Süddeutsche Zeitung - 18.03.2020

(Elliott) #1
Der „Weiße Hai“ folgt dem Standardver-
lauf aller Katastrophenfilme. Die Unsicher-
heit einer unsicheren Sache wird trotz der
Proteste von Experten ignoriert. Die Ge-
fahr vervielfacht sich, während weitere
Experten protestieren. Selbstgefällige, gie-
rige, korrupte und schlicht dumme Amts-
träger machen für Geld alles noch schlim-
mer. Mehr Menschen müssen sterben, bis
alle viel zu spät erkennen, dass Experten
über Expertenwissen verfügen und dass es
der Sicherheit aller dient, wenn man für
die Sicherheit der Schwachen, Armen,
Fremden und Unansehnlichen sorgt.
Im „Weißen Hai“ stellt die unfassbar
dämliche Verwaltung von Amity Island das
Geld über die Sicherheit und ignoriert
ihren Polizeichef (der für die Sicherheit der
Menschen verantwortlich ist – ein Sicher-
heitsexperte), einen Meeresbiologen (den
Haiexperten) und mehrere angebissene
Körperteile, die an den Strand ge-
schwemmt werden und darauf hindeuten,
dass irgendwas falsch läuft im Meer. Der
Bürgermeister von Amity (der nach Über-
zeugung unseres Premierministers Popo
der Held des Films ist) ermutigt immer
mehr Menschen, ins Wasser zu gehen. Es
folgt das zu erwartende blutrünstige Hai-
büfett, Ruf und Wirtschaft von Amity sind
ruiniert, und drei Experten fällt die Aufga-
be zu, das Vieh zu besiegen. Am Ende des
Films ist der Hai tot, und der Sicherheits-
sowie der Haiexperte paddeln auf die ferne
Küste zu. Um sie herum schwimmen
Fleischstücke und Blut, die unweigerlich
weniger monströse, aber immer noch ge-
fährliche Haie anlocken werden. Der Film
hört jedoch auf, bevor unsere Helden in Ge-
fahr geraten, ebenfalls in Stücke gerissen
zu werden, und hat daher ein Happy End.

Eine Version von „Der weiße Hai“, in der
der Bürgermeister von Amity Kanäle
durch die Stadt graben lässt, um den Hai
anzulocken? In welcher der Bürgermeister
unverblümt ankündigt, dass „noch viele
liebe Angehörige sterben werden“? Ein
Plan, die Einwohner Amitys in den Kanal
zu schubsen? 60 Prozent der Bevölkerung
dem Hai anzubieten in der Hoffnung, dass
er, nachdem er einige verschlungen und

andere verstümmelt hat, irgendwann satt
sein und einfach davonschwimmen wird,
womöglich angewidert von den vielen
Rollstühlen und Strickjacken älterer
Frauen, die er fressen musste? Das würde
niemand glauben. Doch willkommen auf
Amity Island und zu „Der weiße Hai 5“ – in
viralem 3D.

Es war klar, dass Popo der Todesclown
uns in einer echten Notlage keinesfalls
eine Hilfe sein würde. Er ist ein Todes-
clown. Wie die anderen Schausteller seines
Zirkus glaubt auch Popo an die eugeni-
schen Mythen des viktorianischen Eng-
lands, zuerst formuliert von Francis Gal-
ton. Sie wollen uns tatsächlich von unseren
„Schwachen“ reinigen. Diese durch Man-
gelversorgung, Schikanieren und Vernach-
lässigen loszuwerden, hat lange gedauert


  • diesmal wird es schneller gehen. Und
    wenn man den Zeitpunkt von Unterneh-
    menspleiten manipulieren kann, lässt sich
    dabei auch noch reichlich Geld verdienen.
    Währenddessen haben Popos Clowns-
    kollegen schadenfroh die Umsetzung
    vernünftiger Eindämmungsmaßnahmen
    verzögert und sich geweigert, europäi-
    schen Expertenrat weiterzugeben, weil
    man sich dadurch womöglich mit Europä-
    ertum anstecken könnte. Selbst Jeremy
    Hunt – Doppelgänger von Norman Bates
    und einst ein erschreckend destruktiver
    und unredlicher Gesundheitsminister –
    scheint inzwischen beunruhigt.
    Popo und seine Clowns sind Anhänger
    politischer Strategien, die sich gegen Regie-
    rung an sich richten, und haben daher
    unsere Infrastruktur fragmentiert, Budge-
    tierung und Verantwortlichkeiten auf die
    Gemeinden abgewälzt und diesen gleich-
    zeitig die Mittel gekürzt. Infrastruktur und
    Dienstleistungen, die überall für unsere
    Sicherheit sorgen sollten, sind zerstört und


entfernt worden. Diese Clowns schaffen
die Feuerwehren ab, weil ihre Häuser gera-
de nicht brennen. (Immerhin hat Popo die
Feuerwache in der Nähe seiner Residenz
als Bürgermeister von London erhalten –
nur zur Sicherheit – während er überall
sonst Mittel gestrichen und dadurch Katas-
trophen wie die von Grenfell unvermeid-
lich gemacht, weil sich die Reaktionszeit
der Nothelfer verlängert und die Zahl der
verfügbaren Löschzüge verringert.) Popos
Zirkus will die Macht und den Wohlstand
der Regierung ohne die Arbeitsbelastung.
Sie sind fasziniert von Verhaltensfor-
schung – und füttern dabei die Rechen-
modelle mit ihren eigenen Vorurteilen. Sie
wollen Strippenzieher sein – anschieben,
einschüchtern, belügen – doch wenn die
Wirklichkeit ihre Unwahrheiten zerfasern
lässt, werden wir sie weiter erdulden?
Popo und seine Clowns sind hartnäcki-
ge Nicht-Experten für alles. Sie wollten
uns weismachen, eine „Herdenimmuni-
tät“ werde entstehen, aber nicht durch
massenhafte Schutzimpfungen, sondern
indem man zwei Drittel von uns krank
werden lässt, wobei womöglich 800 000
an Covid-19 sterben werden, ganz abgese-
hen von kollateralen Todesfällen. Dass die
Überlebenden um Angehörige trauern, wo-
möglich vernarbte Lungen haben, sich neu
anstecken könnten oder auch wegen unzu-
reichender Krankengeldzahlungen finanzi-
ell ruiniert sein könnten, spielt keine Rolle.
Wahrscheinlich hat man lediglich aus Kos-
tengründen darauf verzichtet, massenhaft
infizierte Schuppentiere freizusetzen.
Popo hat die Verantwortlichkeiten im
Höchstmaß dezentralisiert – auf die Ebene
der einzelnen Bürgerinnen und Bürger.
Wir waschen uns die Hände und summen
dabei John Williams’ Filmmusik für die
näher kommende Gefahr aus dem „Wei-
ßen Hai“ – DAA-damm, DAA-damm, DAA-
damm... Popo triumphiert: Wir sind Teil
seines Todesexperiments. Doch wir wider-
setzen uns, isolieren uns selbst, helfen ein-
ander. Wir haben ihn zu einer Kehrtwende
bei den Massenversammlungen gezwun-
gen, die jetzt untersagt sind. Er dagegen
hat sich zwei Jahre Notstandsvollmachten
gesichert – lange genug, um die schlimms-
ten Folgen des Brexit-Chaos abzudecken.
Wer wird gewinnen? Eine vereinte Insel?
Ein wahnsinniger Anführer? Der Hai?

Übersetzung: Ingo Herzke

von reinhard j. brembeck

D


er Münchner Theaterwissenschaft-
ler Klaus Lazarowicz ist berühmt
für seinen Aufsatz mit dem abgeho-
ben befremdlichen Titel „Triadische Kollu-
sion“ (1977). Darin konstatierte er aller-
dings scheinbar nicht mehr als eine Banali-
tät. Dass nämlich im Theater – also in Pan-
tomime, Tanz, Schauspiel, Oper und letzt-
lich auch der Klassischen Musik – ein
Werk erst in einem Dreierschritt entstehe,
im Live-Zusammen-Spiel von Text, Auf-
führenden und Publikum. Damit zielt Laza-
rowicz auf die Gemeinschaft stiftende
Kraft dieser Künste, die sich so grundsätz-
lich von Literatur, Malerei, Bildhauerei, Ar-
chitektur und selbst dem Kino unterschei-
den. Aber hat Lazarowicz recht? Und ist die-
se These überhaupt von existenzieller Be-
deutung für diese Künste?


Am Montagabend sollte im Münchner
Nationaltheater ein von Ioana Mallwitz diri-
giertes Orchesterkonzert stattfinden mit
dem omnipräsenten Pianisten Igor Levit.
Doch dann verhinderte die grassierende
Seuche erst die Publikumsbeteiligung,
und dann sagte der Staatsopernintendant
Nikolaus Bachler auch noch den geplanten
Livestream des Konzerts vor leeren Rän-
gen ab. Zu groß war das Gesundheitsrisiko
für ein Treffen von 100 Musikern. Stattdes-
sen wurde ein kurzfristig anberaumtes,
dementsprechend bunt zusammengewür-
feltes Programm in kleiner Besetzung ge-
streamt.
Christina Landshamer und Christian
Gerhaher sangen, begleitet von dem Pianis-
ten Gerold Huber, das 50-minütige, 29-tei-
lige und fast nie zu hörende „Liederalbum
für die Jugend“ op. 79 von Robert Schu-
mann; Staatsopernmusiker geigten das
erste der Haydn-Quartette von Wolfgang
Amadeus Mozart; ihre Kollegen schlag-
zeugerten Musik von Johann Sebastian
Bach und Chick Corea. Das alles war live in
einem fast dreistündig pausenlosen Kon-
zert ohne Publikum zu hören. Dazwischen


spielte Igor Levit die 50-minütigen und nie
um skurrile Einfälle verlegende Diabelli-
Variationen von Ludwig van Beethoven.
Die sind eines seiner Bravourstücke, das er
jedoch aus nicht genannten Gründen nicht
live spielte: Gezeigt wurde ein kurz vor der
Übertragung entstandene Aufzeichnung.
Damit erwies sich diese ganze Veranstal-
tung in jeder Hinsicht als ein Zwitter. Jeder
spielte, was er gerade draufhatte, eine Dra-
maturgie war nicht vorhanden, zudem
mischte sich hemmungslos Live mit Kon-
serve. Was für den, der vor dem Bildschirm
sitzt, sowieso nicht zu erkennen ist und
auch keinen Unterschied macht. Denn für
den Menschen, der nicht körperlich anwe-
send ist bei einer Performance, ist immer
alles Gegenwart, was er via Stereoanlage
und Bildschirm erlebt. Ob Woodstock oder
Staatsoper – alles eins.
Zudem sind Anspruch, Aufmerksamkeit
und Verhaltenskodex bei einem Live-Fake-
Ereignis andere als bei einem Live-Kon-
zert. Im Saal ist der Hörer an seinen Platz
gefesselt und dem Tun der Musiker ausge-
liefert. Es wäre extrem unhöflich und
kommt kaum vor, dass jemand während ei-
ner Aufführung protestierend aufspringt
und geht. Nur wegdämmern wird akzep-
tiert. Von anderen unbeobachtet hingegen
hat der Hörer schon ganz andere Möglich-
keiten: laut schreiend gegen Langeweile
und Missdeutungen aufbegehren, aus
dem Zimmer rennen, den Ton oder die gan-
ze Übertragung abschalten. Und wer den
ganzen Tag im Homeoffice vor dem Com-
puter verbracht hat, der hat derzeit, das
wird sich in den nächsten Wochen und Mo-
naten noch verschärfen, nicht mehr viel
Lust, sich solch ein Event wieder vor dem
Bildschirm anzutun.
Nun spielt Gernot Huber den Klavierpart
in den Schumann-Liedern überlegen sub-
til. Gerhaher und Landshamer agieren
nach allen Regeln der Meistersingerzunft.
Aber den großen Bogen, den roten Faden,
den bieten sie nicht. Stück um Stück spu-
len sie ab, es könnten mehr oder (besser)
weniger als die 29 Miniaturen sein. Unter
Normalbedingungen hätte der Kritiker
schon früh Schluss gemacht mit dem Live-
stream und sich eine überzeugender Ein-
spielung gesucht. Da hat es Igor Levit leich-
ter mit den ähnlich kleinteiligen Diabelli-

Variationen, die er bereits zum Studienab-
schluss spielte und auch schon auf Platte
vorgestellt hat. Die sind besser und schlüs-
siger und vielgestaltiger komponiert, die
setzen sehr viel mehr als der intime Schu-
mann-Zyklus auf Überwältigung. Was Le-
vit, dem wirkungsbewussten unter den
Jungpianisten, mehr als entgegenkommt.
Es ist mit Abstand der musikalische Höhe-
punkt des Staatsopernpotpourris.
Ist solches Kritikergemäkel nicht unge-
recht, angesichts der guten Absicht hinter

diesem Event und ähnlichen Livestreams?
Es geht schließlich darum, den zuneh-
mend in ihren vier Wänden eingekerker-
ten Menschen ein wenig Freude zu ma-
chen, sie aus ihrer Tristesse herauszuho-
len. Dieser Überlegung aber liegen zumin-
dest zwei Denkfehler zugrunde. Zum einen
ist die musikalische Versorgung über Strea-
mingdienste, Spotify, Amazon, iTunes und
CDs auch schon vor dem Virus flächende-
ckend erschöpfend gewesen. Im Moment
wird das unübersehbare Angebot noch
sehr viel größer. Wenn die Berliner Philhar-
moniker jetzt ihre in der gebührenpflichti-
gen „Digital Concert Hall“ versammelten
Konzertaufzeichnungen für alle Menschen
kostenlos zugänglich machen, dann vergrö-
ßern sie das Klassikübermaß genauso, wie
sie für sich Werbung machen. Kein Altruis-
mus scheint ganz ohne Hintergedanken
auskommen zu können.
Der zweite mit diesen Online-Aktivitä-
ten konnotierte Denkfehler führt zu Klaus
Lazarowicz zurück. Gerade weil in der

Staatsopernübertragung immer wieder
und geradezu penetrant die leeren Ränge
des Nationaltheaters zu sehen sind, wird of-
fenbar, dass hier etwas grundsätzlich nicht
stimmt. Denn da wird kein Konzert über-
tragen, sondern eine unter aseptischen Stu-
diobedingungen abgehaltene Probe. Mit
den jetzt üblichen Streamingangeboten
wird behauptet, dass eine Übertragung

fast oder sogar genauso gut sei wie ein Kon-
zert. Aber das ist grundsätzlich falsch. Der
Staatsopernabend macht auch deshalb
nicht glücklich, weil er die Sehnsucht nach
einem Konzert erweckt. Eine Sehnsucht,
die auf lange Zeit hinaus nicht zu erfüllen
sein wird. So ist dieser Abend ein Requiem.
Damit ist nicht gesagt, dass Aufzeichnun-
gen nicht auch ihr Gutes hätten. Wer Teo-

dor Currentzis mit der Pathétique von Pe-
ter Tschaikowsky hört, Arturo Toscanini
mit Achten von Beethoven, Jordi Savall mit
Marin Marais oder Roger Woodward mit
„Eonta“ von Iannis Xenakis, der erlebt be-
geisternde und grandiose Aufführungen,
wie sie in Konzerten nur sehr selten zu ha-
ben sind. Aber Aufnahmen gehören einer
völlig anderen Kategorie an als Konzerte.
Aufnahmen ermöglichen den Egotrip
des Einzelnen, sie sind also zeitgemäßer
als Konzerte, die eine Zwangsgemein-
schaft schaffen. Was aber stimulierend auf
die Ausführenden wirkt. Jeder Musiker re-
agiert auf ein leibhaftig anwesendes Publi-
kum, dessen Erwartung, Begeisterung,
Enttäuschung sich auf den Spieler übertra-
gen. Dieser letzte und so entscheidende
Kick aber fehlt sicht- und hörbar der
Staatsopershow wie auch den meisten Stu-
dioproduktionen. Vielleicht deshalb, weil
Musik wie Theater ohne die von Lazaro-
wicz beschriebenen „triadischen Kollusi-
on“ gar nicht Wirklichkeit werden.

„Livestream“? Vor dem


Bildschirm zu Hause ist eigentlich


ohnehin alles Gegenwart


Es gibt großartige Aufnahmen.
Aber wenn man leere Ränge sieht,
fehlt einfach die Stimulation

Teil eines Todesexperiments


Warum das Happy End im „Weißen Hai“ in England unwahrscheinlich ist


Der Ersatz ist


leider ein Requiem


In bester Absicht sollen Internet-Übertragungen


Konzerte ersetzen. Warum machen sie nicht glücklich?


Popo und seine Clowns
sind hartnäckige
Nicht-Experten für alles

(^10) FEUILLETON Mittwoch, 18. März 2020, Nr. 65 DEFGH
Das erweckt eine Sehnsucht, die lange nicht erfüllt werden wird: Das Schumann-Quartett spielt im Münchner Nationaltheater fürs Netzpublikum. FOTO: WILFRIED HÖSL
Briefe vom Abgrund:
In dieser Kolumne berichtet
die schottische Schriftstellerin
A. L. Kennedy wöchentlich
aus dem Seelenleben des Brexit
Folge 11
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