Süddeutsche Zeitung - 18.03.2020

(Elliott) #1
von thomas steinfeld

V


on Friedrich Hölderlin gibt es ein
Gedicht aus dem Jahr 1799, das den
Titel „Mein Eigentum“ trägt und
einem Gedanken zu folgen scheint, wie er
eines romantischen Poeten würdig wäre.
Es beginnt mit Herbstbildern, in denen
von Ernte und Grundbesitz die Rede ist,
von „Zufriedenen“, die ihr „Gut gereift“
sehen, und es endet mit einer Selbstbe-
sinnung, in der ein offenbar besitzloser
Dichter die Göttin des Schicksals bittet,
ihm das „Asyl“ des „Gesangs“ zu lassen.
Das ist einfach, denkt man sich, einfacher,
als man es dem als schwierig geltenden
Hölderlin zugetraut hätte.


Doch sagt der italienische Literatur-
wissenschaftler Luigi Reitani, das Suchen
nach einfachen Botschaften sei vielleicht
nicht die angemessene Form des Umgangs
mit Friedrich Hölderlin. Dieser habe den
literarisch produktiveren Teil seines Le-
bens auf der Flucht verbracht, in unter-
schiedlichen Weisen des Fliehens, weshalb
man die mehr oder minder erzwungenen
Ortswechsel stets mitdenken müsse: „Die
Flucht, eben.“ Das hätte für dieses Gedicht
zur Folge, dass die Vorstellung des „Eigen-
tums“ nur für eine „Sehnsucht“ steht und
für nichts, was es wirklich gäbe, weshalb es
dann auch in der Mitte des Gedichts heißt,
die „Seele“ sei keine „Pflanze“.
Luigi Reitani lehrt jetzt wieder an der
Universität Udine, nachdem er fünf Jahre
lang Leiter des Italienischen Kultur-
instituts in Berlin war. Außerdem hat er, in
einer gigantischen Anstrengung, das ge-
samte Werk Friedrich Hölderlins ins
Italienische übersetzt und kommentiert.
Die Ausgabe, mit einem Umfang von fast
4000 Seiten, ist in diesen Tagen, wenige
Wochen vor dem 250. Geburtstag des
Dichters, im Mailänder Verlag Mondadori
erschienen.
Zugleich veröffentlichte Luigi Reitani
einen schmalen Band auf Deutsch, in dem
er in acht Aufsätzen über seine Arbeit


reflektiert: als Philologe, als Interpret und
als Übersetzer. Letzterem kommt in den
Essays das größere Gewicht zu, aus gutem
Grund. Denn ein Philologe oder ein Inter-
pret kann Bände mit seinen Einfällen und
Gedanken füllen. Der Übersetzer aber
muss sich bei jedem Wort für eine Lösung
entscheiden, gegen ein anderes Wort. Und
welches Wort er auch immer wählt: Es ist
seine Entscheidung, und er muss sie ver-
antworten.
Diese Verantwortung wiegt beim Werk
Friedrich Hölderlins vermutlich schwerer
als bei jedem anderen deutschen Dichter,
Paul Celan vielleicht ausgenommen. Denn
nicht nur, dass Teile des Werks frei flottie-
ren, in den seltsamsten Zusammenhän-
gen, so wie der Satz „Was bleibet aber,
stiften die Dichter“. Nicht nur, dass den
Gedichten im 20. Jahrhundert ein Inter-
pretationswesen ohnegleichen gewidmet
wurde, von Stefan George über Martin
Heidegger bis zu Theodor W. Adorno und
Dieter Henrich. Nicht nur, dass die ange-
bliche Geisteskrankheit des Dichters den
Stoff für zahlreiche Auseinandersetzun-
gen über den Zusammenhang von Genie
und Wahnsinn lieferte, um dann, nach
Peter Weiss und Pierre Bertaux, in den
Angriff auf eine Gesellschaft zu münden,
die das subversive Kreative unterdrückt.
Vielmehr galt Friedrich Hölderlin auch
einer der härtesten Kämpfe um die ange-
messene Edition, die je geführt wurden.
In den vergangenen Jahren sank indes-
sen, so scheint es, diese Rezeptionsge-
schichte weitgehend dahin. Sie wurde ab-
gelegt wie ein zu oft getragenes Hemd.
Zurück blieb ein Werk, das sich durch sein
Pathos, seine Versformen, seinen frag-
mentarischen Charakter, durch seine
Verknüpfung mit der griechischen Antike,
kurz: durch einen Abstand von 200 Jahren
zunehmend fremd ausnimmt. Fremd,
aber alles andere als frei, denn der Überset-
zer kann der schwierigen Geschichte des
Werkes und seiner Wirkung nicht entge-
hen. In dieser verworrenen, allseits belaste-
ten Lage trifft Luigi Reitani seine Entschei-
dung. Die Flucht, sagt er, sei das Motiv, von
dem das gesamte Werk durchzogen werde,
eingeschlossen die verwandten Motive des
Abschieds, der Wanderung und der Sehn-
sucht. Hyperion, der Held des gleichnami-

gen Briefromans aus den Jahren 1797 und
1799, des einzigen Buches, das Hölderlin
veröffentlichte, ist ein Mann auf der
Flucht. Das Gedicht „Mein Eigentum“ ist
aus der Perspektive eines Abschieds ge-
schrieben, und der „Nekar“, der Fluss
selbst, ist auch ein „Flüchtiger“.
In dieser Flucht gebe es keinen Halt, al-
lenfalls „Wunschträume“, deren größter
die Idee der absoluten Sprache oder des ab-
soluten Wissens sei, die, so muss man wohl
ergänzen, von Hölderlins Studienfreunden
Schelling und Hegel in die Welt getragen
wurden. Hölderlin erscheint, so betrach-
tet, in diesem Trio als der Modernste: als
ein spekulativer Kopf, der ebenso weit zu
denken vermochte wie seine Freunde,
ihnen aber, womöglich gegen die eigenen
Intentionen, darin voraus war, dass er das
Scheitern aller Hoffnungen auf Erlösung
von vornherein mitbedachte: „Nein, da

wird keine Rettung versprochen“, so Reita-
ni. Wie es sich mit den Übersetzungen ins
Italienische dann tatsächlich verhält,
muss ein italienisches Publikum wissen.
Für deutsche Leser interessant aber sind
nicht nur die Entscheidungen, die der Über-
setzer zu treffen hat, sondern auch deren
Begründungen. An ihnen ist nicht allein
philologisches Arbeiten zu lernen, sondern
ebenso, was Verstehen eigentlich bedeu-
tet, nicht nur bei literarischen Texten.
Man nehme nur das bekannteste aller
Gedichte Hölderlins, die vierzehn Zeilen,
die den Titel „Hälfte des Lebens“ tragen:
Ein Wort für „hold“ gibt es im Italienischen
nicht. Luigi Reitani wählt „amati cigni“,
also „geliebte Schwäne“, und blendet aus,
dass „holde Schwäne“ sich denen, die sie
lieben, auch zuwenden. Er besteht hinge-
gen darauf, dass die Fahnen tatsächlich
„klirren“ („stridere“, auch „kreischen“

oder „schrillen“), der in ihnen enthaltenen
Lüge wegen. Eigentlich müsste man auch
die turtelnden „Schwäne“ in die Überlegun-
gen aufnehmen, denn dieses Federvieh
stellt im Italienischen bei Weitem nicht
das Symboltier dar, das es im Deutschen
abgibt.
Am Ende dieser Arbeit aber steht ein
Text, der etwas ist, was das Original nicht
sein kann, nämlich eine Übertragung nicht
nur in eine andere Sprache, sondern auch
in eine andere Zeit. Man wünschte sich, es
gäbe nicht nur eine Übersetzung, sondern
auch eine Rückkehr zum Original durch
die Übersetzung, mit Luigi Reitani als
Mentor.

Luigi Reitani:Hölderlin. Gedanken über einen Dich-
ter auf der Flucht. Folio Verlag, Wien/Bozen 2020.
108 Seiten, 20 Euro.

Eben noch sitzt der Physiker Nicola Caned-
du beim Feierabendbier – im nächsten Mo-
ment findet er sich in den Händen brutaler
Kidnapper wieder, die Informationen zu
einem geheimen Tunnel am Forschungs-
zentrum CERN aus ihm herauspressen
wollen. Nicola entkommt und recherchiert
zunächst auf eigene Faust – dann im Regie-
rungsauftrag. Sein immenses Wissen über
Elementarteilchen macht ihn zum wert-
vollen Verbündeten in einem Kampf, der
die ganze Welt zu verändern droht.
Gemeinsam mit einer unerschrockenen
Reporterin und einem Ex-Soldaten deckt
er eine Verschwörung auf, die ungeheure
Dimensionen annimmt und über drei Kon-
tinente führt. Als Agent wider Willen ist Ni-
cola schließlich vor eine schwere Entschei-
dung gestellt. SZ-Wissenschaftsredakteur
Patrick Illinger, der selbst am CERN ge-
forscht hat, verwebt reale Orte und Ereig-
nisse, historische wie wissenschaftliche,
zu einem fesselnden Science-Thriller. sz

Patrick Illinger:QUANTUM – Tödliche Materie.
Thriller. dtv-Verlag, München 2020. 448 Seiten,
16,90 Euro.

Während im ganzen Land Lesungen und
Veranstaltungen abgesagt werden, hat
das Berliner Haus für Poesie den


  1. Wettbewerb für junge Literatur
    „Open Mike“ ausgelobt. Bis zum 13. Juli
    kann jede und jeder eine Bewerbung ein-
    schicken (www.haus-fuer-poesie.org).
    Ein unabhängiges Lektorat wählt unter
    den anonymisierten Einsendungen 18
    Texte für das Finale aus, diese Texte
    werden als Anthologie veröffentlicht,
    ihre Verfasserinnen und Verfasser er-
    halten eine Einladung zum öffentlichen
    Finale, das vom 6. bis zum 8. November
    in Berlin stattfinden soll. sz


In der Überzeugung, dass Literatur von-
nöten ist und Künstlerinnen Einkom-
men brauchen, das Publikum aber nicht
gefährdet werden soll, hat sich das Lite-
raturhaus Berlin entschlossen, „aktiv
für die Literatur zu handeln“. Die Ver-
anstaltungen finden statt, Autorinnen
und Autoren treten auf, aber nicht im
Saal, sondern als Podcast oder im Video-
stream. Das Programm findet sich hier:
http://www.literaturhaus-berlin.de. sz

Der Übersetzer muss sich


bei jedem Wort entscheiden,


gegen ein anderes Wort


Sehnsucht eines


Flüchtenden


Der italienische Literaturwissenschaftler


Luigi Reitani erkundet das Werk Friedrich Hölderlins


NACHRICHTEN


VON SZ-AUTOREN


Patrick Illingers


Thriller über das CERN


12 HF2 (^) LITERATUR Mittwoch, 18. März 2020, Nr. 65 DEFGH
Der Germanist und Hölderlin-Übersetzer Luigi Reitani. FOTO: IMAGO STOCK
Mensch,Salz der Suppe...
Der Holzlöffel mischt mich in
kochende, fremde Massen.
Wo istnun das einstige
Schimmern, die friedlich-weiße
Gemeinschaft stiller
Kristallgeschwister?
Wehe mir, ich schmelze,
verschwinde!
Und ich rufe euch dennoch aus der
wallenden,kochenden Tiefe, dass
ich doch Salz bleibe, selbstin der
Suppe Salz bleibe!
Die Farbevergeht.Die Form
vergeht.Der Geschmackbleibt.
Und mich belebt während des
Mischens ein seliger Trost.
Es istschon gut! Weiß ja, wer den
Löffel bewegt.
Erzébet Túrmezei, Oberin in Budapest.
Sie nehmen Abschied,
alles andere machen wir
Damenstiftstr. 7 l 80331 München
=> S-Bhf Karlsplatz (Stachus)
Telefon 235 06 70
Tag&Nacht
erreichbar
tBestattungen
tVorsorge
Wir beraten Sie kompetent, um-
fassend und individuell.
Die Süddeutsche Zeitung verzichtet bis auf Weiteres auf die Veröffentlichung der täglichen Bestattungstermine
in der Stadt und dem Landkreis München.
Dies ist dem Veranstaltungsverbot des Freistaates Bayern geschuldet, das auch den Bestattungsbetrieb betrifft.
Wir wollen damit auch erreichen, dass der Kreis der teilnehmenden Trauergäste auf die Personen beschränkt bleibt,
die im engen familiären Bezug zu den Verstorbenen stehen.
Wir bitten um Ihr Verständnis.
Ihre Süddeutsche Zeitung
Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet,
mußt du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb - Jesaja 43:
Wir nehmen Abschied von unserem geliebten Ehemann, Vater
und Schwager
Dr.
Stefan Schweyer
der nach langer und schwerer Krankheit von uns gegangen ist.
In tiefer Trauer
Barbara, Florian, Sophieund Stephanie Schweyer
Marie-Luise Meinecke
Die Beisetzung findet am Montag, den 23.03.2020 um 12.
am Waldfriedhof Alter Teil in München statt.
† 14.3.
Rechtsanwalt



  • 18.9.
    Tieftraurig, aber mit vielen wunderschönen Erinnerungen
    nehmen wir Abschied von unserem lieben
    Vater, Opa, Bruder und Freund
    Klaus Rodemeier
    In Liebe:
    Rudi, Andrea, Sebastianund Timon
    Jürgen, Wonneund Rein
    Susanneund Peter
    Ursula
    Die Trauerfeier findet im engsten Familienkreis statt.
    † 16.3.2020 Weßling
    Dipl. Ingenieur

  • 12.7.1930 Königsberg
    Irmtraud Schwerdtel
    geb. 10. 11. 1938 gest. 15. 3. 2020
    Die Beerdigung fndet im engsten Familienkreis statt.
    Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot,
    der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.
    I. Kant
    In liebevollem Gedenken an
    Ernst und Edith Schwerdtel
    Bernd und Barbara Brüderl, geb. Schwerdtel mit To b i a s und Simon
    Matthias und Michaela Schwendemann, geb. Schwerdtel
    mit Moritz und Va l e nt i n
    Brünhilde Nätscher
    Sekretärin, 82 Jahre
    Wir nehmen Abschied von
    Familie Nätscher
    im Namen aller Angehörigen und Freunde
    Die Urnenbeisetzung fndet am Mittwoch, den 25. März 2020,
    um 15.30 Uhr im Waldfriedhof Haar statt.
    Besuchen Sie auch
    das Trauerportal SZ-Gedenken
    der Süddeutschen Zeitung.
    Erfahren Sie mehr:
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    Abschied nehmen von einem
    geliebten Menschen ist schmerzlich.
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