Die Welt - 18.03.2020

(Jeff_L) #1

O


pernaufführungen und Orches-
terprogramme als Live-Darbie-
tungen per Internet und Geister-
konzert im leeren Saal, die voran-
schreitenden Corona-Einschrän-
kungen lassen keine Ansammlungen mehr zu,
die Theater mussten alle sogar ihren Probenbe-
trieb einstellen. Jetzt schlägt die Stunde des
Konserven-Streamings. Und der Minigruppen-
Initiative, sprich: der Kammermusik.

VON MANUEL BRUG

Neben einer Unzahl von Künstlern, die auf
Twitter oder Facebook für Spontandarbietungen
online gehen, haben viele Klassik-Institutionen
gegenwärtig ihre Archive und Streamsammlun-
gen kostenfrei geöffnet. Manche senden täglich,
andere ausgewählt. Hier eine erste Übersicht
lohnender Gratis-Portale, weitere Häuser, etwa
die Deutsche Oper und das eben erst geschlosse-

ne Royal Opera House Covent Garden werden
folgen, sobald Rechte abgeklärt sind. Strammer
Streamer, wie etwa die Hamburger Elbphilhar-
monie oder Londons Kammermusikmekka Wig-
more Hall, haben freilich gegenwärtig zu wenig
Content, frischer wird auch nicht hinzukom-
men. Andere haben eben nur sich selbst, wie et-
wa das Gotenborg oder das Detroit Symphony
Orchestra, da ist manches interessant, anderes
nicht. Und noch ein Extra-Tipp für den 20. März:
Da gibt es um 19 Uhr im ORF und auf Mezzo.tv
(kostenpflichtig) einen Probenzusammen-
schnitt der ausgefallenen „Fidelio“-Premiere
von Christoph Waltz und Manfred Honeck.

ARTE CONCERT


Die universellste Plattform, Beat oder Beetho-
ven, Oper oder Olala, alles ist da, für jede Ge-
schmack, immer und gleichzeitig. Da werden
Avantgarde-Freaks Futter finden, aber auch kon-
servative Stargenießer (http://arte.tv/de/arte-
concert). Es gibt aktuelle Konzerte und alte Auf-
zeichnungen. Gerade ganz besonders viel zum


  1. Geburtstag von Ludwig van. Beethoven, der
    natürlich auch hier als audiovisueller Höhe-
    punkt gefeiert werden sollte. Endlich einmal
    kann man hier in die Untiefen des Archivs hinab-
    steigen und sein schlechtes Gewissen be-
    schwichtigen, weil man früher nie Zeit dafür hat-
    te. Und es lassen sich sicherlich erstaunliche
    Entdeckungen machen – dank unserer Rund-
    funkgebühren.


WIENER STAATSOPER


In Wien wäre am 18. März Wagners „Walküre“
auf dem Spielplan gestanden. Die gibt es auch
tatsächlich, ab 17 Uhr auf dem Computer. Denn
die Wiener Staatsoper (http://staatsoperli-
ve.com)ist zwar geschlossen, spielt aber täglich
online kostenlos und meist sogar dass, was regu-
lär angesetzt gewesen wäre, in diversen Beset-
zungen. Denn seit einer Dekade ist auch diese
altmodische Institution ein Streaming-Vorreiter
mit Opern- und Ballettaufzeichnungen. Bei den
Konserven sind faule Eier dabei und grandiose
Vokalsträuße, so wie im echten Opernleben. Der
Spielplan steht bereits bis zum 2. April. Sende-
start stets um halb acht (Wagner um fünf). Ein-
fache Anmeldung, Untertitel in acht Sprachen.
Für 24 Stunden verfügbar. Aktueller Tipp: heute
„Tri Sestri“ von Péter Eötvös.

DIGITAL CONCERT HALL


Auch die Berliner Philharmonikerhaben ihre
Hausaufgaben gemacht und inzwischen in über
zehn Jahren ein Archiv aus 600 Konzerten ange-
sammelt (http://digitalconcerthall.com). Da gibt
es die kompletten letzten Spielzeiten in HD und
4K, professionell gefilmt und ausgesteuert. Dazu
ältere Dokumente und aufgekaufter Inhalt,
Stunden von Interviews und einige Dokumenta-
tionen. Da kann der Thielemann-Tiger und der
Petrenko-Panter, die Rattle-Rennmaus, die Ab-
bado-Gottesanbeterin, die Karajan-Königskobra
und der Haiting-Haflinger satt werden. Früher
kostenpflichtig, ist hier zunächst für einen knap-
pen Monat alles frei – wenn man sich bis zum 31.
März anmeldet.

METROPOLITAN OPERA


Das größte TheaterAmerikas hat ebenfalls sein
Archiv aus TV-Aufzeichnungen und Kinoüber-

tragungen weit aufgemacht und sendet – wie bei
den Oscars – jede Nacht ab halb zwei Uhr mittel-
europäischer Zeit für lau eine Musiktheaterpre-
ziose (http://metopera.org). Manche kitschig,
andere atemraubend, mit allen Big Names des
Business. Man kann freilich auch beruhigt aus-
schlafen, alles steht 20 Stunden zur Verfügung.
Warum also nicht am 20. zum Brunch die neue
„La Traviata“ in „Beauty & the Beast“-Schnör-
keloptik, aber mit Diana Damrau, dem Alfredo-
Debüt von Juan Diego Flórez und Yannick
Nézet-Séguin am Pult?

STAATSOPER UNTER DEN LINDEN


Corona-TV Unter den Linden Berlins (http://
staatsoper-berlin.de/de/staatsoper/news/un-
ser-taegliches-video-on-demand-programm-
kostenlos-fuer-sie). Nachdem man, wie eigent-
lich geplant, die aktuellen Premieren im leeren
Saal nicht mehr streamen darf, hat die Staats-
oper in ihrem, natürlich um Daniel Barenboim

zentrierten Opern- und Konzertarchiv ge-
kramt. Man versucht – mit Wiederholungen –
seit 16. März den Spielplan abzubilden, hat
aber nicht soviel Content wie in Wien. Jeweils
um 12 Uhr mittags wechselt das 24 Stunden zu-
gängliche Stück – Oper Sinfoniekonzert, Bal-
lett. Unter den Streams befinden sich der eben
erst aufgezeichnete „Der Rosenkavalier“ von
André Heller und Zubin Mehta, aber auch
Hardcore-Avantgarde wie Beat Furrers „Vio-
letter Schnee“. Oder der Brahms-Zyklus der
Staatskapelle aus Buenos Aires.

OPÉRA DE PARIS


Die Pariser Oper (http://operadeparis.fr/magazi-
ne/manon-en-replay) fängt am 17. März um 19.
Uhr unter dem Hashtag #LOPERACHEZTOI
mit dem Streaming an. Man startet mit der der
Aufzeichnung, der eigentlich für die an diesem
Tag vorgesehenen brandneuen Massenet-„Ma-
non“ mit Pretty Yende und Benjamin Bernheim.
Die wird sieben Tage zugänglich sein, dann folgt
die nächste Oper, vermutlich der relativ frische
„Don Giovanni“. Bis Mai sind zudem die Auf-
zeichnungen der absolut sehenswerten Rameau-
Oper „Les Indes galantes“, des Balletts „Gisèlle“
sowie ein Tschaikowsky-Zyklus des Orchesters
unter Philippe Jordan ständig zugänglich. Und
es gibt weiterhin die Videoplattform 3e Scène
mit schrägen und experimentellen, eigenprodu-
zierten Videoclips um Oper und Tanz.

BAYERISCHE STAATSOPER


In München(http://Staatsoper.tv) wollte man
mutig livestreamen und wurde von den ver-
schärften Maßnahmen überrollt. Die Jahrespres-
sekonferenz und ein geschrumpftes Akademie-
konzert gingen noch vor leerem Haus über die
Bühne, jetzt musste man auf ein sehr überschau-
bares, aber qualitätsvolles, je zwei Wochen ab-
rufbares Angebot aus alten Livestreams reduzie-
ren: Dabei sind die vorletzte Premiere mit dem
Bartók-Doppelabend, „Der Troubadour“ mit Jo-
nas Kaufmann und Anja Harteros sowie das Ba-
lanchine-Ballett „Jewels“. Vielleicht wird ja noch
nachgelegt? Inhalte gäbe es genug...

OPERA VISION


Auf der von der EU geförderten Videoplattform
(http://Operavision.eu) sind 29 Partnerhäuser
und -Festivals aus 17 Ländern vereint. Und die
bieten – mit dreisprachigen Untertiteln – gegen-
wärtig 21 Opern an. Da findet der Gourmet seine
Spezereien und auch der Raritätenschnüffler
Trüffel wie Moniuszkos polnische Nationaloper
„Halka“ aus Warschau, Erich Wolfgang Korn-
golds rarer Venedig-Einakter „Violanta“ aus Tu-
rin, eine grandiose Dvorak-„Rusalka“ aus Ant-
werpen oder die Barry-Kosky-Inszenierungen
von Henzes „Bassariden“ und Weinbergs „Früh-
lingsstürme“ aus der Komischen Oper Berlin.
Und sogar absolut Schräges wie Ivan Zajcs pa-
triotische Kroatenoper „Nikola Šubić Zrinjski’“

Und sogar absolut Schräges wie Ivan Zajcs pa-
triotische Kroatenoper „Nikola Šubić Zrinjski’“

Und sogar absolut Schräges wie Ivan Zajcs pa-


aus Zagreb wird offeriert. Mehr Content, heißt
es jetzt, folgt sogar noch.

FÜR FORTGESCHRITTENE OPERNFREAKS


WWWer immer mal seine Bildungslücken schließener immer mal seine Bildungslücken schließen
wollte und jetzt viel Zeit hat: Anlässlich des Ju-
biläums der 100. Händelfestspiele, die ab Mitte
Mai in Göttingen steigen sollten, aber jetzt ab-
gesagt wurden, bietet NDR Kultur(http://

ndr.kultur) bis zum 30. September zehn unbe-
kannte Opern aus den Jahren 2009 bis 2019 als
Stream an. Etwa „Lotario“, „Imeneo“, „Fara-
mondo“ – mal zeitgenössisch, mal historis-
tisch. Zusammen mit der Unitel zeigt das Ros-
sini Opera Festival Pesaro(http://rossiniopera-
fffestival.it/archivio-news)gegenwärtig für je-estival.it/archivio-news)gegenwärtig für je-
weils 24 Stunden unter dem Logo „Soirées mu-
sicales“ Rossini-Rarissimia: am 18. März „Zel-
mira“, am 21. „Sigismondo“, am 24 „Adelaide di
Borgogna“ usw. Wer immer noch nicht genug
hat: Das Teatro Regio Torino(http://teatrore-
gio.torino.it/en)bietet unter dem Hashtag
#operaonthesofa jeden Tag einen mit einer ein-
zigen Kamera in der Totalen abgefilmten Gene-
ralprobenakt, der dann auch weiterhin zu se-
hen ist – wie Verdis kompletter „Nabucco“ und
Cimarosas „Die heimliche Ehe“.

SSCREENSHOTS DIE WELTCREENSHOTS DIE WELT

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WWWie wirie wir


KLASSIK


sehen, ohne in die


Oper zu gehen


Die Berliner Philharmoniker tun es, die Bayerische


Staatsoper tut es: Immer mehr Opernhäuser,


Orchester und Klassikstars geben über soziale


Medien Konzerte und Musiktheater für alle.


Wie kann man sie streamen? Ein Überblick.


In Zeiten der Krise öffnen die
Staatsopern und Philharmo-
niker kostenlos und in der
Regel leicht zu streamen ihre
Schatztruhen

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18.03.20 Mittwoch,18.März2020DWBE-HP


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DIE WELT MITTWOCH,18.MÄRZ2020 SEITE 10


FEUILLETON


Unsere gefährlichen Irrtümer


über den rechten Terror Seite 11


Philosophie


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Igor Levit ist eine der bedeutendsten Pia-
nisten unserer Zeit. Er hat gerade den In-
ternationalen Beethoven-Preis erhalten und
für ihn wohl wichtiger: die „Gabe der Er-
innerung“ des Internationalen Ausschwitz
Komitees für sein staatsbürgerliches En-
gagement, das beeindruckt.
Levit, der 33jährige in Russland geborene
Ausnahmekünstler, versteht sich als eine Art
Bob Dylan der klassischen Musik, der seine
Prominenz einsetzt, um Gutes zu tun. Das
gelingt ihm in der Corona-Krise vor allem mit
seinen live gestreamten Klavierkonzerten
aus dem Wohnzimmer. Am Montagabend
übertrug er aus der bayerischen Staatsoper
in München, weil er dort auftrat. Auf Twitter
sind auch die bereits gestreamten Konzerte
zu bewundern. Über 200 000 Zuschauer
besuchen diese Konzerte und so beglückt er
nicht nur seine Fans und jene, die ihm, dem
grünsten der grünen Künstler zustimmen.
Levit ist eine Art idealer Citoyen, und er ver-
zückt am Piano auch jene, die von ihm auf
TTTwitter wegen seiner moralischen Rigoris-witter wegen seiner moralischen Rigoris-
men genervt sein könnten. Er ist ganz live,
unterbricht, fängt nochmals neu an, Beetho-
ven Waldsteinssonate spielt er dabei ebenso
ergreifend wie „The People United Will Never
Be Defeated“ des amerikanischen Kom-
ponisten und Kommunisten Frederic
Rzewski.
Levit will das machen, bis wir wieder bei ihm
in den Konzerthäusern dieser Welt vorbei-
schauen können oder am Piano, wenn er vor
der Synagoge in Berlin-Mitte die Demons-
tranten gegen den aufschäumenden Antise-
mitismus mit seiner Kunst inspiriert. Wir
akzeptieren künftig seine politischen Naivitä-
ten mit noch mehr Freude.
Er ist einer, der in diese Gesellschaft mit
seiner Kunst mehr hineininvestiert als viele
andere. Er macht diese Welt zu einer bes-
seren und für all die jungen FollowerInnen,
die er hat, ist es auch die mitunter erste
Begegnung mit dem berauschenden Uni-
versum der klassischen Musik. Wir können
Igor Levit dafür nicht genug danken. Und
empfehlen den Livestream gerne weiter:
jeden Abend um 19 Uhr. up

Beethoven aus dem Wohnzimmer


Vor wenigen Tagen noch, als der Corona-
Lockdown der Bühnen kurz bevorstand,
hatte am Deutschen Theater in Berlin Boc-
caccios „Decamerone“ Premiere, in der Regie
des Russen Kirill Serebrennikov. Wie soll man
das im Nachhinein verstehen – als ironisch,
prophetisch oder vollends unheimlich? Es hat
von allem etwas. Ein Stück über die Quaran-
täne in einer seuchengeplagten Gesellschaft,
inszeniert von einem Regisseur in staatlich
verordneter Isolation. Weil er Putin nicht
genehm ist, hat Serebrennikov abwechselnd
Hausarrest oder darf zumindest das Land
nicht verlassen. Trotzig inszeniert er per
Skype. Seine Bearbeitung der zugrundelie-
genden Novellensammlung entwirft Räume
voller Home-Trainer und Kabalen am Klavier.
Jetzt ist das Stück über Quarantäne, in-
szeniert in Quarantäne, wegen allgemeiner
Quarantäne nicht mehr zu sehen. Zumindest
vorerst. Denn wie viele andere Chefs von
Spielstätten denkt der Intendant des Deut-
schen Theaters Ulrich Khuon darüber nach,
Inszenierungen ins Netz zu stellen. Gestern
gab er in einem Interview seiner Fassungs-
losigkeit Ausdruck, dass sich die gewohnten
Spielregeln umgekehrt hätten; normaler-
weise sei das Theater für Schock, Störung,
Unterbrechung der Gesellschaft da, aber
diesmal sei es umgekehrt, die Gesellschaft
unterbreche das Theater. Aber dagegen lässt
sich anspielen.
Die Seite Nachtkritik.dehat einen Online-
Spielplan zusammengestellt, erst einmal für
diese Woche. Man kann getrost sein, dass es
danach weitergehen wird. Neben Konzerten
gibt es auch jetzt schon Theater zu sehen.
Nachkritik selbst präsentiert einen Mit-
schnitt des schon fast legendären „Tyrannis“
von Ersan Mondtag, das 2015 am Staats-
theater Kassel lief, zum Berliner Theater-
treffen eingeladen wurde – und nach einem
Streit zwischen Regisseur und Theater abge-
setzt wurde. Jetzt kann sich jeder sein ei-
genes Bild machen. Es handelt übrigens von
einer stummen Familie, die sich im eigenen
Haus verschanzt und nichts dagegen tun
kann, dass das Fremde einbricht. küv

Das Theater geht weiter


Es gibt vermutlich keine Eltern, die „Die Sen-
dung mit der Maus“ nicht mögen. Alles ande-
re wäre verdächtig. Die Klimperaugen-Figur
vom WDR ist gerade 49 Jahre alt geworden,
in vielen Familien ist sie Teil des Sonntags-
rituals, trotz vieler zeitunabhängig verfüg-
barer Folgen in der Online-Mediathek. Die
„Maus“ ist das Kinderprogramm gewordene
gute Gewissen, ein weiches Kissen für alle
Erziehungsberechtigten, denen es nicht völlig
egal ist, was ihre lieben Kleinen so schauen.
Doch nun sind die Maus und ihr ständiger
Begleiter, der blaue Elefant, zu einem Teil des
großen sozialen Experiments dieser Tage
geworden. Dessen Herausforderung und Ziel
es ist, das Zusammenleben von Eltern und
jüngeren Kindern, die mehr oder weniger den
ganzen Tag zuhause sind, weil die Eltern in
Quarantäne arbeiten und gleichzeitig die
Kinder beaufsichtigen müssen, irgendwie
erträglich zu gestalten. Maus und Elefant
sind damit nicht mehr nur äußerst bekannte
öffentlich-rechtliche Bildungsbeauftragte,
sie sind nun Spitzenkräfte zur Sicherstellung
des nationalen Familienfriedens.
Denn ab Mittwoch strahlt der WDR jeden
Tag um 11.30 Uhr eine Maus-Folge aus. Auch
andere Sender bauen ihr Bildungsangebot
für Schüler aus, doch die Maus mit ihrer
souverän gelassenen Art sticht zweifelsohne
heraus – wird das Fernsehprogramm für sie
umgebaut, dann ist es ernst, aber nicht hof-
fungslos. Wobei, das ist natürlich klar, eine
tägliche lineare Ausstrahlung vor allem einen
symbolischen Charakter hat, denn die Mehr-
heit der Bürger kann sich per Mediathek sehr
viele „Maus“-Folgen hintereinander auf die
Bildschirme holen. Wer die richtigen An-
gebote kennt, kann sich in diesen Tagen allein
ein ansehnliches Bildungsprogramm selbst
zusammenstellen.
Doch das ist gar nicht der Punkt. Der Punkt
ist: Wir brauchen jetzt die Maus, die unseren
Kinder die Welt erklärt, selbst wenn sie auf
Corona wohl nicht vorbereitet war. Eine
Rolge am Tag reicht schon. Ein Nebeneffekt,
der nicht zu unterschätzen ist: Auch uns
Eltern helfen diese vertrauten Geräusche der
Kindheit – Klimperklimper, Trööttrööt,
Stapfstapf – in einer Zeit, in der wir jeden
Tag ein Stück nervöser werden. Was würde
die Maus jetzt tun? CHRISTIAN MEIER

Was würde die Maus tun?


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