Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 INTERNATIONAL 5


Der Sieg der Bürokraten


über die Lebenskünstler


Ausgerechnet in Guinea-Bissau haben die Politiker das Fasnachtstreiben zu Tode reglemen tiert


DAVID SIGNER, BISSAU


In Afrika ist der Karneval mitAus-
nahme der ehemals portugiesischen
Kolonien Moçambique,Angola, Kap
Verde und Guinea-Bissau kaum verbrei-
tet. Der Karneval in Guinea-Bissau ist
besonders legendär, weil dasLand nicht
nur bitterarm ist, sondern auch von un-
aufhörlichen Putschen und Krisen er-
schüttert wird; man kann sich kaum
einen schärferen Kontrast vorstellen
zwischen dem ausgelassenen, ja eksta-
tischenTr eiben imFebruar und dem
desolaten «Narcostaat».
Guinea-Bissau dient alsTr ansitland
für Kokain aus Südamerika.Vor allem
der demLand vorgelagerte Bijagos-Ar-
chipel ist ideal alsVersteck und Zwi-
schenlager; die fast hundert Inseln sind
schwer zugänglich und mehrheitlich nur
spärlich bevölkert. Es heisst, die höchs-
ten Militär- undRegierungskreise seien
in den Schmuggel involviert.Dabe-
kommt der Karneval eine besondere
Bedeutung: Zumindest einmal imJahr
kann die BevölkerungdieMisere ver-
ge ssen und unbesorgt feiern. Der Kar-
neval in demLand inWestafrika ist
aber noch aus einem anderen Grund
einmalig: Die Bewohnerkombinieren
dieFasnachtskostüme mit traditionel-
len, ethnischen Masken. Es gibtkeinen
«afrikanischeren» Karneval.
DiesesJahr jedoch verfiel dieRegie-
rung,die sonst kaum durch Reformen
auffällt, auf eine absurde Idee: Sie ver-
legte die Maskenumzüge, die vorher mit-
ten durch die Stadt führten und den Stras-
senrandineinePartymeile verwandel-
ten, inein Stadion weitabvom Zentrum.
Damit versetzte sie demVolksfest den


Todesstoss und nahm der gebeutelten Be-
völkerung noch den letzten verbliebenen
Spass desJahres. Gut,ganz kann man
den Guinea-Bissauern dieAusgelassen-
heit nicht austreiben.Vor allem Kinder
und Jugendliche strömen nachwievor
abends und nachts insFreie und vergnü-
gen sich auf der Praça dos Herois Na-
cionais vor dem Präsidentenpalast. Aber
was sich dort abspielt, unterscheidet sich
kaum vom Karnevalstreiben in anderen
Weltgegenden. Gerade das, was die lokale
Besonderheit ausmacht, wurde heraus-
geschnitten und ausgelagert. Übrig blei-
benTanz, Musik, standardisierteVerklei-
dungen,Tr avestie, Alkohol – das Übliche


halt.Das Einmalige und Einzigartige wird
zur «Kultur» erklärt, aus dem Alltag ent-
fernt und sterilisiert.Das ist dann das,
was man Modernisierung, Fortschritt
oder «Zivilisationsprozess» nennt.

Restvon Ausgelassenheit


DieUmzüge, oder bessergesagtParaden,
finden nun an zwei Abenden im Estadio
24 de Setembro statt. Schon in früheren
Jahren wurden die Strassen ab 16 Uhr
gesperrt.Das war sinnvoll, weil sowieso
keinAuto mehr durchkam. Die Blo-
ckade wird jedoch abstruserweise auch
diesesJahr aufrechterhalten.Dadurch
ist es für viele fast unmöglich, zum Sta-
dion zu gelangen. SelbstTaxis und Busse
dürfen nicht durch.Von der Innenstadt
dauert derFussmarsch dorthin mindes-
tens eine halbe Stunde, auf einer unge-
teerten Strasse durch ein unbewohntes
Gebiet, untersengender Sonne. Es gibt
überhauptkeinen Grund, die Strecke zu
sperren, weil sich in dieses Niemands-
land sowiesokeiner verirrt, ausser um
zum Stadion zu gelangen. Aber für Äl-
tere und Eltern mit Kleinkindern ist die
langeStrecke zuFuss kaum zu bewälti-
gen. UndFrauen haben nach dem Ende
derParade kaum Lust, in derDunkelheit
auf dieser abgelegenen, unbeleuchteten
Strasse nach Hause zu wandern.
Der staatliche Ordnungswahn gip-
felt darin, dass das Pseudospektakel aus

dem Stadion auf grossen Leinwänden
auf die Praça dos Herois Nacionais
übertragen wird.Das ist die moderne,
antiseptischeWeise, die Masken zu ge-
niessen: auf einem Bildschirm. Aber
nicht nur ist dieses vermittelte Leben
langweilig, es torpediert sogar den letz-
tenRest vonAusgelassenheit auf dem
Platz. Denn sobald die Übertragung los-
geht,erstirbt dasVolksfest; alle stehen
nur noch vor den Bildschirmen und star-
ren auf die Masken, die man ihnen weg-
genommen hat. Die Live-Übertragung
killt den letztenRest spontanen,kollek-
tiven Lebens. Aus denTeilnehmern wer-
den passive Zuschauer undKonsumen-
ten einer Secondhand-Show.

Verbotene Dekorationen


Früher waren die Strassen gesäumt von
originell dekoriertenFreiluftbeizen, so-
genanntenBaracas, von denen aus man
demTr eiben zuschaute und so zugleich
einTeil davon war. Nun ging die obrig-
keitliche Ordnungswut so weit, dass so-
gar die Dekorationen verboten wurden.
Angeblich aus Feuerschutzgründen.
«Das ist der traurigste Karneval, den
ich je erlebt habe», sagt eineFrau, die in
einer dieser «gereinigten»Baracas lust-
los an einem Sagres-Bier nippt.
Ironischerweise liegt gleich neben der
Praça mitihren Überbleibseln des Kar-
nevals das Ethnologische Museum. Dort
kann man sich die Masken anschauen, die
den KarnevalskostümenPate standen.
Beim Betrachten derVitrinen und Schau-
tafelnkommt man nicht umhin,Paralle-
len zu ziehen zwischen der Musealisie-
rung einerKultur und dem, was momen-
tan mit dem Karneval passiert. In dem
Moment, wo man eine Maskeaus dem
Leben und dem rituellen Zusammen-
hang herausreisst,an dieWand hängt, auf
eine Bühne bringt oderinein Stadion
sperrt, wird sie zum Gegenstand, zum Ar-
tefakt, zurFolklore – tot.Das Museum ist,
wie so viele andere Museen in Afrika, an
diesemTag gähnend leer. Die museale
Einsargung interessiert die Einwohner
kaum, so wenig wie der ins Estadio 24
de Setembro verbannte Karneval.
Auch der Museumsführer ärgert sich
über den Ordnungswahn derRegie-
rung, die sonst vorkeinem Drecksge-
schäft zurückschreckt. Er sitzt selbst
im Organisationskomitee des Karne-
vals, weigert sich jedoch, ins Stadion
zu gehen. Die meisten imKomitee
seien gegen diese Schnapsidee gewe-

sen, sagt er. «DieRegierungverkün-
dete, man müsse innovativ sein und die
Bevölkerung vor den Belastungen und
Emissionen des Karnevalsschützen»,
sagt er spöttisch. InWirklichkeit will
niemand geschützt werden, im Gegen-
teil. Die Bissauer lieben diese «Emis-
sionen»– die nächtlicheMenschen-
menge, die Musik, denLärm, das Ge-
lächter, das verrückte Chaos, die Ero-
tik. «Das alles haben sie uns gestohlen»,
sagt er. «DasVolk wurde enteignet.»

Langeweile undVolkserziehung


Zuallem Unglück werden die Defi-
lees im Stadion auch noch alsWettbe-
werb aufgezogen. Entlang derRenn-
bahn, wo die nummerierten Masken
paradieren,sitzen wichtigtuerisch die
Jurymitglieder an ihrenTischchen, vor
sich Stapel vonPapier. Sie sind die
VIP des Anlasses. Hinter jedem von
ihnen steht steifein Polizist, der sie be-
wacht. Was für eine unsinnige Quan-
tifizierung, dieVerkleideten ineinen
Rang aufeiner Liste zu zwängen!Da-
mit auch ja niemand denMasken zu
nahekommt, sind überall Uniformierte
postiert, die den Zuschauern zu allem
Übel auch noch die Sicht verstellen.
NurFotografenkommen an ihnen vor-
bei.Einneugieriges, tanzendes Mäd-
chen wird sofort weggejagt.Tatsäch-
lich erklärt einFunktionär, die Defilees
seien wegen der Medienins Stadion
verlegt worden. Mit anderenWorten:
Es geht nicht mehr um das unmittel-
bare Erleben, sondern um optimale
Filme undFotos, mit möglichst wenig
Volk als «Störung».Später kann sich
dieses ausgesperrteVolk dieAufnah-
men dann zu Hause amFernseher oder
in einem Magazin anschauen.
Früher war man alsJournalist oder
Fotograf einfachTeil der Menge. Heute
braucht es eine Akkreditierung, die 160
Frankenkostet. Auch das gehört dazu:
Jeder hat seinen zugewiesenen Platz,
und derkostet. DieVerwaltung bemäch-
tigt sich sogar des Karnevals, die Stunde
der Bürokraten ist gekommen.
Ist man wederJurymitglied noch
Medienvertreter, hatmanPech gehabt.
Von den normalen Plätzen aus sieht man
nämlich kaum etwas. Alkohol gibt es
natürlich nicht, höchstens Mineralwasser
und Coca-Cola. Und von Zeit zu Zeit
verteilenFreiwillige Präservative und
Femidome, mitsamt Aids-Informations-
broschüren.Aber die Gefahr von Exzes-

sen ist in diesemRahmen sowieso mini-
mal. Die Organisatoren tragenT- Shirts,
die imRahmen derVolkserziehung bei-
spielsweise davor warnen, auf die Strasse
zu pinkeln. Über der endlich überschau-
undkontrollierbar gewordenenVorfüh-
rung kreisen Drohnen. DieVeranstal-
tung beginnt mit einer Militärparade. Als
schliesslich die Masken auftreten, schreit
einKommentator permanent ins Mikro-
fon und «erklärt» das Geschehen.Dau-
ernd sprichtervon«Tradition», «nationa-
lenSymbolen» und «kulturellem Erbe».

SolcheAusdrücke sind ein todsicheres
Zeichen des Endes. Alles an dieser desin-
fizierten,konservierten «Kultur» ist pro-
grammiert und vorhersehbar geworden,
alles Überraschende, Irritierende und
«andere» ausgemerzt.

LetzteRefugiendes Lebens


Immerhin schaffen wir es dank einem
Tipp, die Maskengruppe «Chon dePe-
pel» in ihrem Quartier zu besuchen. In
einem Gebäude mit Graffiti-übersäten
Mauern und eingestürztemDach stehen
die riesigen Masken für das Defilee be-
reit. ImVorhof verpassen ihnen die Mit-
glieder derTr uppe wenige Stunden vor
demAuftritt noch den letzten Schliff, er-
neuern die Bemalung, bessern Risse aus,
probierensie an. Die Masken ausPapp-
maché sind riesig wie Skulpturen. Beim
Abmarsch ist dieFarbe noch feucht.
Geduldig erklärt der Chef der
Gruppe, Inocencio, aus welcherRegion
und von welcher Ethnie jede einzelne
stammt und was sie bedeutet. Manche
stellen traditionelleKönige dar, man-
che Geister. Einige verweisen auf Ritu-
ale wie Initiationen, andere veranschau-
lichen Allegorien, Geschichten oder
Redensarten.Auch Persönlichkeiten
wie der Staatsgründer Amilcar Cabral
sind vertreten. Aber alles Museale ist
ihnen fremd.«Wirbewahren sie nicht
auf», sagt Inocencio. «Wir fertigen sie
jedes Jahr wieder neu und anders.»
Anders gesagt:DieTr adition befindet
sich in einem permanenten Prozess der
Umarbeitung, Aktualisierung und Neu-
erfindung. Nichts Staubiges oderVerros-
tetes haftet ihr an. Zwischen den Arbei-
ten wird gekocht, gegessen, getrunken,
geplaudert, getrommelt, gesungen, ge-
flirtet. Die Lebensbereiche, die imWes-
ten säuberlichgetrennt sind, das Heilige
und das Alltägliche, das Spirituelle und
dasWilde, sind hier noch ganz ungeteilt.
Aber sicher wird man auch diesen letz-
tenRefugien des«Vormodernen» bald
den Garaus machen.

Die zwei Präsidenten


dai. Bissau· Das Motto des diesjähri-
gen Karnevals lautete «Stärkung der
nationalen Identität und sozialeTr ans-
formation». Das klingt wie einWitz.
In diesenTagen kam die Bevölkerung
von Guinea-Bissau nämlich in den Ge-
nuss von nicht nur einem, sondern zwei
Präsidenten.Dabei bringt ihnen schon
einer meist nur Scherereien. Der bis-
herige StaatschefVaz wurde 20 19 ab-
gewählt, was niemanden ausser ihn
selbst erstaunte. Die Beamten waren
monatelang nicht mehr bezahlt wor-
den, die Schulen geschlossen, dieJustiz
ausser Betrieb. Zum neuen Präsiden-
ten wurde der ehemalige General Em-
baló gewählt. Der unterlegene Kandidat
Pereira sprach von Betrug und focht das
Resultat gerichtlich an.
Embaló mochte den Gerichtsent-
scheid nicht abwarten,erklärte sicham



  1. Februar, gleich nach dem Ende des
    Karnevals, in einer Zeremonie in einem
    Hotel zum neuen Präsidenten und zog in
    denPalast ein.Vor den Ministerien pos-
    tiertensich bewaffneteSoldaten, auch
    dasRadio- undFernsehstudio wurde
    von der Armee besetzt.Darauf erklärte
    die Oppositionihrerseits den Präsiden-
    ten der Nationalversammlung, Casama,
    zum Interimspräsidenten. Nach weni-
    genTagen trat er jedoch wieder zurück,
    angeblich wegenTodesdrohungen.Wie
    immer sind dieVerhältnisse undurch-
    sichtig, aber der Militäraufmarsch war
    wohl eine Drohung an dieAdresse von
    Embalós Gegnern. Denn trotz anders-
    lautendenVerkündigungen ist Embaló
    ein Garant dafür, dass Drogenschmug-
    gel undKorruption so weitergehenkön-
    nen wie bisher. Das dürfte das Einzige
    sein, was die Armeeführung interessiert.


Umzug einer Maskengruppe im Stadionvon Bissau. KATJA MÜLLER

Es gibt einen scharfen
Kontrast zwischen dem
ekstatischenTreiben
im Februar und dem
desolaten «Narcostaat».

Der Museumsführer
ärgert sich über
den Ordnungswahn
der Regierung,
die sonst vor keinem
Drecksgeschäft
zurückschreckt.
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