Neue Zürcher Zeitung - 18.03.2020

(Dana P.) #1

Mittwoch, 18. März 2020 MEINUNG &DEBATTE 9


Verhaltensregeln in der Corona-Krise


Das Virus geht uns alle an, aber einige mehr als andere

Der Bundesrat und das federführende Bundesamt
für Gesundheit (BAG) machen in der Corona-
Krise vieles richtig. Es ist nicht einfach, bei einem
so dynamischen Prozess wie einerPandemie zur
richtigen Zeit die richtigen Massnahmen zu ver-
hängen. Greift man zu früh zu drastischen Mitteln
wie einer allgemeinenAusgangssperre, legt man
unnötigerweisedas Wirtschafts- und Sozialleben
im Land lahm. Ist man zu zögerlich und gehen die
Massnahmen zu wenig weit,droht derKollaps des
Gesundheitssystems. Dann sterben viele Erkrankte,
die sonst hätten gerettet werdenkönnen.
In solch volatilen Zeiten gibt es für dieRegierung
nur ein zielführendesVerhalten. Sie mussTag für
Tag die Situation weltweit und imLand analysieren
und ihre Massnahmen und Empfehlungen zuhan-
den der Behörden und der Bevölkerung laufend an-
pas sen. Das haben Bundesrat undBAGin den ver-
gangenenWochen gemacht. DerVorwurf, sie hät-
ten früherund aggressiver auf die Bedrohung durch
das neueVirus reagieren müssen,stammt meist von


Kreisen, die nicht das gesamteWohl desLandes im
Auge haben, sondernPartikularinteressen.
Denn wenn das einzige Ziel darin bestehen
würde, der Pandemie in der Schweizkeinen Nähr-
boden zu geben, dann hätte man schon beim ers-
ten Fall die gesamte Bevölkerung in Quarantäne
stecken müssen – und diePolizei hätte darüber ge-
wacht, dass niemand das Haus verlässt. Eine sol-
che Strategie wäre zuRecht von den allermeisten
nicht verstanden worden.Auch deshalb nicht, weil
bei einem neuenVirus, gegen das die Bevölkerung
keinen Immunschutz hat, mit einerrelativ hohen
Durchseuchung gerechnet werden muss.
Zu Beginn desAusbruchs haben die Behör-
den versucht,mit Contact-Tracing die Infektions-
kett en zu unterbrechen – dabei werden nicht nur er-
kranktePersonen isoliert, sondern auch ihre engen
Kontaktpersonen.Das war richtig, solange die Hoff-
nung bestand, die Epidemie in der Schweiz stop-
pen zukönnen.Dass das nicht gelungen ist, hat mit
den Eigenschaften desVirus zu tun. So ist es besser
übertragbar, als man das zu Beginn der Epidemie
angenommen hat. Der Bund hat danach seine Stra-
tegiegeändert.Fortan sollten die wertvollenRes-
sourcen nicht mehr eingesetzt werden, um jede ein-
zelne Übertragungskett e aufzuspüren. Es galt jetzt
nur noch, besonders gefährdete Personen vor einer
Infektion zu schützen: Senioren undPersonen mit

chronischen Krankheiten.Denn dieseMenschen
können nacheiner Ansteckung schwererkranken
und sogar sterben.Kinder und jüngere, gesunde Per-
sonenerkranken dagegen meist nur leicht.
So weit, so gut.Kritisieren muss man den Bund
allerdings dafür, dass er bei derKommunikation
der jetzt gültigenVerhaltensregeln eine Botschaft
unter denTeppichkehrt: dieVerantwortung der
vulnerablenPersonen selbst. DiesesVersäumnis
sorgt in der Bevölkerung für grosseVerunsicherung
und lässt Nebenthemen wie die vermeintliche Ge-
fahr vonBargeld spriessen.
Eigentlich ist es klar:Wenn Senioren und Chro-
nischkranke nicht an Covid-19 erkranken und die
Spitälerverstopfen sollen,dann ist es in erster Linie
ihre Verantwortung, alles vorzukehren, damit sie
sich nicht mit demVirus anstecken.Für selbstän-
dige (vulnerable)Personen bedeutet das, dass sie
möglichst zu Hause bleiben – und wenn sie nach
draussen gehen, den geforderten Abstand zu ande-
ren Personen einhalten.VerletzlichePersonen in
Institutionen müssen vor anderen Personen ge-
schützt werden, indem man zum Beispiel ihren Be-
such auf ein absolutes Minimumreduziert.
Erst in zweiter Linie sind die jungen und gesun-
den Personen gefordert. Hier geht es um die viel-
gepriesene Solidarität. Die Hauptverantwortung
der Jungen und Gesunden liegt darin,keine vulne-

rablen Menschen anzustecken.Wenn sie dagegen
andere junge und gesundePersonen infizieren, ist
das kaum ein Problem – solange die Schutzmauer
zwischenJung und Alt sowie Gesund und Krank
funktioniert. Und darum geht es bei den geforder-
ten Verhaltensregeln.
Warum der Bund hier nicht mehr Klartext
spricht, ist unverständlich. Man hat den Eindruck,
dass bei derAusarbeitung der Empfehlungen so
lange gefeilt wurde, bis eine in alle Richtungen aus-
tarie rte Version vorlag. Hat man Angst, jemandem
auf den Schlips zu treten?Das erinnert an eine frü-
here Kampagne der Aids-Hilfe Schweiz.Auf dem
Plakat war eine nette Grossfamilie abgebildet, von
der Grossmutter bis zum Kleinkind.Dazu stand:
«Aids kann jeden treffen!»Auch das stimmt – aber
auch nur bedingt.Denn die Grossmutter dürfte mit
der HIV-Epidemie weniger zu tun haben als der
sexuell aktive homosexuelle Mann. Letzteren mit
Präventionsbemühungen zu erreichen, bringt des-
halb mehr, als die gesamte Bevölkerung pastoral
zur Solidarität zu ermahnen.
BeimThema Aids hat dasBAGvon Anfang an
Klartext gesprochen.Damit hat es die Epidemie in
den Griff bekommen und sich international einen
Namen gemacht. EinesolcheHaltung mit mehr
fokussierten Botschaften würde mansich auch in
der Corona-Krise wünschen.

Lahmgelegte Wirtschaft


Der Bundesrat muss das Tempo erhöhen


Der zweite grosseAuftritt derLandesregierung
hat am Montag einerPanik zwar entgegengewirkt.
Die Magistraten machtenerneut einenkompe-
tenten und durchsetzungsstarken Eindruck. Der
wirtschaftlicheTeil der Krise kam jedoch eindeu-
tig zu kurz. Zwar hat der Bundesrat amFreitag ein
Paket von zehn Milliarden Franken angekündigt.
Davon sind allein acht Milliarden für dieKurzar-
beitentschädigungreserviert.Wenn allerdings in
der Schweiz jederVierte vonKurzarbeit betroffen
würde, ist dieses Geld nach zwei Monaten weg. Der
Stillstand des öffentlichen Lebens lässt ein solches
Szenario nicht unwahrscheinlich erscheinen.Damit
wird klar: Der Bundesrat muss bereit sein, deutlich
mehr Geld in die Hand zu nehmen. Bundespräsi-
dentin Simonetta Sommaruga sagte denn auch, die
Regierung wisse, dass es mehr brauchen werde.
Es kann vorerst nicht darum gehen, ein klassi-
schesKonjunkturpaket zu schnüren.Wer zu Hause
bleiben muss, braucht weniger Geld als sonst.Viel-


mehr muss es darum gehen, den Geldfluss in der
Wirtschaft amLaufen zu halten. Damit rücken
Liquiditätshilfen in denVordergrund. Der Staat
kann etwa als Bürge fürBankkredite auftreten–
hier hat der Bund auf bestehende Möglichkeiten
für kleinere und mittlereFirmen aufmerksam ge-
macht. Solche Hilfenkönnen indes auch bei grös-
seren Unternehmen nötig sein.
Bisher nicht in den Instrumentenkasten aufge-
nommen hat der Bundesrat einen Steueraufschub,
etwa für die Mehrwertsteuer. Das sollte er nach-
holen. Schliesslich hat er eine MilliardeFranken
für einenRettungsfonds inAussicht gestellt, der
direkt betroffenenFirmen hülfe. Bis zu einem ent-
sprechendenParlamentsbeschlusskönntees je-
doch noch vieleWochen dauern. Man sollte aber
keine Zeit verlieren.
Gewiss gilt auch in einer Krise, dass Selbstän-
dige undFirmen zunächst auf eigeneReserven
zurückgreifen sollten, bevor es Hilfe gibt. Und da
hört man öfter, dass man einigeWochen bis viel-
leicht drei Monate durchstehenkönne. Es braucht
aber einePerspektive, wenn der Stillstand länger
andauert. Je schneller deshalb der ganze Instru-
mentenkasten operabel ist, desto besser ist das für
die angeknackste Moral und die Erhaltung der
Arbeitsplätze.

Allfällige Hilfen sollten alsDarlehen vergeben
werden, damit der Staat die Möglichkeit hat,sich
das Geld später wieder zurückzuholen.Bei unbüro-
kratischer Hilfe ist dabei nicht zu vermeiden, dass
manauch Unternehmen unterstützt, die es nicht
unbedingt nötig haben.Das muss man wohl oder
übel in Kauf nehmen.Firmen sind gut beraten,jetzt
ihr Geld zusammenzuhalten.Dies heisst auch,Boni
für 2019 und Dividendenausschüttungen aufzu-
schieben.Da die meisten Generalversammlungen
noch nicht stattgefunden haben,ist Letzteres mach-
und zumutbar. Es darf jedenfalls nicht passieren,
dass Aktionäre eine Dividende erhalten und eine
Firma nur wenig später um Staatshilfe nachsucht,
wie dies jetzt in der amerikanischen Airline-Bran-
che passiert. DieFinanzkrise hat gezeigt, dass die
positive Haltung gegenüber der Marktwirtschaft
erodiert, wenn Boni oder Dividenden fliessen und
wenig später staatliches Geld.
Die Schuldenquote der öffentlichen Hand liegt
in der Schweiz unter 40 Prozent – der Schulden-
bremse seiDank. Damit ist dasLand in einerkom-
fortablenLage und kann glaubhaft ein Hilfspaket
für Unternehmen,Selbständige und ihre Mitarbei-
ter anbieten. DieRegierung hat gut begonnen,
muss angesichts der Ereignisse abernachfassen und
das Tempo erhöhen.

Firmen sind gut beraten,


jetzt ihr Geld zusammen-


zuhalten. Dies heisst auch,


Boni für 2019 und


Dividendenausschüttungen


aufzuschieben.


Swisscom-Netze amAnschlag


Netflix ist kein Menschenrecht


Normalerweise freuensich Unternehmen über
jedenFranken Umsatz. Seit die Corona-Krise die
Schweiz im Griff hält, ist das anders. Detailhändler
appellieren in Inseraten an die Bevölkerung, Hams-
terkäufe bitte zu unterlassen.Wer knappe Güter
horte, sei mitverantwortlich dafür, dass andere leer
ausgingen. Einrandvoll mit WC-Papier gefüllter
Einkaufswagen ist in der derzeitigen Notlage zum
Inbegriff asozialenVerhaltens geworden.
Bei Gütern des täglichen Gebrauchs sind Ur-
sache undWirkung vermeintlich für jedermann
sichtbar. Schuld an den leeren Regalen sind egois-
tische Käufer – nicht etwa Migros oder Coop. Hier-
über scheint ein breiter gesellschaftlicherKonsens
zu bestehen.Swisscom kann derweil nicht auf sol-
che Nachsicht zählen. Als am Montag die Infra-
struktur desTelekomkonzerns an den Anschlag



  • und darüber hinaus – kam, war die Schuldfrage
    ebensorasch geklärt.Allerdings mit umgekehrtem
    Vorzeichen. Der «blaue Riese» habe wieder ein-


mal seine Unfähigkeit bewiesen, lautete derTenor.
Möglicherweise ist das Blitzurteil der öffentlichen
Gerichtshöfekorrekt. Es kann durchaus sein,dass
der enorme Mehrverkehr auf den Netzen mit
einer besserenVorbereitung hätte bewältigt wer-
den können. DieKonkurrenten Salt, Sunrise und
UPC kämpfen jedenfalls nicht mit ähnlichen Pro-
blemen.Möglich ist aber auch das Gegenteil.Näm-
lich dass eine Überlastung der Netze fürSwisscom
genauso unvermeidlich war wie die leerenRegale
bei den Detailhändlern.Wir wissen es nicht.Und es
ist auch nicht sonderlichrelevant. Es ist jetzt nicht
der Zeitpunkt für Schuldzuweisungen.
Priorität hat in der gegenwärtigenAusnahme-
situation,dass diejenigen Akteure, die für dieLan-
desversorgung wichtige Dienste erbringen, nicht
an ihrer Arbeit gehindert werden. Im bestenFall
erfordert dies von der Bevölkerungkeine Verhal-
tensänderung. Der grösste Netzbetreiber desLan-
des bekäme die Situation auch so in den Griff;
die Engpässe undAusfälle erwiesen sich als Kin-
de rkrankheiten.Für dieses Szenario spricht, dass
Swisscom laut eigenen Angaben vor allem mit der
gestiegenen Zahl derTelefongespräche Mühe be-
kundet. Bei der Kapazität auf demDatennetz ver-
füge man hingegen noch überReserven. –Trotz-
dem sollte sich die Bevölkerung auch auf ein weni-

ger erfreuliches Szenario einstellen. Gestern for-
derte der Bundesrat dazu auf, «datenfressende»
Dien ste wieVideo-Streaming zurückhaltend zu
nutzen. Falls gravierende Engpässe entstünden,
habe der Bund die Möglichkeit, nichtversorgungs-
relevante Dienste einzuschränken oder zu blockie-
ren. Im Klartext heisst das:AlsUltimaRatio droht
ein e Abschaltung von Netflix,SwisscomTV, On-
line-Games und ähnlichem«Freizeitverkehr». In
Zeiten von Social Distancing und Selbstisolation
wäre dies eine einschneidende Massnahme.
Zwar scheint dieLandesregierung dafür erst das
Terrain zu sondieren. Der Bundesrat appellierte
nicht etwa öffentlichkeitswirksam an einer Presse-
konferenz oder in einem Communiqué an die digi-
tale Vernunft. Der «Aufruf» beschränkt sich bis
jetzt auf eine Antwort einer Sprecherin desKom-
munikationsdepartements (Uvek) zu einerAnfrage
dieser Zeitung. Das heisst indessen nicht, dasser
unvernünftig ist.Denn wenn dieKommunikations-
netzeihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben, ent-
wickelt sichBandbreite zu einem knappen Gut. Ge-
nau wieToilettenpapier oder Atemschutzmasken.
Die Bevölkerung hat es in der Hand, dank einem
massvollen Umgang mitDaten dazu beizutragen,
dass der Bund seine Drohung nicht wahr machen
muss. Netflix istkein Menschenrecht.

Als Ultima Ratio droht eine


Abschaltung von Netflix,


Swisscom TV und ähnlichem


«Freizeitverkehr».


Die Bevölkerung hat es


in der Hand,


dazu beizutragen, dass


der Bund diesen Schritt


nicht vollziehen muss.


STEFAN HÄBERLI
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