derRechtsstaatlichkeit, letzte-
rer, weil dieParteien imWahlkampfVer-
sprechen gemacht haben, die in Krisen-
zeiten erstrecht unerfüllbar sind. Die
Fallhöhe ist entsprechendgross.

ErstklassigerKlangkörper,
renommierte Gäste,
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CAMILLE
SAINT-SAËNS
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«Les introuvables I»


Mittwoch, 20. Mai 2020
19.30 Uhr|KKL Luzern,Konzertsaal
Luzerner Sinfonieorchester
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Hinweis: «Les introuvables II»
Klavierkonzerte Nr.4&
Dienstag, 26. Mai 2020
19.30 Uhr|KKL Luzern,Konzertsaal
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