Süddeutsche Zeitung - 18.03.2020

(Elliott) #1

V


olkswirtschaften geraten ins Wan-
ken, ganze Gesellschaften werden
unter Quarantäne gestellt. Tag für
Tag verkünden Politiker neue Hiobsbot-
schaften und Einschränkungen für die
Menschen im Kampf gegen das Coronavi-
rus. Und dennoch, überall auf der Welt gibt
es sie, die Gewinner: Eben noch gescholte-
ne Regierungschefs gelten plötzlich als be-
herzte Krisenmanager, andere machen
sich die Epidemie zunutze, um Dinge
durchzudrücken, die in normalen Zeiten
kritischer von der Öffentlichkeit durch-
leuchtet werden würden. Ein Überblick:


InItalienist derzeit ohnehin alles an-
ders, so auch in der Politik. Die Wetten auf
einen bis vor kurzem noch fast unabwend-
bar gewähnten Regierungssturz sind auf-
geschoben. Die Beliebtheit von Premier
Giuseppe Conte, dem Chef einer oft zer-
strittenen Koalition aus Sozialdemokraten
und Cinque Stelle, wächst massiv. Da nun
viele Länder dem Beispiel der Italiener fol-
gen und mit drastischen Maßnahmen das
öffentliche Leben einschränken, gewinnt
seine Rolle auch international an Statur –
als Vorreiter: „Das schwarze Entchen hat
keine Angst mehr“, adeltLa Repubblica
den Regierungschef. Conte schwebe regel-
recht, er sei eins mit dem Volk. Das kann
sich natürlich schnell ändern, wenn der
harte Kurs nicht bald greifbare Ergebnisse
bringt und die Wirtschaft zusammen-
bricht. Doch in der Zwischenzeit sinkt die
Gunst des Rechtspopulisten Matteo Salvi-
ni, der versucht hatte, mit polemischen Ein-
würfen die nationale Einheit zu stören. Be-
reits vertagt ist die Volksbefragung über ei-
ne Verkleinerung des Parlaments, und da
es sich um eine Verfassungsänderung mit
Fristvorschriften handelt, rücken Neuwah-
len auch aus Formgründen in weite Ferne.
InSpaniengreift der Staat nun stark in
die Privatwirtschaft ein. Der zusammenge-
sparte öffentliche Gesundheitssektor
ächzt, was die hohen Todeszahlen erklären
könnte. Das Land meldete am Dienstagmit-
tag fast 12 000 Infizierte und fast 500 Tote,
die Zahlen steigen rasend. Daher hat Ma-
drid eine Maßnahme verhängt, die in der
Regierungspolitik lange als indiskutabel
galt: Die privaten Krankenhäuser werden
unter staatliches Kuratel gestellt. Die Ge-
sundheitsbehörden der Regionen können
über die Ressourcen von Privatkliniken
verfügen, Klinikbetreiber sind verpflich-
tet, dem Staat mitzuteilen, was sie an Aus-
rüstung haben. Diese Maßnahme gehört
zu dem Katalog, den die links-linke Regie-
rung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez
beschlossen hat. Sie reicht nah an das her-
an, was Sánchez’ Koalitionspartner, die
linksalternative Partei Podemos, schon frü-
her gefordert hatte: Eine Art Re-Verstaatli-
chung des Gesundheitssystems, das in Fol-
ge der Eurokrise immer stärker privati-
siert worden war. Mehr als ein Drittel der
spanischen Krankenhausbetten stehen in
Privatkliniken. Am Dienstag wurden die
ersten 30 Coronapatienten aus dem öffent-
lichen Sektor in solche verlegt.
InPolenstockte noch vor Tagen der
Wahlkampf von Polens Präsident Andrzej
Duda für die Präsidentschaftswahl im Mai.
Dann kam das Coronavirus. Alle Kandida-
ten stellten den Wahlkampf ein. Bis auf Du-
da: Der Präsident reist wie im Kriegszu-
stand im Armeepullover zu Grenzschüt-
zern oder Ärzten und geriert sich als obers-
ter Kämpfer gegen das Virus – ausführlich
zu sehen im Staatsfernsehen. Oppositions-
kandidaten fordern wegen der Begünsti-
gung Dudas die Verschiebung der Wahl.
Ein früherer Chef der Staatlichen Wahl-
kommission sieht in der ungleichen Kam-
pagne nicht weniger als einen Verstoß ge-
gen Artikel 96 („Gleichheit der Wahlen“)
der Verfassung. Der ausgerufene Bedro-
hungszustand sei zudem ein „leichter Aus-
nahmezustand“, der „demokratische Wah-


len“ nicht zulasse. Duda selbst und Minis-
terpräsident Mateusz Morawiecki lehnen
eine Verschiebung der Wahl bisher ab.
Bleibt dies so, empfiehlt der Rechtsdozent
Łukasz Chojniak allen Oppositionskandi-
daten den Rückzug: Steht nur ein Kandidat
auf dem Wahlzettel, müssen Wahlkommis-
sion und Parlamentspräsidentin eigent-
lich neue Wahlen ansetzen.
An Bildern von Menschen, die ihr Ge-
sicht schützen, mangelt es derzeit nicht,
am Samstag wird in derSlowakeierstmals
eine komplette neue Regierung in Schutz-
masken und Handschuhen vereidigt. Drei
Wochen nach der Wahl am 29. Februar
steht eine aus vier Parteien gebildete Koali-
tion. Schon am Freitag tritt das Parlament
zur konstituierenden Sitzung zusammen.
Gerade wegen der Ausbreitung der Krank-
heit Covid-19 wolle man das alles jetzt so
schnell wie möglich hinter sich bringen –
ehe alle krank werden, so hat es Präsiden-
tin Zuzana Čaputová erklärt.
Nicht immun ist die neue Regierung in-
des schon vor Amtsantritt gegen den Ver-
dacht der Korruption, obwohl der neue Pre-
mier Igor Matovič im Wahlkampf auf ein
Thema gesetzt hatte: Korruptionsbekämp-
fung. Gegen den künftigen Innenminister
jedoch wird strafrechtlich ermittelt. Er soll
Kontakte zu dem Mann gehabt haben,
dem gerade der Prozess im Fall des ermor-
deten Journalisten Ján Kuciak gemacht
wird. Der Wirtschaftskriminalität verdäch-
tigt wird der Vizepremier. Und die Partei
des Rechtspopulisten Boris Kollár soll an

der Regierung beteiligt sein. Der Unterneh-
mer Kollár soll früher Kontakte zur Unter-
welt gehabt haben. Aber in Zeiten von Coro-
na muss eben so schnell wie möglich eine
handlungsfähige Regierung stehen – egal
was ihre Mitglieder für eine Vergangenheit
haben.
DieUSAwerden von der Coronakrise
während der Vorwahlen getroffen, in de-
nen die großen Parteien ihre Präsident-
schaftskandidaten bestimmen. Einige
Bundesstaaten haben ihre „Primaries“ ver-
schoben, andere erwägen, komplett auf
Briefwahl umzusteigen. Sollte die Progno-
se von Präsident Donald Trump zutreffen,
dass die Krise bis zum Sommer anhalten
wird, ist auch nicht absehbar, wie die Nomi-
nierungsparteitage stattfinden sollen. Die
Demokraten wollen sich im Juli in Milwau-
kee versammeln, um ihren Kandidaten zu
küren, die Republikaner Ende August in
Charlotte. Allerdings ist es kaum vorstell-
bar, dass sich unter den gegebenen Um-
ständen Tausende Parteitagsbesucher ei-
ne Woche lang gemeinsam in einer Mehr-
zweckhalle aufhalten. Die Präsident-
schaftswahl zu verlegen, die Anfang No-
vember stattfinden muss, wäre dagegen
nur schwer möglich. In der Zwischenzeit
behindert die Krise den Arbeitsalltag in Wa-
shington: Mehrere Abgeordnete und Sena-
toren sind in Quarantäne. Zudem hat das
Verfassungsgericht alle mündlichen Ver-
handlungen vorerst abgesagt. Einige Rich-
ter sind höheren Alters und wären beson-
ders gefährdet, sollten sie sich infizieren.

Gespenstische Szenen spielten sich am
Montag inIsraelab: Nur jeweils drei Abge-
ordnete wurden im Parlament vereidigt,
um die Abstandsvorschriften in Zeiten von
Corona einzuhalten. Es dauerte 40 Run-
den, ehe alle 120 Abgeordneten dran wa-
ren. Auch wenn in der Knesset Distanz ge-
boten war, so hofft Präsident Reuven Riv-
lin auf eine Annäherung der beiden großen
Parteien. Er fordert eine große Koalition
aus der von Benjamin Netanjahu geführ-
ten Likud-Partei und dem von Benny

Gantz geleiteten blau-weißen Bündnis. Da
Likud zwar die Wahl am 2. März gewon-
nen, aber Gantz mehr Empfehlungen von
Abgeordneten als Regierungschef erhal-
ten hat, beauftragte Rivlin nun den Opposi-
tionsführer mit der Regierungsbildung. Ne-
tanjahu fordert dagegen für sechs Monate
eine Notstandsregierung, die er anführen
möchte. Der gegen ihn gerichtete Korrupti-
onsprozess wurde verschoben.
InRusslandfällt die Coronakrise in ei-
ne Zeit, in der Präsident Wladimir Putin
die größte politische Reform seit mehr als
zwanzig Jahren durchsetzt. Er ändert die
Verfassung, und könnte dadurch für zwei
weitere Amtszeiten Präsident bleiben. Das
Parlament hat bereits zugestimmt, Putin
hat das Gesetz unterschrieben, das Obers-

te Verfassungsgericht die Reform abge-
nickt. Eine Nachricht, die in den Meldun-
gen zum Virus beinahe unterging.
ImOstukraine-Konflikthat Russland
trotz seiner Verwicklung immer so getan,
als sei dieser eine rein innerukrainische An-
gelegenheit. Moskau fordert deshalb, dass
Kiew direkt mit den Anführern der soge-
nannten Volksrepubliken verhandelt. Der
Kreml scheint dabei nun voranzukom-
men. Bei einem Treffen der Kontaktgrup-
pe in Minsk einigten sich die Konfliktpar-
teien darauf, ein Beratungsgremium zu bil-
den, dem Vertreter der ukrainischen Regie-
rung und der Separatistengebiete angehö-
ren sollen. Das wären also die direkten Ge-
spräche, die Kiew bislang abgelehnt hatte.
Der Osteuropa-Sprecher der Grünen, Ma-
nuel Sarrazin, warnte, „die Corona-Pande-
mie darf nicht dazu führen, dass Russland
einseitig seine strategischen Ziele in der
Ukraine durchsetzen kann“.
Die Regierung vonNigernutzt derweil
die Angst vor dem Coronavirus auf eine
ganz eigene Art. Zwar ist der Staat einer
der wenigen in Subsahara-Afrika, der
noch keinen einzigen Fall gemeldet hat.
Versammlungen sind eigentlich erlaubt.
Außer, sie richten sich gegen die Regie-
rung. Am Sonntag hatten Vertreter der Zi-
vilgesellschaft dazu aufgerufen, gegen die
Korruption in der Armee zu protestieren –
was die Regierung mit Hinweis auf Corona
verbot. Es kamen trotzdem Tausende. Die
Polizei setzte Tränengas ein, Feuer bra-
chen aus. Drei Menschen starben.

London –Eigentlich hätte an diesem Mitt-
woch die zweite Runde der Brexit-Verhand-
lungen in London beginnen sollen. Doch
daraus wird nichts. Wegen des Corona-
virus wurden die Gespräche in der briti-
schen Hauptstadt abgesagt. Inwieweit die
Unterhändler nun per Videoschalte zuein-
anderfinden, wird sich zeigen. Politisch
stellt sich allerdings schon jetzt die Frage,
ob der endgültige Brexit wegen der Pande-
mie doch noch verschoben wird. In London
und Brüssel gibt es jedenfalls immer mehr
Spekulationen darüber, ob Boris Johnson
wegen des zu erwartenden Wirtschaftsein-
bruchs die derzeit geltende Übergangspha-
se gegen seinen Willen verlängern muss.
Für den Premierminister wäre das zwar
ein Wortbruch, aber angesichts des Aus-
nahmezustands gibt es in London bereits
entsprechende Überlegungen.
Offiziell will Downing Street davon
nichts wissen. Noch am Wochenende teilte
eine Sprecherin voller Überzeugung mit,
dass die britische Regierung eine Verlänge-
rung der Übergangsphase „unter allen Um-
ständen“ ablehne. Das Vereinigte König-
reich hat die Europäische Union zwar am



  1. Januar verlassen, aber bis Jahresende
    ändert sich für Bürger und Unternehmen
    de facto nichts. Diese Übergangsphase
    kann gemäß dem Austrittsvertrag einmal
    um bis zu zwei Jahre verlängert werden.
    Johnson hat diese Option stets abgelehnt
    und sogar damit gedroht, die Verhandlun-
    gen platzen zu lassen, sollte sich bis Juni
    kein Freihandelsvertrag mit der EU ab-
    zeichnen. Das Ergebnis wäre: No Deal.


Aus Verhandlungskreisen hieß es am
Dienstag, dass ein Abkommen in abge-
speckter Variante bis Jahresende möglich,
aber angesichts der Corona-Krise immer
unwahrscheinlicher sei – in Großbritanni-
en stieg die Zahl der Infizierten am Diens-
tag auf 1950, 400 mehr als am Vortag. Wäh-
rend man in Brüssel nichts dagegen hätte,
mehr Zeit für die Verhandlungen zu haben,
setzt die Pandemie den britischen Premier

unter Zugzwang. Johnson wird spätestens
im Juni entscheiden müssen, ob er wirk-
lich alles daran setzt, bis zum 31. Dezember
einen Vertrag mit Brüssel zu schließen.
Aus der britischen Wirtschaft gibt es
bereits massiven Widerstand. Denn für die
Unternehmen würde allein schon das von
Johnson anvisierte Abkommen sehr viel
Aufwand und Kosten mit sich bringen. An
der Grenze wird es nicht nur Zollkontrol-

len, sondern auch allerlei Papierkram zu
bewältigen geben. Die Regierung in Lon-
don macht jedenfalls keinen Hehl daraus,
dass den Unternehmen ein massiver
Umbruch bevorsteht. Kabinettsminister
Michael Gove erklärte den Firmen zuletzt
immer wieder eindringlich, dass sie sich ge-
fälligst darauf einzustellen haben, dass der
Handel mit der EU nicht mehr so reibungs-
los laufen werde wie bisher. Doch was von


  1. Januar 2021 dann genau gelten soll, dar-
    auf weiß auch Gove keine Antwort, außer
    der lapidaren Auskunft: Es hängt eben da-
    von ab, wie der Deal mit Brüssel aussieht.


Nun, da die Welt mit dem Coronavirus
zu kämpfen hat, stellt sich die Frage, ob
Großbritannien einen solch harten Brexit
überhaupt verkraften kann. Wirtschafts-
experten rechnen angesichts der Corona-
krise mit einem starken Konjunktur-
einbruch, der sich durch den Brexit noch
verschlimmern dürfte. Vielen Firmen, die
in kommenden Monaten wegen des Coro-
navirus in Schwierigkeiten geraten wer-
den, droht angesichts dieser Aussichten
das wirtschaftliche Aus.
Kein Wunder, dass es in London deshalb
schon Planspiele gibt, wie Johnson einen
möglichen Wortbruch in der Öffentlichkeit
verkaufen könnte. Sogar derDaily Tele-
graph, der in Großbritannien als Hauszei-

tung des Premiers gilt, mutmaßt, dass dies
„nicht so schwierig sein wird, wie einige in
der Regierung befürchten“. Es werde weit-
aus mehr politische Auswirkungen haben,
die Brexit-Gespräche nicht auszusetzen,
als würde man sie nun auf Eis legen, meint
die konservative Zeitung aus London.
Auch EU-Diplomaten sind davon über-
zeugt, dass es Johnson mit seinem rhetori-
schen Geschick nicht besonders schwer-
fallen dürfte, die Bürger vom Ernst der La-
ge zu überzeugen – und dass er deshalb ei-
ne Verlängerung der Übergangsphase in
Brüssel beantragt. Mal ganz davon abgese-
hen, dass auch die EU-Staaten kein Interes-
se an weiteren wirtschaftlichen Verwerfun-
gen in Europa im Zuge eines harten Brexits
haben können.
Am Ende dürfte Johnsons Entschei-
dung von der weiteren Ausbreitung des
Coronavirus abhängen. Seinen Schatzkanz-
ler Rishi Sunak hat er schon dazu angehal-
ten, sehr viel mehr Geld für Unternehmen
bereitzustellen, die von der Corona-Pande-
mie betroffen sind. Nachdem sowohl die
französische als auch die deutsche Regie-
rung klargemacht haben, mit welchen
Summen sie die Auswirkungen der Krise
eindämmen wollen, ist Johnson unter
Druck geraten, seinerseits die Wirtschaft
zu beruhigen. Als Schatzkanzler Sunak in
der vergangenen Woche bei einem Auftritt
im Unterhaus ein Multimilliarden-Pfund-
Paket versprach, um der Corona-Krise zu
trotzen, sagte er zum Brexit kein Wort. Das
könnte sich bald ändern.
alexander mühlauer  Seite 4

von silke bigalke, bernd dörries,
alexandra föderl-schmid,
viktoria großmann,
sebastian schoepp, frank
nienhuysen, florian hassel,
oliver meiler und hubert wetzel

München –Viele afrikanische Staaten
schotten sich gegen das Coronavirus ab.
Die meisten haben strenge Reisebeschrän-
kungen verhängt. Tunesien und Maureta-
nien haben mehrere Italiener ausgewie-
sen, weil diese sich nicht an die Quarantä-
nemaßnahmen hielten. Afrika schließt
nun also seine Grenzen – und die Europäer
müssen draußen bleiben. Während in
Deutschland bis Montag noch mehrmals
wöchentlich Flugzeuge aus Teheran lande-
ten, obwohl sich Iran als eines der größten
Zentren der Pandemie herausbildet, ha-
ben die Afrikaner schneller die Initiative er-
griffen.
In Ruanda oder Senegal etwa haben die
Behörden alle öffentliche Veranstaltungen
untersagt. Südafrika hat den Katastro-
phennotstand ausgerufen und mehr als
10 000 Visa annulliert. Algerien und Marok-
ko haben den Luft- und Schiffsverkehr
nach Europa ausgesetzt. Doch es dauerte
auch lange, bis die afrikanischen Flugli-
nien nach dem Ausbruch in China reagier-
ten und ihre Verbindungen einstellten.
Noch Ende Februar konnten Reisende bei-
spielsweise aus China nach Kenia einrei-
sen – sie waren lediglich aufgefordert, sich
in „freiwillige Selbstquarantäne“ zu bege-
ben. Die Regierung wurde von der Öffent-
lichkeit für die laxen Vorschriften kriti-
siert. Mittlerweile untersagt die Regierung
in Nairobi Menschen aus Ländern mit ge-
meldeten Covid-19-Fällen die Einreise.

Bislang gibt es offiziell rund 350 Infizier-
te in mindestens 30 Ländern auf dem Kon-
tinent, das sind nicht ansatzweise so viele
wie in europäischen Staaten. Dafür gibt es
unterschiedliche Erklärungen: Etwa, dass
nicht alle Infizierten gemeldet werden,
weil die Gesundheitssysteme unzurei-
chend sind. Laut Council On Foreign Relati-
ons, einem Thinktank, tragen alle afrikani-
schen Staaten nur ein Prozent zu den welt-
weiten Gesundheitsausgaben bei, obwohl
dort 16 Prozent der Weltbevölkerung le-
ben. Das schwächt die medizinische Versor-
gung: In Italien kommen auf 10 000 Ein-
wohner 41 Ärzte – im afrikanischen Durch-
schnitt sind es zwei.
Ein Ausmaß der Seuche wie etwa in
Deutschland würde die Gesundheitssyste-
me überfordern. In Südafrika, eines der
am besten vorbereiteten Länder des Konti-
nents, gibt es rund 90 000 Krankenhaus-
betten, davon nicht einmal 1000 Intensiv-
betten für 56 Millionen Menschen. Die Ma-
laria, an der jedes Jahr 400 000 Afrikaner
sterben, und das Coronavirus weisen im
frühen Stadium ähnliche Symptome auf.
Das macht eine Diagnose komplizierter.
Immerhin hatten die Staaten einen Vor-
sprung, da erst seit wenigen Tagen die Fäl-
le sprunghaft zunehmen. In 33 afrikani-
schen Ländern wurden Testzentren einge-
richtet, im Januar gab es sie nur in Senegal
und Südafrika. Elsie Kanza, Afrika-Exper-
tin des Weltwirtschaftsforums, schreibt
imNamibia Economist, der Kontinent pro-
fitiere vom geringen Durchschnittsalter:
Nur drei Prozent der Afrikaner sind älter
als 65 Jahre.

Dass der Kontinent bisher von größeren
Ausbrüchen verschont geblieben ist, könn-
te auch an der Infrastruktur liegen, die
während der Ebola-Epidemie seit 2014 auf-
gebaut wurde. Die Staaten könnten da-
durch besser gewappnet sein, Fälle zurück-
zuverfolgen und zu isolieren. Die letzte
Ebola-Patientin war erst Anfang März in
der Demokratischen Republik Kongo als
geheilt entlassen wurden. Auf dem Höhe-
punkt des Ausbruchs starben Tausende an
dem Virus. Die Erinnerung an Ebola ist prä-
sent in den Köpfen vieler Afrikaner. Regie-
rungen und internationale Organisationen
wissen, was auf dem Spiel steht, falls es zu
unkontrollierten Corona-Ausbrüchen
kommt.
Allerdings kommt das Virus nun in Län-
dern an, die von Krisen und Krieg gezeich-
net sind: Sudan meldet einen Fall, genau
wie die Zentralafrikanische Republik. Be-
sonders hart wird es wohl Burkina Faso
treffen. Wie in anderen Sahel-Staaten wol-
len dort Terroristen den Staat lahmlegen,
mehr als eine halbe Million Menschen wur-
den vertrieben. Der Konflikt hat die Ge-
sundheitsinfrastruktur beeinträchtigt:
Rund 1,5 Millionen Burkinabe haben kei-
nen Zugang zur Gesundheitsversorgung.
Bislang sind sieben Fälle gemeldet, doch
Hilfsorganisationen befürchten, dass das
Virus oftmals nicht diagnostiziert werden
könnte. Sollte es sich in Burkina Faso aus-
breiten, sagen Experten der WHO eine bis
zu zehnmal höhere Sterblichkeitsrate als
im globalen Durchschnitt voraus. Anderen
afrikanischen Staaten droht wohl ähnli-
ches. anna reuß

DEFGH Nr. 65, Mittwoch, 18. März 2020 (^) POLITIK HF2 7
Planspiele für den Wortbruch
Die Pandemie setzt Boris Johnson unter Zugzwang: Muss nun die Übergangsphase bis zum endgültigen Brexit verlängert werden?
Europäer müssen
draußen bleiben
Afrikanische Länder erlassen
strenge Beschränkungen
Kenia war das erste Land Ostafrikas, in
dem das Virus gefunden wurde. FOTO: AFP
Corona nimmt keine Rücksicht auf laufende politische Prozesse: In den USA (links) finden Vorwahlen statt, in Russland will Präsident Putin
(rechts) über eine neue Verfassung abstimmen lassen. Doch die Krise überlagert alle Entwicklungen. Italiens Premier Conte (unten, links) war einer der ers-
ten, die sich dabei den Ruf des Krisenmanagers erwarben. Und in der Ukraine wächst die Bereitschaft für Konfliktlösungen.FOTOS: REUTERS, AP, AFP (2)
Coronavirus und dann auch noch Brexit? Schon jetzt stellt sich die Frage, wie Groß-
britannien das alles überstehen soll. FOTO: HENRY NICHOLLS/REUTERS
Nur drei Prozent
der Afrikaner sind
älter als 65 Jahre
In Niger gibt es offiziell noch
keinen Fall. Demonstrationen
werden trotzdem verboten
In London gibt es Überlegungen,
wie der Premierminister ein
Umdenken verkaufen könnte
Wem es nützt
In Zeiten von Corona müssen Staaten ganz neu gemanagt werden. Mancher Politiker läuft dabei
zu Hochform auf. Andere hingegen bringen es fertig, aus der Krise sogar persönliche Vorteile zu ziehen

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