Süddeutsche Zeitung - 18.03.2020

(Elliott) #1
Warnen, aber Panikmache vermeiden –
nach diesem Prinzip informiert in diesen
Tagen der oberste Pandemie-Aufklärer
Tedros Adhanom Ghebreyesus. Laufend
verkündet der Generaldirektor der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) gestiege-
ne Zahlen von Covid-19-Infizierten. Im-
mer wieder muss er die Zahl der Toten
durch das Virus nach oben korrigieren.
Staatschefs wollen seine Einschätzung,
wie sie die Bevölkerung schützen sollen,
Journalisten, welche Hiobsbotschaften
tatsächlich stimmen, auch der Weltfuß-
ballverband Fifa sucht um Rat nach.
Der Immunologe und fünffache Vater
eilt täglich zu Sitzungen seines Krisen-
stabs. Auf Twitter wirbt er lächelnd dafür,
aufs Händeschütteln zu verzichten und
stattdessen lieber die Hand „aufs Herz“
zu legen. Er stellt sich am liebsten mit sei-
nem Vornamen vor: „Nennt mich einfach
Tedros.“ Von den meisten wird er aber
dann zumindest „Dr. Tedros“ genannt.
Ghebreyesus gilt als beharrlich, aber di-
plomatisch, ruft zu Zusammenhalt und
Besonnenheit auf. Doch schon länger
wird dem 55-Jährigen vorgeworfen, dass
er selbst eine besonnene Haltung ver-
missen lasse.
Nur zögerlich stufte der Äthiopier die
rasche Verbreitung der Lungenkrankheit
von einer Epidemie zu einer Pandemie
herauf. Erst Ende Januar rief er einen glo-
balen Gesundheitsnotstand aus – zu spät,
wie ihm die Autoren einer Online-Petition
vorwerfen. Darin fordern knapp 500 000
Menschen seine Absetzung, weil er dem
Ansehen der WHO schade. Wütende Reak-
tionen gab es auch, weil er den Umgang
Chinas mit dem Coronavirus gelobt hatte.
Eine Delegation von Gesundheitsexper-
ten unter Leitung der WHO war Ende Fe-

bruar in das heftig vom Virus getroffene
Land gereist und mit der Erkenntnis zu-
rückgekehrt, dass die Behörden massiv
Personal aufgestockt und Metropolen ab-
geschottet hätten, weshalb die Fallzahlen
zurückgingen. Der Widerspruch kam
prompt: Die WHO sei der chinesischen
Propaganda aufgesessen – oder stelle Chi-
na bewusst positiv dar.
Ghebreyesus ist in einer Zwickmühle.
Viele Menschen trauen den Zahlen der Re-
gierung in Peking nicht. Doch die WHO
will China nicht durch harte Kritik verprel-
len, ist auf Zusammenarbeit angewiesen,
um über die Pandemie informieren zu

können. Zuletzt sparte der WHO-Chef
auch nicht mit Kritik. Die internationale
Staatengemeinschaft reagiere viel zu lo-
cker auf Corona: „Findet, isoliert, testet
und behandelt jeden Fall und geht jeder
Spur nach“, forderte er.
Ghebreyesus wurde 1965 in Asmara ge-
boren, als die Stadt noch unter äthiopi-
scher Kontrolle stand, heute ist sie die
Hauptstadt Eritreas. Journalisten erzählt
er oft die Geschichte seines Bruders, der
im Kindesalter starb, wahrscheinlich an
Masern, einer Krankheit, die der Mensch
eigentlich längst im Griff hatte. Doch sei-
nem Bruder fehlte der Zugang zu medizi-
nischer Versorgung. Diesen Missstand, so
Ghebreyesus, wollte er nicht akzeptieren.
Er studierte Biologie in Asmara, dann
Immunologie in Großbritannien, wo er
auch zum Gesundheitswesen promovier-
te. Danach kehrte Ghebreyesus zurück,
wurde äthiopischer Gesundheits-, dann
Außenminister in Addis Abeba, gehörte
der Regierung mehr als zehn Jahre an. Er
erreichte, dass 3500 Gesundheitszentren
in Äthiopien gebaut und Tausende ärztli-
che Helfer in der ländlichen Region ausge-
bildet wurden. Das wurde ihm hoch ange-
rechnet, und er galt als Charismatiker im
Amt. Doch er soll auch die Cholera-Epide-
mie vertuscht und den Tod von Infizier-
ten in Kauf genommen haben.
2017 verließ er Politik und Heimat für
den WHO-Posten in Genf. Er begann, die
träge und klamme Organisation zu refor-
mieren, machte Frauen zu Führungskräf-
ten. Ghebreyesus trat mit dem Vorhaben
an, dass Gesundheit für jeden, egal ob
arm oder reich, bezahlbar werden müsse.
Nun aber bekämpft die WHO erst einmal
eine Pandemie, Dr. Tedros’ Reformen
müssen warten. clara lipkowski

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VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
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NACHRICHTENCHEFS:
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AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Detlef Esslinger (komm.)
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
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von marc beise

M


an mag noch so viel über neue
Mobilität reden, über Diesel-
skandal und den Trend weg vom
Individualverkehr – wenn es hart auf
hart kommt, ist der Verbrenner in
Deutschland immer noch ein Kraftfeld,
auf das es ankommt. Die Ankündigung,
dass VW als größter deutscher Autobauer
seine Bänder anhalten wird, an denen im-
mer noch vor allem traditionelle Autos
produziert werden, verbreitete sich am
Dienstag in Windeseile: als Zeichen da-
für, dass es wirklich ganz schlimm wird.
Dabei konnte die Nachricht eigentlich
nicht überraschen. Denn erstens müssen
sich die Wolfsburger, wie alle anderen
Unternehmen auch, in Zeiten des Corona-
virus Gedanken über Hygiene und An-
steckungsgefahr in ihren Unternehmen
machen, und selbst in hoch technisierten
Fabriken ist es schwer, die Menschen
überall auf Abstand zu halten. Und zwei-
tens ist offensichtlich, dass auf Wochen,
wenn nicht Monate hinaus keine Autos
mehr gekauft werden, warum also sollte
man noch mehr auf Halde produzieren,
als das ohnehin gerade geschieht?
Zwar ist die Branche eine der wichtigs-
ten des Landes. Einschließlich der Zu-
lieferer arbeiten hier viele Millionen Men-
schen, und daran hängt ein guter Teil des
deutschen Wohlstands. Doch wenn die
Krise irgendwann abflaut, dann wird wie-
der Auto gefahren, und es werden auch
wieder Autos gekauft, womöglich sogar
im selben Zeitraum mehr als bisher. Auto-
bauer können sich Hoffnung auf Nachhol-
effekte machen – anders als etwa Restau-
rantbesitzer, deren Tische nach der Krise
nicht zweimal vergeben werden können;
die Verluste von heute bleiben für immer.
Deshalb sollte auch niemand jetzt auf
die Idee kommen, den Autokonzernen
Geld aus dem Rettungsfonds der Bundes-
regierung zuzubilligen (sie haben danach

auch bisher nicht gefragt). Namentlich
der VW-Konzern hat, obwohl er so viele
Milliarden in die selbst verschuldete
Schadensbegrenzung nach dem Dieselbe-
trug gesteckt hat, immer noch Geld und
alle Möglichkeiten, sich zu finanzieren.
Überhaupt ist es, nachdem die Politik
zu Recht viel Beifall dafür bekommen
hat, unbegrenzte Hilfe zu versprechen,
nun an der Zeit, darüber nachzudenken,
wer wirklich bedürftig ist. Das sind zu-
erst diejenigen, die sich nicht selbst erho-
len können, der Klein- und Mittelstand

und die Selbständigen: das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft. Und von den
großen Unternehmen sind es vor allem
diejenigen, die systemrelevant sind – ein
Wort, das aus der Finanzkrise bekannt
ist. Damals wie heute sind das, ob es
einem passt oder nicht, die Banken, die
das Geld vermitteln, das eine moderne
Wirtschaft braucht.
Systemrelevant sind auch Unterneh-
men, welche die Realwirtschaft in Gang
halten, beispielsweise jene, die Verkehr
am Boden, im Wasser und in der Luft
ermöglichen. So muss, wenn es hart auf
hart kommt, der Flugzeugkonzern Air-
bus ein Kandidat für Staatshilfe sein; die
Lufthansa ist es bereits. Der größten deut-
schen Fluglinie geht es schlecht, obwohl
sie ein seriöses Geschäftsmodell hat.
Auch das ist übrigens ein wichtiges Kri-
terium für Staatshilfe: Wie nachhaltig ist
ein Geschäftsmodell? Wer nur auf Pump
gewachsen ist, wer aus Prinzip auf Kante
wirtschaftet und Wachstum ohne Sub-
stanz betreibt, der muss jetzt die Konse-
quenzen tragen. So wird diese schlimme
Krise am Ende vielleicht dazu beitragen,
dass besser gewirtschaftet wird.

von ralf wiegand

F


ußball, das ist die gute Nachricht,
wird es auch nach Corona geben.
Das simple Spiel hat noch jede Krise
überstanden, alle Verbote, alle Kriege, alle
Diktaturen. Fußball ist ein Ausdruck von
Lebensfreude und Freiheit – wenn beides
zurückkehrt, wird auch der Ball wieder rol-
len. In den Parks nach Feierabend, auf den
Bolzplätzen nach Schulschluss, sonntag-
morgens auf roter Schlacke und auch in
den großen Stadien am Wochenende.
Das ist gerade natürlich sehr schwer
vorstellbar. Der weltweite Spielabbruch
fühlt sich für die Freunde des Sports an,
als wäre die große Stadionuhr für immer
stehen geblieben. Die Orientierung fehlt.
Egal, was auch passierte: Es gab eine Hin-
und Rückrunde, eine Sommer- und Win-
terpause und in geraden Jahren ein gro-
ßes Turnier. Der Kalender hatte ein paar
englische Wochen und das Wochenende
eine Struktur. Samstag, 15.30 Uhr, begann
die Messe. Gerade in der Krise wäre diese
Ablenkung ein Segen. Ob man selbst auf
der Bezirkssportanlage kickt oder als Fan
in der Kurve steht: Wer je den Schmerz
des letzten verlorenen Spiels gespürt, wer
je den entscheidenden Elfmeter ins Tor
gebetet hat, wird Fußball unbedingt für
systemrelevant halten.
Die schlechte Nachricht ist allerdings:
Dieser Fußball ist längst ein eigenes ge-
schlossenes System. Wie es nach Corona
aussehen wird, lässt sich noch nicht ab-
schätzen. Der weltweite Stopp aller Profili-
gen, die Verschiebung der Europameister-
schaft um ein Jahr, die erzwungene Trai-
ningspause für die Stars: Das alles hält die
Branche schon nicht mehr aus, kaum dass
sie vom Virus überhaupt erst in die Kabi-
ne geschickt worden ist. Was sich bereits
in Woche eins des ruhenden Spielbetriebs
zeigt, ist die fehlende Nachhaltigkeit. All
die Milliardenhonorare vom Fernsehen,
die Einnahmerekorde in den Stadien oder

die Erlöse in den Fanshops haben nicht zu
einer Wertschöpfung geführt, auf die sich
der Sport stützen könnte. Die Maschine
Profifußball verbrennt Geld als Treib-
stoff. Und nun, wo die Tanks leer und die
Zapfsäulen geschlossen sind, streiten sich
Vereine und Verbände, wer vergessen hat,
den Reservekanister aufzufüllen.

Im Theater der Emotionen ist „die gro-
ße Fußball-Familie“ nur gespielt, das
Wort Verzicht kommt nicht vor. Schon das
bloße Verschieben der EM von einem ins
andere Jahr verkauft der Kontinentalver-
band Uefa als großes Opfer. Jeder schaut,
wo er bleibt: Das Pay-TV braucht Ware für
seine Abonnenten, die Klubs brauchen
das Fernsehen für ihre Sponsoren, die
Sponsoren brauchen Spiele und Fernse-
hen für die Werbung, und die Spieler und
Manager brauchen alles zusammen für
ihre enormen Gehälter.
Mal sehen, wer am Ende in diesem Boot
voller Schiffbrüchiger wen aufgefressen
haben wird. Die großen Klubs sehen
schon mal nicht ein, die kleinen mit ihrer
Solidarität für deren Armut zu „beloh-
nen“ – man sei ja „im Wettbewerb“, sagt
Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer
der Borussia Dortmund GmbH & Co
KGaA. Dass es ein Wettbewerb nicht nur
ums nächste Tor des Monats ist, sondern
ums Überleben, ist nun verbrieft.
Klar ist aber auch, dass millionenschwe-
re Fußballer nicht morgen einfach Eisho-
ckey spielen können und lieber jetzt auf
Geld verzichten sollten, um ihre Arbeits-
welt zu retten. Und klar ist auch, dass nie-
manden interessiert, wenn Borussia Dort-
mund künftig gegen sich selbst antritt. Da
gehen die Menschen lieber selbst kicken,
Samstag, 15.30 Uhr im Park.

I


n Sachen Brexit schreckt Boris John-
son nicht vor großen Worten zurück.
Als es etwa darum ging, den Austritts-
vertrag mit Brüssel zu verhandeln, be-
zeichnete der Premierminister ein mögli-
ches Scheitern als „Versagen der Staats-
kunst“. Nun, da es gilt, ein Freihandels-
abkommen auszuhandeln, wird Johnson
erneut zeigen müssen, wie es um seine
Staatskunst bestellt ist. Der Premier steht
jetzt vor der Frage, ob er seinem Land in
der Corona-Krise auch noch einen harten
Brexit aufbürdet.
Gewiss, Johnson hat es immer strikt ab-
gelehnt, die bis Jahresende geltende Über-
gangsphase zu verlängern. Geht es nach
ihm, soll das Vereinigte Königreich da-


nach endlich frei von den Fesseln der EU
seine angeblich glorreiche Zukunft selbst
gestalten können. Doch angesichts der
Pandemie, der sich auch Großbritannien
nicht entziehen kann, ist dieses Verspre-
chen nicht mehr haltbar. Ein verantwor-
tungsvoller Premier muss den Bruch mit
der EU aufschieben. Denn eine Kombinati-
on aus Corona-Krise und einem harten
Brexit, wie ihn Johnson anstrebt, wäre für
Großbritannien toxisch.
Natürlich müsste der Premierminister
seine Kehrtwende gegenüber den Brexi-
teers rechtfertigen. Aber das sollte John-
son gelingen, schließlich zählt die Kunst
der Rhetorik wahrhaftig nicht zu seinen
Schwächen. alexander mühlauer

G


erade noch war man beim Schnor-
cheln auf den Surin-Inseln oder an
der Après-Ski-Bar in Ischgl. Und
jetzt? Ist die Welt so klein, so eng gewor-
den, wie es die Deutschen mit ihrem roten
Reisepass nicht kannten.
Seit der Nachkriegszeit war man es ge-
wohnt, die Welt erkunden zu können, was
auch gut so ist. Die Welt braucht Men-
schen, die reisen, weil das Kennenlernen
anderer Kulturen Vorurteile abbaut. Am
Dienstag nun hat die Bundesregierung ei-
ne weltweite Reisewarnung ausgespro-
chen – es ist das vorläufige Ende des Rei-
sens, wie man es kannte. Es hatte sich in
den Tagen zuvor schon abgezeichnet:
Wenn man fast nirgends mehr einreisen


darf, gibt es auch keine Flüge mehr. Wo
Kreuzfahrtschiffe keinen Hafen finden,
der sie aufnimmt, gibt es keine Kreuzfahr-
ten mehr. Und wer dieser Tage gereist ist,
kann nachempfinden, wie es zuletzt chine-
sischen Urlaubern erging: Nun wurden
auch Deutsche im Ausland gemieden,
zum Teil rassistisch beschimpft.
Die neuen Reisebeschränkungen sind
nachzuvollziehen – und sie sind richtig.
Zugleich sind sie für viele ein großer
Schmerz. Reisen ist Freiheit. Reisen ist Au-
tonomie. Nicht reisen zu können, empfin-
den viele als Verlust. Aber es gibt Schlim-
meres auf der Welt. Und es wird ein Ver-
lust auf Zeit sein, und deshalb ein erträgli-
cher. monika maier-albang

D


ie gute Nachricht in diesen Tagen:
Verhungern muss keiner. Es gibt
in diesem Land immer noch genug
Menschen, die Tiere halten oder Feld-
früchte säen. Die andere Frage ist nur, wer
diese Früchte am Ende ernten wird. Denn
das Coronavirus trifft auch die deutsche
Landwirtschaft an einer kritischen Stelle,
über die sich bislang niemand groß Sor-
gen machte: bei den Erntehelfern.
Mehr als 280 000 von diesen Saisonar-
beitskräften halfen zuletzt auf deutschen
Äckern mit, zu 95 Prozent kamen sie aus
dem Ausland, aus Rumänien, Polen, dem
Baltikum. Mehl und Brot werden wegen
Corona nicht knapp – Getreide lässt sich
mit dem Mähdrescher ernten. Schwieri-


ger ist die Lage bei allen Feldfrüchten, die
sich nicht maschinell ernten lassen: Spar-
gel, Gurken, Erdbeeren und viele mehr.
Sollen sie nicht auf den Feldern verdor-
ren, braucht es womöglich kreative Lösun-
gen. Nichts spricht dagegen, in begrenz-
tem Umfang auch Helfer auf die Felder zu
holen, die ihrer üblichen Tätigkeit wegen
Corona nicht nachgehen können, von der
Studentin bis zum Ladenverkäufer. So,
wie sich Menschen nun um ältere Nach-
barn kümmern und ein neuer Gemein-
sinn erwacht, hätte auch das sein Gutes:
Die neuen Helfer erführen so, unter wel-
chen Mühen all das gewonnen wird, was
ihnen bislang oft nur im Supermarkt be-
gegnete. michael bauchmüller

J

ener Politiker, der sonst so von
sich selbst ergriffen die Einheit
der Nation beschwört, steht beisei-
te, wenn nun wirklich die Solidar-
gemeinschaft der Italiener gefragt
ist. Matteo Salvini, einst starker Mann
ganz rechts, pöbelt weiter gegen eine an-
geblich versagende, volksferne Regierung
und lässt die Welt wissen, nur mit ihm,
dem Möchtegern-Duce, sei das Land zu
retten. Aber die Welt hat plötzlich kein In-
teresse mehr an seinen Provokationen, we-
nigstens zur Zeit nicht. Die Corona-Krise
entfacht eine bezeichnende Nebenwir-
kung: Sie greift das zentrale Nervensys-
tem des Populismus an. So wie im Mär-
chen von des Kaisers neuen Kleidern ste-
hen seine Leitfiguren politisch plötzlich
ohne Hemd und Rock da. Ihre Destruktivi-
tät, Konzeptlosigkeit und Inkompetenz
sind für jedermann sichtbar.


Brasiliens rechter Regenwaldschänder,
Präsident Jair Bolsonaro, wirkt völlig über-
fordert von der Pandemie; mehr als wirre
Verschwörungstheorien hat er dem Volk
nicht zu bieten. Die Kur, die Großbritanni-
ens Brexit-Premier Boris Johnson vor-
schwebt, erinnert an spätmittelalterliche
Quacksalber; diese predigten gern Selbst-
geißelungen als Vorbeugung gegen den
Schwarzen Tod, die Pest. Und US-Präsi-
dent Donald Trump schiebt wie stets ande-
ren die Schuld zu (der EU), sieht sinistre
Kräfte am Werk (die US-Demokraten) und
erzählt, was seinen Zwecken gerade dient.
Diesmal könnte der Erfolg ausbleiben.
All das eigensüchtige Gebaren hat nur
eines erreicht: Die USA, das Vereinigte
Königreich, Brasilien verloren noch mehr
wertvolle Zeit im Kampf gegen die Pande-
mie als andere. Jeden Tag greift sie weiter
um sich, und wenn Regierungen sie nicht
entschlossen eindämmen, wird sie das
mit der wachsenden Wucht einer Lawine
tun. Ob die osteuropäischen Regierungen,
die das Virus nutzen, um sich weiter abzu-
schotten und den Rechtsstaat noch mehr
abzubauen, den Härtetest bestehen, ist
noch längst nicht ausgemacht. Jeder Ver-
such, die Seuche kleinzureden, ist binnen
Tagen als Geschwätz enttarnt, der dunkle
Zauber des Populismus zeigt sich als Ver-
weigerung von Verantwortung.
Die Coronakrise, schreibt der Dortmun-
der Wirtschaftsprofessor Henrik Müller,
entlarve Nationalisten und Populisten
„als das, was sie sind – als gefährliche
Scharfmacher, die sich allein auf kommu-
nikativen Bullshit stützen, nicht um die
Wahrheit scheren und genau deshalb


folgenschwere Fehler machen“. Die „Ich
bin das Volk“-Attitüde und geschickt in-
szenierte Feindbilder haben so lange funk-
tioniert, wie es noch keinen Notstand gab,
der jedermann betrifft. Der Klimawandel,
von dem die Rechtspopulisten behaup-
ten, er sei eine Erfindung linker Eiferer
und unbelegbar, betrifft zwar auch jeden,
brutal spürbar werden seine Folgen in der
westlichen Welt jedoch erst mittelfristig
sein. Aber eine globale Seuche greift hier
und heute in unsere Freiheit, unser Wohl-
befinden, unsere Existenz ein.
Am Aufstieg des Rechtspopulismus
waren die Demokratien nicht unschuldig.
Stark wurde er erst durch ihre Schwä-
chen. Seine Botschaft bietet simple, trüge-
risch einfache Erklärungsmuster für
beunruhigend verwirrende Probleme. Die
Demokratien haben Bürger, die sich mit
ökonomischen Sorgen, Migration, gesell-
schaftlichem Wandel, gefühlten oder be-
rechtigten Ängsten zurückgelassen fühl-
ten, zu oft vernachlässigt. Wer dem Popu-
lismus aber mit Haltung und demokrati-
schem Selbstbewusstsein entgegentrat
wie Emmanuel Macron in Frankreich, der
bewies, dass es durchaus Mittel gegen die
manipulativen Vereinfacher gibt.
Macron hat nun den „Krieg“ gegen das
Virus ausgerufen. Man muss sich den
Begriff nicht zu eigen machen. Aber auch
in Deutschland wird tatkräftiges Handeln
der Regierungen erwartet und mit Zu-
stimmung belohnt. Selbst in der AfD se-
hen manche die Gefahr, als Stänkerer am
rechten Rand außen vor zu bleiben, wenn
Vertreter der Parteispitze die Coronakrise
wie alle anderen Übel der Welt der Bundes-
regierung anlasten. Noch sind sehr viele
Bürger bereit, aus Solidarität und Einsicht
all die Einschränkungen mitzutragen. Sie
machen eine Erfahrung, die in manchen
von Verunsicherung geprägten Debatten
allzu leicht verloren ging: Die Demokratie,
der freiheitliche Rechtsstaat versagt eben
doch nicht, wenn es darauf ankommt.
Anlass zur Beruhigung ist das nur
begrenzt. Vielleicht wird sein Dilettieren
angesichts der Pandemie der erste Nagel
zum Sarg der Trump’schen Präsident-
schaft sein. Vielleicht aber triumphiert
der Populismus erneut – dann nämlich,
wenn die Demokratien die wirtschaft-
lichen Folgen der Pandemie nicht abfe-
dern. Diese Folgen treffen Ärmere, Gering-
verdiener, sozial Schwächere, Alleinerzie-
hende zuerst; sie alle werden am drin-
gendsten Hilfe benötigen. Hier bildet sich
eine neue soziale Frage heraus, auf welche
die Politik bald schon Antworten wird fin-
den müssen. Elend und Massenarbeits-
losigkeit wären ein idealer Nährboden für
die Verheißungen des Rechtspopulismus.
Die Welt der Demokratien sollte diesen
Gegner nicht noch einmal unterschätzen.

Das einfachste Hilfsmittel
bei der Hygiene nach dem Ge-
schäft war (und ist) dem Men-
schen die Hand, meist die lin-
ke; Verbrechern die rechte
Hand abzuschlagen, hieß auch, sie un-
rein zu machen. Doch schon in der Bron-
zezeit wurden die großen Blätter der Pest-
wurz auf den Aborten genutzt; in Bayern
heißen sie bis heute Arschwurzen. Später
kamen Lumpen und Schwämme zum Ein-
satz, vereinzelt gar lebendes Federvieh.
Die ersten Berichte über den Gebrauch
von Toilettenpapier stammen aus China;
1393 verbrauchte die kaiserliche Familie
15 000 parfümierte Blätter. Ab 1857 stell-
te der US-Amerikaner Joseph Gayetty Toi-
lettenpapier industriell her; Zeitgenos-
sen hielten jedoch seine mit Aloe-Extrakt
getränkten Blätter für Quacksalberei. En-
de des 19. Jahrhunderts setzte sich dann
das gerollte und perforierte Klopapier
durch – so sehr, dass heute der Mangel
daran als Krisensignal gilt. Im Ostblock
wurde er mit dem Gebrauch von Parteizei-
tungen kompensiert, was als oppositio-
neller Akt gelten konnte. In Japan gab es
1973 die „Toilettenpapier-Panik“: In der
Ölkrise kam das Gerücht auf, Klopapier
werde knapp. Auch jetzt, wo sich das Coro-
na-Virus ausbreitet, sind die Rollen be-
gehrt, als sei Covid-19 eine Magen-Darm-
Erkrankung. Die Angst ist offenbar groß,
zu Zeitung, Lumpen, gar der Hand zu-
rückkehren zu müssen. mad

4 HF2 (^) MEINUNG Mittwoch, 18. März 2020, Nr. 65 DEFGH
FOTO: DENIS BALIBOUSE/REUTERS
WIRTSCHAFT
Wer Hilfe verdient hat
FUSSBALL
Fehler im System
BREXIT
Toxische Mischung
REISEWARNUNG
Die Welt ist klein geworden
LANDWIRTSCHAFT
Verhungern muss keiner
Öffentliches Leben sz-zeichnung: pepsch gottscheber
KRISENMANAGEMENT
Die Entzauberten
von joachim käppner
AKTUELLES LEXIKON
Toilettenpapier
PROFIL
Tedros
Ghebreyesus
Aufklärer der Welt
in Sachen
Corona-Pandemie
Eine entscheidende Frage
muss sein: Hat die Firma ein
nachhaltiges Geschäftsmodell?
Schon in Woche eins des
Spielstopps zeigt sich, wie
wenig die Branche aushält
In der Not zeigt sich allen,
wie weltfremd Rechtspopulisten
denken und handeln

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