G e sundheit
16 Berliner Zeitung·Nummer 66·Mittwoch, 18. März 2020 ·························································································································································································································································································
IMAGO IMAGES
M
ultipleSklerose(MS)isteineEr-
krankung,beiderdasImmun-
system des Körpers irrtümlicher-
weise die Isolierschicht angreift, die
NervenzellenimGehirnundRücken-
markumgibt.Nervensignalekönnen
dann nicht mehrrichtig weitergelei-
tetwerden.InDeutschlandsindetwa
230000 Menschenbetroffen.
Im AnschlussandieersteKrank-
heitsphase,ind er immer wieder
Schübe auftreten und sich danach
zurückbilden, folgt nach circazehn
JahrenbeietwajedemzweitenPati-
enteinezweitePhase(diesekundär
progredienteMS,kurzSPMS).Dann
bessertsichder Zustandnichtmehr,
sondernverschlechtertsich konti-
nuierlich.Behinderungen wie zum
Beispiel Lähmungen, Kraftlosigkeit
undMuskelsteifeanArmenundBei-
nenschreitenimmerweiterfort.
Außer Interferon-Spritzen und
Infusionenvonbestimmten Krebs-
mitteln, die jedoch nur unzurei-
chendgegenMSwirken,gabesbis-
her kaumBehandlungsmöglichkei-
ten, um diese fortschreitendeVer-
schlechterungzuverlangsamen.
Mitdem neuenWirkstoff Siponi-
mod stehen jetzt jedoch die ersten
Tabletten zurVerfügung, die das
Fortschreiten der SPMSverlangsa-
men. Siponimod bewirkt, dass ent-
zündungsförderndeImmunzellenin
denLymphknotenbleibenunddiese
nichtverlassenkönnen.Dadurchge-
langenwenigerImmunzelleninden
KörperundandieNervenzellen.Das
bremstdenzerstörerischenAutoim-
munprozess.Die Zulassung vonSi-
ponimod fürEuropa erfolgte ganz
aktuell vorvier Wochen. Seitdem
kanndasMedikamentaufKassever-
schriebenwerden.
Multiple Sklerose
E
shämmerthinter Stirnoder
Schläfe.Die eine Kopfhälfte
dröhnt vorSchmerz.DasLicht blen-
det.Geräuschetunweh.Übelkeitstellt
sichein. Undplötzlichgehtgarnichts
mehr:Jeder zehnte Deutsche leidet
unterMigräne-Attacken.Frauenetwa
doppeltsooftwieMänner.
Wenn normale Schmerzmittel
nicht mehr helfen,verschreibt der
Arzt sogenannteTriptane.Als die
erstendieserWirkstoffevor27J ahren
aufden Marktkamen,revolutionier-
ten sie die Migräne-Therapie.Sie
wirken tatsächlich gut–allerdings
nur bei zweiDritteln allerBetroffe-
nen. Zudem dürfen vieleTriptane
überhaupt nicht einnehmen.Denn
siebekämpfennichtnurdieSchmer-
zenundlinderndieEntzündungsre-
aktionen an derHirnhaut, sondern
sie verengen auch dieBlutgefäße.
Deshalb dürfenPatienten mitver-
engten Herzkranzgefäßen sowie
Menschen, die einen Herzinfarkt
und Schlaganfall hatten oder an ei-
nem Arterienverschluss imBein lei-
den,keineTriptaneeinnehmen.Bis-
hergabesfürsiekeineAlternative.
Doch jetzt haben sich gleich drei
neue Substanzen inStudien so gut
bewährt, dass dieHersteller noch in
diesem Jahr die Zulassung beantra-
gen wollen.DieWirkstoffeUbroge-
pant und Rimegepant hemmen den
NervenbotenstoffCGRP,der bei Mi-
gräne verstärkt gebildet wirdund
Schmerzsignale an dasGehirnwei-
terleitet.DerneueWirkstoffLasmidi-
tan verringer tdagegen dieFreiset-
zungdesBotenstoffesSerotonin,der
beiMigräneeinewichtigeRollespielt.
DiedreiStoffe verengen keine
Adernund haben sich als wirksam
undgut verträglicherwiesen.
Migräne
E
shat einen schlechten Ruf.
Trotzdem ist es für uns lebens-
wichtig: Cholesterin! DerKörper
braucht es für denStoffwechsel im
GehirnundumdarauszumBeispiel
Gallensäuren undHormone herzu-
stellen.DeshalbproduziertdieLeber
das meiste Cholesterin selbst.Nur
einViertelstammtausderNahrung.
Doch etwa jeder dritteDeutsche
hat zu hohe Cholesterinwerte im
Blut.Manchmalessenwireinfachzu
viel.OftproduziertaberauchdieLe-
ber zu viel eigenes Cholesterin.Bei-
des ist gefährlich. Besonders das
LDL-Cholesterin führtzuG efäßver-
kalkung und dazu, dass allein in
Deutschland jährlichrund 200 000
Menschen an denFolgen vonHerz-
Kreislauf-Krankheitensterben.
WennDiätenundSportnichthel-
fen, verschreibt der ArztTabletten,
um die Cholesterinproduktion der
Erhöhte Cholesterinwerte
Leber zu senken.Manchmaltreten
dabeiNebenwirkungenwieMuskel-
schmerzenauf. Oder die Fettwerte
bleibentrotzderPillenzuhoch.
Nunhaben Wissenschaftler den
Wirkstoff Inclisiran entwickelt, der
einEnzyminderLeberblockiert,das
für die Cholesterinherstellungver-
antwortlich ist.DieSubstanz schal-
tet auf Molekül-Ebene einGenaus,
das dazu wichtig ist.Mehrer eStu-
dien mit vielen tausendPatienten
haben gezeigt, dass dieMolekül-
Therapie mitInclisiran das schädli-
che LDL-Cholesterin um mehr als
50Proz entsenkenkann.DasBeson-
deredabei:DerWirkstoffmussdazu
nurzweimalproJahrunterdieHaut
gespritztwerden.Denndie Wirkung
einerSpritzehältübersechsMonate
an. Aufgrund der gutenStudiener-
gebnisse soll dieZulassung schon
Anfang2020beantragtwerden.
HoffnunginPillenform
VonMichaelTimm
D
ass deutscheWissenschaftler bei
der Entwicklung neuerMedika-
mente ganzweit vornestehen,
wurde erst amvergangenenWo-
chenende wieder deutlich.Undzwar auf
höchster Ebene.Medienberichten zufolge
bot US-Präsident DonaldTrump derTübin-
ger Biotech-FirmaCureVacrund eineMilli-
ardeDollar,ums ichden vonihrentwickelten
ImpfstoffgegendasCoronavirusexklusivfür
dieUSAzusichern.KanzlerinAngelaMerkel
undmehrereBundesministerschaltetensich
umgehendein,umdieFirmaundihr ewert-
vollenForschungsergebnisseinDeutschland
zu halten. Denn der Tübinger Impfstoff
könnte,sod enn die kommendenTests er-
folgreichverlaufen,weltweit viele tausend
Lebenretten.
DeutschlandweltweitdieNummerzwei
Dochnichtnurhier,sondernauchaufande-
renGebieten istDeutschland spitzeind er
Medikamentenforschung.So investieren al-
lein die deutschen Pharma-Unternehmen
6,2Milliarden Euroindie Entwicklungneuer
Arzneimittel und Behandlungsmöglichkei-
ten.Bei83P roze ntallerArzneimittel-Studien
sind deutsche Kliniken und Ärzte beteiligt.
Damit ist Deutschland nach den USAwelt-
weitdie Nummerzwei.
DieseganzenFortschrittekommenindie-
sem Jahr vielenPatientinnen undPatienten
zugute.DenndieklinischenStudienverliefen
so vielversprechend, dass dieHersteller für
zahlreicheneueMedikamentedieZulassung
beantragthaben.Wirdsieerteilt,könnendie
Mittel noch im Laufe der nächstenMonate
auchin DeutschlandfürTherapienzuVerfü-
Auf der Suche nach wirksamen Medikamenten:
Forscher bei der Arbeit. IMAGO IMAGES
IndiesemJahrkommenetwa30neueMedikamentemitinnovativenWirkstoffenaufdenMarkt
gung stehen.DerVerband forschender Arz-
neimittelhersteller vfa aus Berlin schätzt,
dassimlaufendenJahrin Deutschlandmin-
destens30neueMedikamentemitinnovati-
venWirkstoffen eingeführtwerden können,
diesichinderklinischenAnwendunganPro-
bandengutbewährthaben.
Viele vonihnen wirken den Angaben zu-
folge gegen Krebs,Entzündungen,Infektio-
nen und zahlreicheVolkskrankheiten wie
RheumaoderMigräne.AuchzahlreicheAnti-
körper wurden entwickelt. Für derenEntde-
ckunggabes1984denNobelpreisfürMedi-
zin. Seitdem gelten sie alsWunderwaffe der
Immunabwehr und sind aus der modernen
Medizinnichtmehrwegzudenken.DieseAn-
tikörperwerdennichtnurgegenKrebs,son-
dernseit neuestem auch gegen schwere
Netzhautschäden bei bestimmtenFormen
vonAltersblindheiteingesetzt.
Mehrer eBerliner Klinikenbeteiligt
BerlinerForscherhabeneinengroßenAnteil
daran. Denn wenn es um dieEntwicklung
neuer Therapien geht, stehen sie mit in der
erstenReihe.Mehrer eBerlinerKlinikensind
ander ErforschungneuerWirkstoffebeteiligt.
Patienten haben hier die Chance,sich im
RahmenklinischerStudienbereitsmitneuen
Medikamenten behandeln zu lassen, bevor
dieseoffiziellzugelassenwerden.
DabeimüssensiesichkeineswegsalsVer-
suchskaninchen fühlen.Im Gegenteil. Denn
alle Ärzte undZentren, die solcheStudien
durchführen, haben großeErfahrung in der
BehandlungderjeweiligenKrankheiten.Wer
an einerStudie teilnimmt, wirdind er Regel
vonausgewiesenenSpezialisten besonders
intensivundindividuellbetreutundengma-
schignachuntersucht.DieTeilnahmeistna-
türlich freiwillig.Kosten entstehen denPro-
bandenkeine.
Im Folgenden nennt dieBerliner Zeitung
aktuelleBeispiele vondemnächstverfügba-
renWirkstoffen undMedikamenten gegen
fünf Krankheiten, an denen sehr vieleMen-
scheninderHauptstadtleiden.
R
und eineMillion Deutsche lei-
den unter entzündlichemGe-
lenkrheuma (Arthritis).Daskörper-
eigene Abwehrsystem greift dabei
versehentlichdieInnenhautderGe-
lenke an undruft dor tEntzündun-
gen her vor. Ohne Behandlung wür-
den dieseEntzündungen zu einer
vollständigen Zerstörung derGe-
lenkeführen.
MitmodernerBehandlung kann
das Fortschreiten derErkrankung
verlangsamt oder sogar völlig zum
Stillstand gebrachtwerden. Weil je-
doch die herkömmlichen entzün-
dungshemmendenMittel oft nicht
ausreichenundzudemvieleNeben-
wirkungen haben,werden seit eini-
gerZeitdazuauchChemotherapeu-
tika wieMethotrexat und moderne
Antikörper-Präparateeingesetzt,um
die Entzündungen zu hemmen und
dasImmunsystemzuunterdrücken.
Arthritis
Dieneueste Entwicklungzur Be-
handlung derrheumatoiden Arthri-
tisistderWirkstoffUpadacitinib,der
bestimmteEnzyme und dievonih-
nen ausgelöstenImmunreaktionen
undentzündlichenProz essebremst.
InStudienkonntegezeigtwerden,
dasssichbeietwajedemsechstenPa-
tienten, der dasMedikament täglich
einnahm, schon nach dreiMonaten
das Gelenkrheuma fast vollständig
zurückbildete.30b is 50 Proz ent der
Betroffenen hatten deutlichweniger
Beschwerden.Upadacitinib,das als
Tabletteerhältlichseinwird,kanndi-
rektindie Zellendes Immunsystems
eindringen und dortbestimmteEi-
weißstoffe unterdrücken. Damit
stoppt derWirkstoff jene fehlgeleite-
ten Immun-Proze sse,die für die
schmerzhaften Entzündungenver-
antwortlichsind.DieZulassungwird
fürdiesesJahrerwartet.
E
sist die Krankheit,vorder viele
ältereMenschen Angst haben:
Makuladegeneration, auch Alters-
blindheit genannt.Im Bereich der
Makula, dem Ortdes schärfstenSe-
hens auf derNetzhaut, sterbenSin-
neszellen langsam ab.Das Bild ver-
schwimmt.Fensterrahmen erschei-
nenplötzlichschief.Badezimmerka-
cheln habenWellen. Gerade Linien
wirken seltsamverzerrt. Lesen wird
zum Problem. Erst verschwinden
nureinpaarWorte,späterganzeAb-
sätze.
Rund eine halbeMillion älterer
Menschen inDeutschland sindvon
der selteneren, aber besonders ag-
gressiven feuchtenForm der alters-
bedingten Makuladegeneration
(AMD) betroffen.Beiihnen bilden
sich kleine wuchernde Blutgefäße
undwachsenindieNetzhautein,die
Patientendrohenzuerblinden.
Altersblindheit
LangegabesdagegenkeineThe-
rapie.2006dann derDurchbruch.
Injektionenmitgentechnischherge-
stelltenAntikörperpräparateninden
Augapfel konnten dieBildung der
fehlerhaften Blutgefäße unterbre-
chen und damit dasFortschreiten
der feuchten AMD verlangsamen
undsogarstoppen.
Inzwischen stehen mehreremo-
derne MitteldafürzurVerfügung.Sie
müssen imAbstand vonjeweils ein
biszwei Monateninjiziertwerden.
JetztwurdedieZulassungfürzwei
neueWirkstoffebeantragt.DasAnti-
körper-PräparatBrolucizumab und
der Wachstumsfaktor-Hemmstoff
Abicipar Pegol besitzen eine gerin-
gereMolekülgröße und dringen
nach denInjektionen wahrschein-
lich besser in dieNetzhaut ein.Sie
müssenauchnurnochalledreiMo-
nateinjiziertwerden.