Süddeutsche Zeitung - 18.03.2020

(Elliott) #1
München/Berlin– Wie hoch ist das Risiko
in Deutschland? Reichen die Kapazitäten
der Kliniken? Und die der Supermärkte?
Wie kommen Urlauber aus Übersee heim?
Dies sind die Fragen, auf die Fachleute und
Politiker am Dienstag versuchten, Antwor-
ten zu geben.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat sei-
ne Risiko-Einschätzung geändert. Das In-
stitut kennt die Kategorien gering, mäßig,
hoch und sehr hoch – und hat das Risiko
von mäßig auf hoch heraufgesetzt. Grund
sei zum einen die gestiegene Zahl der Infi-
zierten in Deutschland, zum anderen die
„in den vergangenen Tagen vermehrt ein-
gegangenen Alarmsignale aus dem öffent-
lichen Gesundheitsdienst und von Klini-
ken“. Das sagte der Präsident des Instituts,
Lothar Wieler. Selbst gut aufgestellte Be-
hörden und Unikliniken hätten Probleme
mit den steigenden Erkrankungszahlen.
Um die Krankenhäuser zu entlasten, ha-
ben Bund und Länder beschlossen, die sta-
tionäre Versorgung auszuweiten: An Spezi-
alkliniken und gegebenenfalls auch an pro-
visorischen Standorten wie Hotels oder
umgerüsteten Hallen sollen nun zusätzli-
che Betten- und Behandlungskapazitäten
aufgebaut werden. Das geht aus einem
„Grobkonzept Infrastruktur Kranken-
haus“ hervor, auf das sich Bund und Län-
der am Dienstag verständigten. Das Kon-
zept soll den Krankenhäusern ermögli-
chen, sich auf den Aufbau von Intensivka-
pazitäten zu konzentrieren – bis hin zu ei-
ner Verdopplung. Eine solche Aufstockung
hatte RKI-Präsident Wieler gefordert.

Derzeit verfügen die Krankenhäuser
bundesweit über etwa 28 000 Intensivbet-
ten. Auch der Präsident der Deutschen
Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald
Gaß, hatte am Dienstag gesagt, es gehe dar-
um, „die Kapazitäten von Tag zu Tag auszu-
dehnen“. Er zeigte sich jedoch schon vor
dem Bund-Länder-Beschluss skeptisch,
ob die hohe Zielvorgabe schnell erfüllt wer-
den kann. „In einigen Wochen“ sei es mög-
lich, die Betten um bis zu 20 Prozent aufzu-
stocken – „dann würden wir 34 000 ha-
ben“, sagte Gaß derSüddeutschen Zeitung.
Zugleich müsse die Zahl der Beatmungsge-
räte erhöht werden. Bisher gibt es 20 000.
Die Krankenhäuser erwarteten, dass sich
die Zahl der Corona-Patienten bei ihnen in
den kommenden Tagen verdreifachen
wird. „Wenn wir Ende der Woche 20 000 be-
stätigte Infektionsfälle in Deutschland ha-
ben, müssen wir davon ausgehen, dass
dann auch bis zu 1500 Infizierte in den
Krankenhäusern behandelt werden müs-
sen“, sagte Gaß. Derzeit würden etwa 500
Menschen mit Corona dort behandelt.
Der Chef des Evangelischen Kranken-
hausverbandes, Christoph Radbruch, füg-
te hinzu, derzeit richteten die Kliniken

nicht nur Beatmungsplätze ein, sondern
füllten auch die Bestände auf und schulten
Pflegekräfte. Entscheidend werde in den
kommenden Wochen sein, dass es mit den
Einschränkungen, die Bund und Länder er-
lassen haben, gelingt, eine schnelle Aus-
breitung des Virus zu verhindern. Wenn
„nicht allzu viele Ärzte und Schwestern in
Quarantäne müssen“, würden die Kranken-
häuser die Versorgung ihrer Patienten
schaffen, sagte Radbruch.
Was hat in den vergangenen Tagen dazu
geführt, dass die RKI-Virologen das Risiko
höher einschätzen? Nach Meinung von Ge-
sundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat
die derzeitige Ausbreitung in Deutschland
wie auch in Dänemark „viel zu tun“ mit der
Rückkehr zahlreicher Skiurlauber aus Süd-
tirol, Österreich und der Schweiz. Er appel-
liere daher an die Heimkehrer, zu Hause zu
bleiben, sagte Spahn.
Berlin will außerdem das weitgehende
Einreiseverbot in die EU für Nicht-EU-Bür-
ger unverzüglich durchsetzen. „Deutsch-
land wird das sofort umsetzen“ sagt Bun-
deskanzlerin Angela Merkel am Dienstag-
abend bei einer Pressekonferenz. Für die
mehr als 100 000 Deutschen, die zurzeit als

Urlauber in fernen Weltgegenden festsit-
zen, hat die Bundesregierung unterdessen
eine Luftbrücke gestartet. Nach Angaben
von Außenminister Heiko Maas (SPD) sind
dafür bis zu 50 Millionen Euro bereitge-
stellt. Private Fluggesellschaften sollen die
Aufgabe übernehmen. „Wir werden alles
dafür tun, Tausenden deutschen Reisen-
den in den nächsten Tagen die Rückkehr
zu ermöglichen“, versprach Maas. Die Sor-
ge des Auswärtigen Amts gilt insbesondere
Individualreisenden, die vor allem in Ma-
rokko einen großen Teil der Touristen aus-
machen. Allein dort seien 4000 bis 6000
Deutsche gestrandet, und es sei Eile gebo-
ten, sagte Maas – Marokko hat alle interna-
tionalen Flugverbindungen gestoppt.
In den kommenden Tagen sollen nach
Angaben des Ministers zunächst Reisende
aus „besonders betroffenen Gebieten“ zu-
rückgeholt werden. Außer Marokko sind
dies vor allem die Dominikanische Repu-
blik, Ägypten, die Philippinen und die Ma-
lediven. Zum ersten Mal überhaupt sprach
die Bundesregierung eine formelle Reise-
warnung für die ganze Welt aus. „Bitte blei-
ben Sie zu Hause. Das hilft Ihnen und ande-
ren“, sagte Maas. „Viele Staaten haben
Maßnahmen getroffen, die zu Ausfällen
von Flügen führen. Wir müssen davon aus-
gehen, dass der weltweite Passagierver-
kehr auf absehbare Zeit auf ein sehr niedri-
ges Niveau zurückgehen wird.“
Ernährungsministerin Julia Klöckner
(CDU) wies Sorgen zurück, Lebensmittel
könnten knapp werden. „Die Supermärkte
bleiben geöffnet“, sagte sie. Alles andere
seien Falschmeldungen. Es sei unnötig,
große Vorräte anzulegen, die Leute sollten
„bedarfsgerecht“ einkaufen. Probleme dro-
hen indes in der Landwirtschaft. Üblicher-
weise rücken im April Saisonkräfte aus Ost-
europa an, zunächst zur Spargelernte. We-
gen strikter Grenzkontrollen könnten sie
fernbleiben.

Meinung


Tedros Ghebreyesus:


Der Aufklärer der Welt


in Sachen Coronavirus 4


Panorama


13 Jahre nach dem Verschwinden


der Schülerin Georgine Krüger


ist das Urteil lebenslänglich 8


Feuilleton


Wer ist noch zu retten? Das Prinzip


„Triage“ sortiert Patienten


nach Überlebenschancen 9


Medien


Glamouröses Nachkriegsspektakel:


Das Buch „Unsere wunderbaren


Jahre“ wird verfilmt 27


Wirtschaft


Kunden und Keime: Kassiererinnen


sind gerade gefordert wie selten.


Wie geht es ihnen? 18


TV-/Radioprogramm 28
München · Bayern 26
Rätsel & Schach 18
Traueranzeigen 12


Stille Botschaft:Österreich zeigt, was bald
auch in Deutschland sein könnte  Seite 3
Die Ahnungslosen:Die Corona-Krise ent-
zaubert die Populisten  Seite 4
Leben in der Krise:Wie Länder weltweit
mit der Pandemie umgehen  Politik
Lernen zu Hause:Was Schulen und Eltern
jetzt tun können  Panorama
Primärfall und Latenzzeit:Ein epidemio-
logisches Glossar  Wissen

NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF3 MÜNCHEN, MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020 76. JAHRGANG / 12. WOCHE / NR. 65 / 3,20 EURO


München– Die Corona-Krise erreicht die
deutsche Industrie mit voller Wucht: Volks-
wagen, der größte Autohersteller Europas,
und der Daimler-Konzern kündigten ei-
nen abrupten Produktionsstopp in den
meisten deutschen und europäischen Wer-
ken an. Die Standorte würden zunächst für
zwei bis drei Wochen stillgelegt. VW-Chef
Herbert Diess begründete die drastische
Entscheidung mit der sich „deutlich ver-
schlechterten Absatzlage und der sich ab-
zeichnenden Unsicherheit bei der Teilever-
sorgung unserer Werke“. Auch die Konzern-
tochter Audi stellt die Fertigung an vielen
Standorten ein. Bei VW endet die Produkti-
on mit der Spätschicht am Donnerstag.
Ob die Werksschließung verlängert wer-
de, hänge von der weiteren Entwicklung
ab, teilte Daimler mit. Man wolle damit

auch die Finanzkraft des Unternehmens si-
chern. Bei VW war der Produktionsstopp
offenbar vor allem auf Druck der Arbeit-
nehmervertreter zustande gekommen, die
sich um die Gesundheit der Mitarbeiter sor-
gen. VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh
sprach von einer „Zwei-Klassen-Gesell-
schaft“: Während im Bürobereich bei VW
Abstandsgebote wegen Corona gelten wür-
den, arbeiteten die Kollegen an den Pro-
duktionsbändern weiter Schulter an Schul-
ter. Neben VW und Daimler haben auch an-
dere große Autobauer die Produktion still-
gelegt, unter anderem Fiat Chrysler, Ford,
Renault und Peugeot, zu dem Unterneh-
men gehört auch Opel.
Daimler beschäftigt weltweit 300 000
Mitarbeiter, VW rund 670 000 Mitarbeiter,
davon 275 000 in Deutschland, 60 000 allei-

ne am Konzernsitz in Wolfsburg. Die Fol-
gen der Produktionsunterbrechungen für
die Mitarbeiter könnte VW unter anderem
durch Kurzarbeit abfedern, die Modalitä-
ten werden gerade geklärt. Hierzu hat die
Bundesregierung gerade Erleichterungen
beschlossen. Die Bundesagentur für Ar-
beit wird seither mit Vor-Anfragen von Fir-
men überrannt. „Es geht durch die Decke“,
sagte eine Sprecherin. Lufthansa gab be-
kannt, dass Kurzarbeit nicht nur für Flug-
begleiter und Mitarbeiter am Boden, son-
dern auch für die Piloten geplant sei. Ande-
re Airlines, etwa in den USA, entlassen Mit-
arbeiter.
Im Kampf gegen einen drohenden Wirt-
schaftsabschwung und gegen das Corona-
virus setzt die US-Regierung auf unge-
wöhnliche Maßnahmen: Es sollen Schecks

an die Bürgerinnen und Bürger des Landes
verschickt werden, um die wirtschaftli-
chen Folgen der Krise abzumildern. Fi-
nanzminister Steven Mnuchin sagte bei ei-
ner Pressekonferenz mit Präsident Donald
Trump, die Menschen benötigten Bargeld.
„Der Präsident hat mich angewiesen, wir
müssen das jetzt machen“, betonte Mnu-
chin. „Und mit jetzt meine ich: in den nächs-
ten zwei Wochen.“ Die Amerikaner hatten
auch in den Rezessionen der Jahre 2001
und 2008 Schecks vom Staat erhalten, al-
lerdings handelte es sich seinerzeit um
Steuernachlässe oder -erstattungen. Sollte
der Staat seinen Bürgern nun tatsächlich
ohne jede Vorbedingung und unabhängig
von der persönlichen Situation Geld sen-
den, wäre das auch für die USA durchaus
neu.cbu, hul  Seiten 2, 4, Wirtschaft

London– Angesichts der wirtschaftlichen
Belastung, die auch Großbritannien
infolge der Corona-Pandemie erwarten
muss, wird in London und Brüssel zuneh-
mend spekuliert, ob Premier Boris John-
son die Brexit-Übergangsphase über den




    1. hinaus verlängern muss. Denn soll-
      ten bis dahin keine Regelungen mit der EU
      vereinbart sein, käme es zu einem harten
      Brexit, der die Wirtschaft voraussichtlich
      stärker belasten würde.sz  Seiten 4, 7




Berlin/Istanbul– Kanzlerin Angela Mer-
kel (CDU) hat am Dienstag mit dem türki-
schen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan
und Frankreichs Präsident Emmanuel Ma-
cron per Video über den Syrien-Konflikt
und seine Folgen beraten. Dabei sollte es
vor allem um die Lage der Flüchtlinge an
der türkisch-griechischen Grenze gehen.
Die Vorsitzende der Grünen, Annalena
Baerbock, rief Merkel und Macron zu einer
„deutlichen Ansage“ auf.dpa  Seite 6

Frankfurt– Die Versorgung mit Bargeld
ist in Deutschland laut der Bundesbank
trotz der Corona-Krise gesichert. „Die Tre-
sore sind voll bis oben hin. Das Bargeld
wird in Deutschland nicht ausgehen“, sag-
te Bundesbankvorstand Johannes Beer-
mann am Dienstag in Frankfurt. Die Ver-
sorgung der Bevölkerung mit Banknoten
sei gesichert. „Wir haben mehr Scheine ge-
druckt, als gebraucht werden. Die Logistik
stimmt.“zyd  Wirtschaft

Das Risiko ist jetzt hoch


Im Kampf gegen die Corona-Epidemie wollen Bund und Länder die Zahl der Intensivbetten durch


provisorische Kliniken verdoppeln. Deutschland lässt Nicht-EU-Bürger ab sofort nicht mehr einreisen


HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Krisengespräch zu


Flüchtlingen


Berlin– Die Mächtigen des europäischen
Fußballs konferierten mehrere Stunden,
eine Krisensitzung folgte auf die nächste,
ehe das Unausweichliche feststand: Die
Fußball-Europameisterschaft 2020 findet
aufgrund der Coronavirus-Pandemie erst
im Sommer 2021 statt. Das Turnier, bei
dem München einer von zwölf Gastgebern
ist, sollte ursprünglich in diesem Sommer
ausgetragen werden. Die Klubs und Ligen
drängten aber auf die Verlegung, um in der
Krise selbst mehr Zeit zu gewinnen. Den
endgültigen Beschluss fasste das Exekutiv-
komitee der Europäischen Fußball-Union
am Dienstag. Inwieweit die Uefa die EM im
kommenden Jahr unter gleichen Voraus-
setzungen ausrichten will und kann, blieb
zunächst offen. Fest steht bislang nur das
Datum: Gespielt werden soll vom 11. Juni
bis zum 11. Juli 2021. Die Ligen haben da-
durch über einen Monat mehr Zeit, um die
derzeit ausgesetzte Saison doch noch un-
ter einigermaßen regulären Umständen be-
enden zu können. Stichtag für die nationa-
len Ligen ist dann erst der 30. Juni, an dem
normalerweise auslaufende Verträge en-
den. Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) hat-
te am Montag verkündet, die verbleiben-
den Partien ohne Zuschauer spielen lassen
zu wollen. Ob und, wenn ja, wann der Spiel-
betrieb in Deutschland fortgesetzt wird,
soll in der Woche vom 30. März beraten
werden.dpa  Seite 4 und Sport

Im Norden bringen dichte Wolken etwas
Regen. Sonst ist es nach Nebel oder Hoch-
nebel wechselnd bis locker bewölkt und
meist trocken. Die Höchsttemperaturen er-
reichen neun Grad auf Sylt und 20 Grad am
Oberrhein.  Seite 13

Außerdem in


dieser Ausgabe


Xetra Schluss
8939 Punkte

N.Y. 20 Uhr
20917 Punkte

20 Uhr
1,0996 US-$

Kein großes Kino mehr: Hollywood setzt auf Streaming Feuilleton


VW und Daimler stoppen die Produktion in Europa


Autohersteller reagieren auf den drohenden Wirtschaftsabschwung. US-Regierung will Schecks an die Bürger verschicken


Spekulationen über


Brexit-Verlängerung


Bundesbank: Versorgung


mit Bargeld gesichert


20 °/1°


von daniel brössler,
michael bauchmüller,
detlef esslinger
und kristiana ludwig

Trockenhefe oder Spaghetti sucht mancher dieser Tage vergebens, die meisten anderen Regale sind aber auch in diesen Tagen gut gefüllt. FOTO: KAY NIETFELD / DPA

FOTO: DPA

Bestätigte Corona-Fälle in Deutschland

0



4000

6000

8000

SZ-Grafik; Quellen: Johns Hopkins University, SZ

8604
8604

27.1. 17.3.

1

Infizierte 23 Tote

Verdopplung
der Infektionen
alle 2,6 Tage

Stand: 19.30 Uhr

Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, SLO: € 3,70;
ES (Kanaren): € 3,80; dkr. 29; £ 3,50; kn 30; SFr. 4,

Dax▲


+ 2,25%

Dow▲


+ 3,61%

Euro▼



  • 0,


Fußball-EM auf


2021 verschoben


Uefa gibt Profiligen mehr Zeit,
im Sommer ihre Saison zu beenden

(SZ) Die Welt lässt sich aufteilen in Sicht-
bares und Unsichtbares, und gelegentlich
fragt man sich bei allem Respekt vor der
Schöpfung schon, wer die Dinge in dieser
nicht unwesentlichen Frage eigentlich
sortiert hat. Mit Theodizee allein jedenfalls
ist nicht zu erklären, warum keines Men-
schen Seele und keines Menschen Zuver-
sicht je für aller Augen sichtbar gemacht
werden konnte. Vor allem, wenn man be-
denkt, was diese Augen stattdessen schon
alles haben sehen, besser: mit ansehen
müssen. Der Fiat Multipla in egal welcher
Farbe, das Torwarttrikot der Engländer bei
der EM 1996, ungefähr jeder dritte bundes-
deutsche Bahnhofsvorplatz – das Blickfeld
steht oft voll mit Grauslichem. Ja, wäre der
neunmalkluge Fuchs aus dem „Kleinen
Prinzen“ nicht auf furchtbare Weise tot-
zitiert worden und lebte dieser Fuchs also
noch, er würde sich heute sicher korrigie-
ren. Man sieht schon auch mit den Augen
recht gut. Nicht immer ist das von Vorteil.
Während es ein Teil der Menschen mit
Potjomkin hält und sein Leben vor allem
der Politur aller möglichen Fassaden ver-
schreibt, weiß ein anderer, dass dieses Le-
ben im Guten wie im Schlechten erst dort
so richtig interessant wird, wo es in den Be-
reich des Unsichtbaren übertritt. Unsicht-
barkeit kann ja wirklich beides sein, erstre-
benswert oder nachteilig, häufiger ist es
wohl letzteres. Nicht nur der Fußballspie-
ler Mesut Özil musste sich nach schlechten
Spielen häufiger anhören, er sei auf dem
Platz schlicht unsichtbar gewesen. Eine
weit weniger selbst verschuldete Form der
Unsichtbarkeit beschreibt die Schriftstelle-
rin Margaret Atwood in ihrem „Report der
Magd“, worin die sozial geächtete Zofe be-
richtet, „sich wie ein Möbelstück zu verhal-
ten“ sei für Menschen ihres sozialen Ran-
ges noch die beste Daseinsform. Das klingt
vorgestrig, aber auch die Moderne hat sich
bereits gut auf das Thema Unsichtbarkeit
eingestellt. In allen möglichen Streams ent-
scheiden heute ihrerseits unsichtbare Algo-
rithmen darüber, welche Inhalte aus dem
riesigen virtuellen Gemischtwarenladen
der Welt in die Timelines gespült werden
und welche Youtube-Videos oder Essens-
bilder für immer ungeklickt verenden. Für
die Zukunft scheint es möglich, dass diese
Algorithmen unsere Blicke und Klicks
gleich gar nicht mehr brauchen.
Dem Menschen macht Unsichtbarkeit
mehr Angst als den Maschinen, und eine
solche Angst ließ sich eben erst in den Wor-
ten des französischen Staatspräsidenten
vermessen, der das gerade und auf längere
Zeit grassierende Virus als einen „unsicht-
baren Feind“ klassifiziert hat. Ein solcher
Feind arbeitet in Heimtücke, und selbst
wenn er unsichtbar ist, darf man vor ihm
nicht gänzlich die Augen verschließen. Ab
und zu aber ist genau das jetzt geboten, al-
so: Augen zu, und dann hoffen, dass bei der
gedanklichen Suche nach Schönheit nicht
auf einmal doch wieder ein Fiat Multipla
durchs Bild fährt.


DAS WETTER



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