Die Welt - 18.03.2020

(Jeff_L) #1

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18.03.20 Mittwoch,18.März2020DWBE-HP


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6 POLITIK DIE WELT MITTWOCH,18.MÄRZ


T


eil zwei unserer Interview-
Serie aus dem Homeoffice
mit dem Chef der FDP,
Christian Lindner. In seiner
Partei gab es die ersten pro-
minenten Corona-Fälle deutscher Poli-
tiker. Die Regierung ist in der Krise im
Fokus. Wie geht gute Oppositionsar-
beit, und was treibt einen Liberalen an,
wenn Verbote das Gebot der Stunde
sind? Darüber sprachen wir in einem E-
Mail-Pingpong mit dem 41-Jährigen.

VON ULF POSCHARDT

WELT: WWWie sieht gerade Ihr Alltag aus?ie sieht gerade Ihr Alltag aus?
Was macht die Corona-Pandemie mit
Ihrem Terminkalender?
CHRISTIAN LINDNER:Ich arbeite von
zu Hause und vermeide es, vor die Tür
zu gehen. Mein Kalender besteht ei-
gentlich nur aus Telefonterminen und
der kommenden Sitzungswoche des
Deutschen Bundestages. Unsere Bun-
destagsfraktion hat schon vor der Krise
auf einer eigenen Intranetplattform di-
gital gearbeitet. Wir sind also voll hand-
lungsfähig, auch wenn wir alle momen-
tan dezentral arbeiten.

Und was macht es mit dem Menschen
Christian Lindner? Wie fühlen sich
diese Tage für Sie an?
Meine Grundstimmung ist Sorge. Ich
sorge mich um meine Eltern und um
Freunde, die älter oder vielleicht ge-
sundheitlich schwächer sind. Ich erhal-
te viele Nachrichten von Selbstständi-
gen, die um ihre Existenz bangen. Das
macht mich auch betroffen, weil es jetzt
schnell staatliche Hilfe geben muss. An-
dererseits rückt die Krise einiges zu-
recht. Aus der Sorge heraus habe ich
mehr Kontakt mit Freunden und Be-
kannten, weil man aneinander denkt.
Viel Nebensächliches im Kalender ist
weggefallen, was Raum zum Nachden-
ken und Neubewerten gibt. Und in die-

sen Tagen sieht man, welchen Beitrag
Menschen für das Funktionieren der
Gesellschaft leisten, die oft zu Recht
über mangelnden Respekt geklagt ha-
ben. Von Heilberufen und Pflegekräften
über die Polizei bis zu der Dame an der
Kasse im Supermarkt. Die Krise wird
vieles verändern, manches davon kön-
nen wir ins Gute wenden.

Um wen sorgen Sie sich am meisten?
Natürlich diejenigen, die schon er-
krankt sind. Bisweilen wird unter-
schätzt, wie der Krankheitsverlauf sein
kann.

Wie geht es Ihren erkrankten Partei-
freunden?
Die Kollegen sind stabil. Der Verlauf ist
erträglich, berichten sie mir.

Wie bewerten Sie das Handling der
Krise durch die Bundesregierung?
In der Lage verteilt man keine Zensu-
ren. Die Einschätzungen ändern sich ja
fortwährend. Bereits letzten Freitag ha-
ben wir im Bundestag gegenüber den

Regierungen aber angeregt, das öffentli-
che Leben drastisch und kontrolliert
herunterzufahren. Da waren andere in
Europa schneller. Die erste Reaktion
der großen Koalition auf die wirtschaft-
lichen Risiken von Corona war zu ver-
halten. Die Änderungen beim Kurzar-
beitergeld waren richtig, aber die Pro-
bleme gehen weit darüber hinaus. Des-
halb haben wir letzte Woche Vorschläge
für ein Akutprogramm für Arbeitsplätze
und Wirtschaft im Parlament vorgelegt.
Da geht es um finanzielle Hilfen, damit
Zahlungsunfähigkeit verhindert wird,
oder auch um eine Verlängerung der
Fristen für Insolvenzanträge. Menschen
dürfen nicht über die Krise ihre Exis-
tenz verlieren.

Ist Bayerns Ministerpräsident Mar-
kus Söder (CSU) der Mann der Stun-
de? Hat er den Föderalismus am bes-
ten verstanden im Sinne des Wettbe-
werbs um die beste Lösung?
Wenn Sie mich so fragen, dann würde
ich eher Sebastian Kurz nennen. Ich
halte ausgerechnet eine Pandemie nicht
für einen guten Anlass, um föderalen
Wettbewerb und Länderautonomie zu
loben. Österreich hat da andere Rege-
lungen, die wir uns ansehen müssen. Es
ist zu früh für eine abschließende Be-
wertung. Aber wir werden diskutieren
müssen, ob die gesetzlichen und verfas-
sungsrechtlichen Bestimmungen für die
Bewältigung einer Krise dieses Ausma-
ßes geeignet sind.

Alle sprechen über Katastrophenfall,
Lockdown, strikteste Einschränkun-
gen der individuellen Freiheit – was
macht das in Ihnen?
Jede Einschränkung der Freiheit muss
verhältnismäßig sein. Staatliches Han-
deln ist auch in der Krise an Grund-
rechte gebunden. Die Eindämmung ei-
ner Pandemieist nun ein Fall, der das
strikte Runterfahren des Landes nötig

macht. Manche Verbote, über die wir in
normalen Zeiten diskutieren, sind ge-
messen am Zweck unverhältnismäßig.
Damit haben wir es jetzt aber nicht zu
tun. Auf mich wirkt in der Krise die
Entschlossenheit einer Regierung eher
beruhigend. Die Handlungsfähigkeit
örtlicher Behörden dagegen wirft Fra-
gen auf.

Liberale stellen die Eigenverantwort-
lichkeit in das Zentrum ihrer Anthro-
pologie: Neben all den ergreifenden
Bildern von Mündigkeit und solidari-
scher Vernunft gab es auch absurde
Bilder in Berlin: Schlangen vor Eisdie-
len, private Corona-Partys, Men-
schenketten aus Jux und Tollerei. Wie
bewerten Sie das?
Unverantwortlich, unreif und schlicht
absurd. Ein Leben in Freiheit funktio-
niert generell nur, wenn man Rücksicht
nimmt und verantwortlich handelt. Wer
seine Freiheit in dieser Weise auslebt,
der beschädigt ihren Wert geradezu.
Der ruft nämlich diejenigen auf den
Plan, die auch in normalen Zeiten alles
mit Verboten und Gesetzesbefehl re-
geln wollen.

Wie verhalten sich Freiheit und Krise?
In der Krise kommt die Freiheit schnell
unter die Räder. Wenn man nicht auf-
passt, dauerhaft.

Welche Rolle hat die Opposition in
solchen Zeiten?
Die Entscheidungen der Regierung
müssen öffentlich debattiert und kon-
trolliert werden. Wenn es um Ein-
schränkungen von Freiheitsrechten
geht, dann ist das umso wichtiger. Carl
Schmitt hat gesagt, dass souverän ist,
wer über den Ausnahmezustand ent-
scheidet. Und er meinte allein Regie-
rungen. Solch ein autoritäres Denken
würde nicht zum demokratischen
Rechtsstaat des liberalen Grundgeset-

zes passen. Das Parlament ist die erste
Gewalt. Deshalb ist es auch in Krisen-
zeiten wichtig, dass dieses Verfassungs-
organ handlungsfähig bleibt.

Wie gefährlich ist die Renationalisie-
rung der Politik im Augenblick?
Viele nutzen Corona, um schon vorher
vertretene nationalegoistische oder
protektionistische Ideen aktuell zu prä-
sentieren. Über Lieferketten, regionale
Produktion und Notreserven wird man
als Evolution der Globalisierung neu
nachdenken. Aber prinzipiell haben sich
Reisefreiheit, freier Welthandel, welt-
weite Arbeitsteilung und Multilateralis-
mus in den vergangenen Jahrzehnten
als Segen erwiesen. Eine Herausforde-
rung für die Menschheit wie Corona
sollte im Gegenteil ein Anlass sein, zu
mehr Gemeinsamkeit zu finden. Die
nächsten Herausforderungen werden
kommen oder sind mit dem Klimawan-
del schon da.

Warum versagt die EZB?
Das ist nicht meine Kritik. Wir haben es
mit einer realwirtschaftlichen Krise zu
tun, bei der Angebot und Nachfrage zu-
gleich ausfallen. Mit den Mitteln der
Geldpolitik ist der kaum beizukommen.
Jetzt ist nicht die Notenbank gefragt,
sondern der Staat und die Sozialversi-
cherungssysteme.

Was muss gemacht werden, um die
deutsche Volkswirtschaft zu stabili-
sieren?
Vom Solo-Selbstständigen, dem freien
Kulturschaffenden über die Gaststätte
und den Handwerksbetrieb bis zum In-
dustrieunternehmen wird Geld knapp.
Um jeden Preis muss eine Pleitewelle
eigentlich gesunder Betriebe verhindert
werden. Deshalb haben Liquiditätshil-
fen jetzt Priorität. Wir schlagen vor, da-
für die Finanzämter zu nutzen. Statt
Steuervorauszahlungen einzuziehen,

sollten die Finanzämter im Gegenteil
jetzt Geld überweisen. Als eine Art ne-
gative Gewinnsteuer, wenn der Umsatz
wegbricht. Mit der späteren Steuerer-
klärung kann das dann genau abgerech-
net werden, jetzt geht es um Tempo.
Später werden Bürgschaften und Kre-
ditprogramme nötig werden. Und mit-
telfristig werden Sonderabschreibun-
gen für private Investitionen, ein öf-
fentliches Investitionsprogramm und
Steuersenkungen nötig.

Wäre jetzt nicht der ideale Zeitpunkt,
um den Soli für alle abzuschaffen?
Die Abschaffung des Soli – und zwar für
alle – wäre auch ohne Corona zu Beginn
dieses Jahres richtig gewesen. Jetzt ist
die Abschaffung dringlich, aber im
Grunde müssen die Tarife von Einkom-
men- und Körperschaftsteuer auf den
Prüfstand. In den letzten Jahren hat der
Staat massiv Steuer eingenommen, weil
an den Steuertarifen nichts geändert
wurde. Zugleich hat er vom Niedrigzins
profitiert. Es hat eine gewaltige Ver-
schiebung von den privaten zu den öf-
fentlichen Finanzen stattgefunden. Zur
Bewältigung der Krise ist daher richtig,
wenn der Staat nun davon an die Men-
schen und die Wirtschaft zurückgibt.
Wir sollten auch unkonventionelle
Maßnahmen denken. Zur Stabilisierung
wäre möglich, dass es eine Art rückwir-
kende Steuersenkung gibt, indem Ver-
luste des Jahres 2020 mit dem zu ver-
steuernden Gewinn der letzten Jahre
2018 und 2019 verrechnet werden. Es
muss unbedingt eine Krise nach der Kri-
se verhindert werden. Wir werden in
Kauf nehmen müssen, dass der Staat
nun eine Zeit Defizite schreiben wird.
Je entschlossener der Staat in diesem
Jahr gegengesteuert, desto geringer der
Einbruch der Wirtschaft und desto
schneller wird er das Defizit verlassen.

Zeigt der Kampf um eine Biotech-Fir-
ma in Tübingen nicht, wie sehr wir in
diesem Bereich von Forschung und
Innovation investieren müssen?
CureVac ist ein Beispiel für ein verant-
wortungsbewusstes Management, weil
man dort die Arbeit an einem Impfstoff
als eine Aufgabe für die ganze Mensch-
heit bezeichnet hat. Schon vor der Krise
hat uns beschäftigt, dass wir unser deut-
sches Kapital nicht stärker in Spitzen-
technologie und Entwicklung hierzu-
lande investieren. Auch da müssen wir
Konsequenzen ziehen.

Wie bewerten Sie die Aussage von
Wirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU), dass Deutschland keinen Ar-
beitsplatz verlieren wird?
Als Ziel finde ich das gut. Damit das ei-
nigermaßen realistisch ist, muss jetzt
aber schnell Vertrauen in das wirt-
schaftliche Krisenmanagement her. Die
Ankündigung einer nahezu unbegrenz-
ten fiskalischen Reaktion haben wir be-
grüßt. Aber die Maßnahmen müssen
konkretisiert werden und in der Praxis
ankommen. Es gibt immer noch eine ge-
waltige und wachsende Verunsicherung
im Mittelstand. Ich bitte Herrn Altmai-
er, jetzt wirklich konkret zu handeln
und offensiv zu kommunizieren.

Eine letzte Frage an den Liberalen:
Die Zivilgesellschaft läuft zur Hoch-
form auf. Berühmte Pianisten strea-
men Beethoven-Klavierkonzerte aus
dem Wohnzimmer, Start-ups arbeiten
pro bono an einer Hilfsinfrastruktur
für die Alten und Schwachen. Was
zeigt das?
In der Krise ist eine Chance. Es gibt Ver-
antwortungsgefühl jenseits des Staates.
Wir rücken zusammen. Wir werden in-
novativ. Davon sollten wir möglichst
viel in die Zeit danach mitnehmen.

FDP-Chef Lindner


rügt, wie wenig


Rücksicht mancher


trotz Corona auf


Mitmenschen


nimmt. Das Land


könne aber gestärkt


aus der Krise


hervorgehen


MARTIN U. K. LENGEMANN/ WELT

„Unverantwortlich,


unreif, schlicht absurd“


C


hips, Schnaps und Flaschenbier



  • in ihrem Angebot unterschei-
    den sich die Kioske, Dönerbu-
    den und Spätis in den Straßen rund um
    den Neuköllner Hermannplatz kaum.
    Seitdem das Virus in Berlin ist, pegelt
    die Feieramplitude der großen Hure
    Ballermann langsam herunter, ganz,
    ganz langsam. Bloß nicht anmerken las-
    sen, dass da was ist. Dass das Virus hier
    irgendwen groß beeindruckt.


VON WOLFGANG BÜSCHER

Aufreizend träge schwenkt Berlin in
den Coronamodus. Augenrollend.
„Mann, ey.“ Bier in der Hand. Ihr Völ-
ker der Welt, kommt in diese Stadt,
kommt für ein Wochenende, lasst alle
heimischen Hemmungen fahren, ent-
diszipliniert euch hier, lasst es krachen.
Das war einmal. Es ist der dritte Abend,
seitdem die Stadt sich zu disziplinieren

versucht – der dritte seit der Verord-
nung. Die fußt auf dem Infektions-
schutzgesetz, seit Samstagabend gilt
sie: Lokale für mehr als 50 Leute dicht.
Auch Kirchen und Wettannahmestel-
len, Clubs und Kneipen und alles ande-
re. Gaststätten mit Kapazitäten für we-
niger Gäste dürfen noch aufbleiben,
aber bitte anderthalb Meter Abstand
zwischen den Tischen. Danach sieht es
nicht aus in Neukölln, an diesem ver-
mutlich letzten Abend der Berliner Fei-
erfreiheit.
Männergruppen, Jungmännergrup-
pen, gemischte Gruppen die Hermann-
straße rauf und runter, die Sonnenallee
rauf und runter, die Tische stehen eng
wie immer, manche ein paar Handbreit
auseinander. Hier sitzen die Albaner,
dort die Türken, in der Parallelstraße
die Araber, ab und zu hört man Rus-
sisch, dazwischen Alt-Neuköllner in
fortgeschrittener Feierlaune. Anderswo

wird auch gefeiert, klar, aber anderswo
ist jetzt Fastenzeit, hier in Neukölln
herrscht allerherrlichstes Bierwetter.
Ein so vorfrühlingshafter Montagabend,
fast lau – da muss man einfach raus,
plopp, uff die Pulle, Prösterchen. So ein
Abend ist nicht für den Seuchenernst
auf dem heimischen Sofa gemacht, da
sitzt sowieso eher selten wer daneben,
nur die Glotze redet mit einem, dann
lieber raus.
o ziemlich jeder, der jetzt unterwegs
ist im Zwickel zwischen Karl-Marx-
Straße und Hermannstraße, hat eine
Flasche in der Hand. Nicht die zierli-
chen, nicht die Schicki-Biere, nein, die
ernsthaften braunen Bierbomben aus
dem Döner des Vertrauens. Stühle und
Tische draußen, Menschentrauben. An-
derthalb Meter Abstand? Blödsinn.
Dicht an dicht reihen sich die Kioske
und Spätis, alle paar Schritte einer auf
den anderen. Lauter Läden, die alle das

gleiche führen. Blumen-Melek, Melek
ist türkisch, aber eigentlich arabisch
und heißt König, Halal Burger, halal ist
islamisch und heißt, nach dem Speise-
gesetz erlaubt.
Es sind nicht nur die Namen. Café Is-
tanbul und Friseur Orient Style. Dieser
Neuköllner Abend hat wirklich etwas
Orientalisches, so sind Abende in arabi-
schen Städten, kurz bevor die Blechlä-
den vor den Shops krachend zugezogen
werden und die Jalousien runterrattern


  • diese Shops, deren Angebote sich so
    gleichen wie die der Shops hier. Diese
    jungen Männer, die drinnen auf Kund-
    schaft warten, rauchend, irgendwohin
    schauend, wortkarg ein neues Bier rei-
    chend, wenn einer von draußen Nach-
    schub holt. Und doch – obwohl sich of-
    fenbar niemand hier groß um die Infek-
    tionsschutzverordnung schert, es geht
    gedämpfter zu als sonst, die Lokale sind
    spärlicher besetzt, eine Stimmung liegt


über allem, als ginge der Oberkellner
von Neukölln durch die Sonnenallee
und riefe: „Letzte Bestellung, letzter
Feierabend.“
Am dichtesten besetzt sind noch die
modischen Lokale, die die Jugend be-
sucht. Und Berlins Abiturklassen sind
sowieso den ganzen Tag über lautstark
durch die Stadt gezogen. An diesem
Montag ist Mottotag – eigentlich, in
normalen Zeiten, ist es eine ganze Mot-
towoche. Jede Klasse wählt sich für je-
den Tag ein anderes Motto. Kindheits-
helden, Lack und Leder, was auch im-
mer. Ein Spaß, auf den sich die Schüler
seit langem gefreut haben. Das alles
hat nun Corona versaut, es ist auf die-
sen einen Montag zusammenge-
schrumpft, tags darauf schließen die
Schulen.
Eine Schülerin hat es so gesagt: „Kein
Abiball, keine Abifahrt, nichts. Wenn
man sich zwölf Schuljahre lang darauf

gefreut hat, hat man alles Recht der
Welt auf diesen einen Tag.“ Und so
muss alles raus heute: die Verkleidun-
gen, die Musik, das gemeinsame Um-
herziehen, und so sieht man feiernde
Schülergruppen auf den Plätzen, in den
Parks der ganzen Stadt.
Auch abends in Neukölln wird es ab
und zu laut. Aus einer Gruppe feiernder
Afrikaner fliegt ein Gegenstand auf die
Hermannstraße und geht scheppernd
zu Bruch. Nichts Dramatisches, ein
Wurf im Überschwang. Die Fünf ziehen
weiter, eng umschlungen, zur nächsten
Kneipe.
Ein Neuköllner Paar läuft durch die
Nacht, nicht mehr jung, Hand in Hand,
die Stimmen leicht entgleist, das eine
oder andere Bier werden sie sich geneh-
migt haben. „migt haben. „migt haben. „Allet leergekauftAllet leergekauft“, sagt die
Frau fast raunend zu ihrem Mann – ver-
wundert und auch ein wenig beunru-
higt. Sollte da doch was sein?

Die Partyhauptstadt schwenkt in den Coronamodus


Es gelten strenge Vorschriften für Berlins Clubs, Kneipen und Gaststätten – eigentlich. Aber ein spätabendlicher Spaziergang durch Neukölln zeigt ein anderes Bild


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