Handelsblatt - 18.03.2020

(Sean Pound) #1
„Psychologisch bin ich überfragt. Und von der
Vermutung her – Pasta hält sich, Pasta kann
man schnell machen, man wird satt. Und beim
Toilettenpapier – ja, braucht man halt.“
Julia Klöckner (CDU), Bundeslandwirtschaftsministerin, versucht, die
Hamsterkäufe bestimmter Produktgruppen logisch herzuleiten.

Worte des Tages


Equal Pay Day


Ein Hoch auf


Sozialberufe!


N


ie zuvor war an einem
„Equal Pay Day“ der enor-
me Beitrag, den berufstätige
Frauen für das Gemeinwesen leis-
ten, augenfälliger als in diesem Jahr.
Drei von vier Beschäftigten des Ge-
sundheitspersonals in Deutschland
sind weiblich: Ärztinnen und Kran-
kenpflegerinnen stehen in vorders-
ter Front im Kampf gegen Corona,
Bei den Lehrern liegt der Frauenan-
teil in einer ähnlichen Größenord-
nung, in der Kinderbetreuung sogar
bei 95 Prozent.
Wertgeschätzt wird diese Arbeit
meist nur in Extremsituationen wie
jetzt, wo jeder hofft, dass zur Not
auch für ihn noch ein Corona-Kran-
kenbett frei ist. Oder wenn die Ar-
beit wegfällt, wie im Falle der ge-
schlossenen Kitas und Schulen –
und Eltern plötzlich nicht mehr wis-
sen, wie sie den Alltag organisieren
sollen.
Was das alles mit dem Equal Pay
Day zu tun hat? Die Berufswahl gilt
mit als wesentlicher Grund dafür,
dass Frauen im Schnitt ein Fünftel
weniger verdienen als Männer. Sie
müssten sich nur öfter für besser
bezahlte Jobs entscheiden, dann
werde die Entgeltlücke irgendwann
eingeebnet, heißt es oft. Das ist
zwar theoretisch richtig. Ganz prak-
tisch stünden wir aber vor dem Kol-
laps, wenn Frauen nicht die Pflege-
oder Kita-Jobs übernehmen wür-
den. Ganz oft in Teilzeit, weil zu
Hause ja noch die eigenen Kinder
und der Haushalt warten.
Entgeltgerechtigkeit lässt sich
nicht allein dadurch herstellen,
dass man Frauen rät, doch lieber
Ingenieurin oder Richterin statt
Pflegerin oder Erzieherin zu wer-
den. Entgeltgerechtigkeit lässt sich
nur herstellen, wenn auch soziale
Berufe stärker aufgewertet werden.
Dass sich hier so wenige Männer en-
gagieren, hat nicht zuvorderst mit
deren geringer ausgeprägten sozia-
len Ader zu tun, sondern mit den
schlechteren Verdienstmöglichkei-
ten, Karriereoptionen und Arbeits-
bedingungen.
Ohne Aufwertung werden irgend-
wann auch viele Frauen den sozia-
len Berufen den Rücken kehren.
Und dann haben wir in Deutsch-
land einen Notstand – ganz ohne
Coronavirus.


Die Coronakrise zeigt, dass wir
Pfleger und Erzieher besser
bezahlen müssen, meint Frank
Specht.

Der Autor ist Korrespondent in
Berlin. Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


W


er zum Jahreswechsel prognosti-
ziert hätte, Angela Merkel stehe
ihre größte Bewährungsprobe
noch bevor, wäre verspottet wor-
den. Alles drehte sich in Berlin
um die Frage, ob die Kanzlerin vorzeitig abdanken
solle, damit die Union die nächste Wahl gewinnt.
Viele Beobachter waren auch erstaunt, dass sie sich
in den letzten Monaten auf vielen politischen Fel-
dern fast vollständig zurückgenommen hatte.
In den ersten Wochen der Coronakrise wirkte Mer-
kel seltsam zögerlich. Sie ließ ihrem Bundesgesund-
heitsminister Jens Spahn den Vortritt bei der Regie-
rungserklärung zur Coronakrise, während ihre
Amtskollegen in Europa wie Sebastian Kurz aus Ös-
terreich oder Frankreichs Präsident Emmanuel Ma-
cron schon längst die Bekämpfung der Pandemie zur
Chefsache erklärt hatten. Später kommunizierte die
Kanzlerin auch noch schlecht. Seit sie nicht mehr
Parteivorsitzende der CDU ist, hatte man öfter den
Eindruck, dass sie bei politischen Fragen in geschlos-
senen Sitzungen Erklärungen abgab, die dann auf
verschlungenen Wegen ihren Weg nach draußen fan-
den. Pressekonferenzen, die Merkel in ihrer Amts-
zeit immer ungern zu innenpolitischen Themen ab-
gehalten hat, wurden eh zur Mangelware.
Als ihre offenbar intern geäußerte Aussage, 60 bis
70 Prozent der Deutschen könnten sich mit dem Vi-
rus infizieren, auch in europäischen Ländern Wellen
schlug, konnte sie wohl nicht mehr anders und stell-
te sich der Presse. Seitdem ist die Krisenkanzlerin
zurück. So, wie es ihre Art ist, weicht sie nicht von
den Sprechzetteln ab und verlautbart die Beschlüs-
se, die sie etwa mit den Regierungschefs der Länder
erarbeitet hat.
Merkels Ära war geprägt von vielen unterschiedli-
chen, umwälzenden Ereignissen. Sie wird sich als
Krisenkanzlerin in die Geschichtsbücher schreiben.
Da gab es Hochwasserkatastrophen, die Finanzkrise
rund um die Pleite der Lehman-Bank und im An-
schluss gleich die Schuldenkrise, in der Griechen-
land im Zentrum stand. Später folgte die Flüchtlings-
krise, die bis heute nachwirkt und die Bevölkerung
umtreibt. In all diesen Jahren fand Merkel ihre Bot-
schaft. Während der Griechenlandkrise sagte Mer-
kel: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die
Deutschen werden auch ihre Garantie nicht verges-
sen, als sie in der Finanzkrise versprach: „Wir sagen
den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen si-
cher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung
ein.“ In der Flüchtlingskrise ist der Satz „Wir schaf-
fen das“ in Stein gemeißelt, genauso wie ihre emo-
tionale Aussage: „Dann ist das nicht mein Land.“

In der Coronakrise sicherte Merkel den Bürgern
zu: „Wir sind gewillt, alles zu tun, was notwendig
ist.“ Das wurde als Anleihe bei Draghis Versprechen
als EZB-Präsident gewertet: „Whatever it takes.“
Merkel hat bislang jede Krise politisch überlebt.
Manche haben sie sogar gestärkt. Nach der Rettungs-
aktion für Griechenland führte sie die Union bei der
Bundestagswahl beinahe zur absoluten Mehrheit.
Bei der Flüchtlingskrise sah das anders aus. Die Uni-
on fuhr ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein,
und Merkel bekam mit Ach und Krach ihre dritte
Große Koalition hin. Heute, nach zwei Jahren dieser
Regierung, in der oft Orientierungslosigkeit herrsch-
te, bekommen nun Union und SPD wieder Wind un-
ter die Flügel. Vor allem Finanzminister Olaf Scholz
und Gesundheitsminister Spahn profilieren sich in
der Ausnahmesituation als Krisenmanager. Bayerns
Ministerpräsident Markus Söder gibt gemeinsam mit
Merkel den Takt vor. Sollte Deutschland glimpflich
durch die Pandemie kommen, dürfte sich das in po-
sitiven Umfragewerten für die Große Koalition nie-
derschlagen. Wenn es anders läuft, werden Schuldi-
ge gesucht. Das ist aber alles noch weit weg.
Merkel hat in fast allen Krisen probiert, die ande-
ren europäischen Mitgliedstaaten und Hauptstädte
einzubinden. Das hat mal gut geklappt wie bei Grie-
chenland. Mal weniger gut wie bei der Verteilung
der Flüchtlinge. Hier verweigerten sich die Osteuro-
päer. Wie jetzt die Kooperation läuft, ist noch nicht
ausgemacht. Schaut man sich die Grenzschließun-
gen, Exportverbote und sonstigen nationalen Allein-
gänge auf dem Kontinent an, ist noch Luft nach
oben, was das koordinierte Vorgehen in Europa be-
trifft. Der Nationalstaat feiert in der Coronakrise ein
Comeback. In der Zeit nach der Pandemie wird si-
cherlich darüber gesprochen werden.
Die Kanzlerin hat sich einen persönlichen Mecha-
nismus in allen Krisen zugelegt, und der heißt: „auf
Sicht fahren“. Sie befindet sich nicht wie Frankreichs
Präsident im Kriegszustand. Merkel ordnet täglich
die Lage neu ein und reagiert darauf mit wuchtigen
Entscheidungen. Aber ob selbst das zu wenig ist,
weiß heute niemand. Bislang ist es so, dass ihre Re-
gierung nahezu im Tagesrhythmus den Kampf ver-
schärft. Wieder geht Merkel Schritt für Schritt voran.
Das wird sie auch nicht mehr ändern. Bei all ihren
anderen Herausforderungen hatte die Bundeskanzle-
rin immerhin wenigstens etwas mehr Zeit: Diesmal
geht es in ungeahnter Geschwindigkeit voran.

Bundeskanzlerin


Merkel fährt


wieder auf Sicht


Die
Krisenkanzlerin ist
zurück und geht
im Kampf gegen
das Coronavirus
Schritt für Schritt
voran, meint
Thomas
Sigmund.

Bei all ihren


Herausforde-


rungen hatte


die Kanzlerin


mehr Zeit:


Diesmal geht es


in ungeahnter


Geschwindigkeit


voran.


Der Autor ist Ressortchef Politik.
Sie erreichen ihn unter:
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Meinung


& Analyse


MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
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„Es geht um Leben und Tod.
So einfach ist das. Und so
schlimm.“
Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident
von Nordrhein-Westfalen, gibt eine
Einschätzung zur Ausbreitung des Coronavirus
in Deutschland und NRW.

„Ich gehe davon aus, dass
wir sicherlich den ganzen
Monat April und den
ganzen Monat Mai mit
den Folgen zu tun haben.“
Peter Altmaier (CDU), Bundeswirtschafts -
minister, versucht, die Dauer der
konjunkturellen Coronakrise zu bemessen.

Stimmen weltweit


Die „Neue Zürcher Zeitung“ spricht mit Blick auf
die die Schweiz umgebende EU und die
Coronapandemie vom größten Stresstest in der
Geschichte des Staatenbunds:

E


in gutes Bild haben die EU-Mitgliedstaaten
in dieser Krise bisher nicht abgegeben. Der
Reflex der deutschen und der französi-
schen Regierung, den Export von Atemschutz-
masken und medizinischen Geräten zu beschrän-
ken, während der italienische Außenminister Lui-
gi Di Maio einen Hilferuf an die Europäer aussand-
te, kam in Rom nicht gut an. (...) Die Coronapan-
demie ist für die EU ein Stresstest, der womöglich
weit über den Brexit, die Euro-Krise von 2008
oder die Migrationskrise von 2015 hinausgeht.
Man muss sich nur die Fliehkräfte in Erinnerung
rufen, welche die Sparmaßnahmen nach der letz-
ten Schuldenkrise ausgelöst haben, um zu erah-
nen, zu welchen Verwerfungen es im Verlauf der
Coronapandemie noch kommen kann. Sicher, es
kann sein, dass die EU, die mit der Abriegelung ih-
rer Außengrenze nun immerhin nach außen als
Einheit auftritt, aus dieser Krise gestärkt hervor-
geht. Und es ist viel zu früh, der Staatengemein-
schaft schon jetzt Versagen vorzuwerfen.

Die Londoner „Times“ setzt sich ebenfalls mit
den Maßnahmen gegen das Coronavirus
auseinander. Sie hinterfragt den Kurs der
Regierung Boris Johnson:

D


ie meisten Schulen bleiben offen, vorerst
jedenfalls. Die Reduzierung von Sozial-
kontakten soll freiwillig bleiben, selbst
für Menschen über 70. Premierminister Boris
Johnson schlägt nicht vor, dass der Staat die Be-
fugnis erhält, Menschen zu zwingen, zu Hause zu
bleiben. Der Bevölkerung wird geraten, Pubs und
Restaurants zu meiden, aber diese Örtlichkeiten
werden nicht geschlossen. Der Premierminister
hofft, dass solche weiter gehenden Maßnahmen
nicht erforderlich sein werden, wenngleich sie
nicht ausgeschlossen werden können. (...) Die
Zukunft wird zeigen, ob Johnsons Haltung ausrei-
chend ist oder weitere Schritte notwendig sind.
Klar ist aber, dass es ohne einen Durchbruch in
der Medizin Monate und vielleicht sogar ein Jahr
dauern wird, bevor es irgendeine Aussicht auf
Rückkehr zu einem normalen Leben gibt. Falls
Großbritannien überhaupt jemals zu etwas zu-
dpa (§) rückkehren kann, das wir von früher kannten.

Die belgische Tageszeitung „De Standaard“
kommentiert, dass die Reaktion der
Landesbevölkerung auf die Pandemie strenger
ausfällt, als die der Regierung:

W


ir kennen die Belgier als ein Volk, das
bei jeder staatlichen Maßnahme so-
fort die Frage stellt: Wie kann ich das
umgehen, wo ist das Hintertürchen? Im Kampf
gegen das sich ausbreitende neue Coronavirus
beobachten wir jedoch etwas, was man nie zuvor
sah: Die Bevölkerung selbst ergreift strengere
Maßnahmen als jene, die von der Regierung er-
lassen wurden. Sie geht, mit anderen Worten, vo-
ran. (...)
Anscheinend ist das Gefühl für Dringlichkeit
bei der Bevölkerung innerhalb weniger Tage stär-
ker geworden als in politischen Kreisen. Wir or-
ganisieren nun selbst den „lockdown“ des Lan-
des, noch bevor er angeordnet wird.

D


er britische Regierungschef Boris Johnson lebt
offenbar auf einer Insel der Glückseligen – und
das in Zeiten, in denen weltweit das normale
Leben im Zuge der Coronapandemie zum Stillstand
kommt. Schulschließungen, ein Verbot von Massenver-
anstaltungen oder gar eine generelle Ausgangssperre?
In Großbritannien ist von solchen Maßnahmen keine
Rede. Anders als auf dem europäischen Kontinent geht
das Leben in Großbritannien seinen gewohnten Gang.
Doch das bringt enorme Probleme mit sich.
Zwar verkniff sich der Premier bei seinem jüngsten
Auftritt in der Öffentlichkeit die üblichen Witzchen.
Und tatsächlich verkündete er dann doch ein Maßnah-
menpaket, das von manchen Briten als „größte Ein-
schränkung in Friedenszeiten“ betrachtet wird: Die Bri-
ten sollten auf alle „unnötigen“ Reisen verzichten, mög-
lichst keine Restaurants, Pubs oder Cafés aufsuchen,
lieber von zu Hause arbeiten, und über 70-Jährige und
Schwangere sollen möglichst soziale Kontakte meiden.
Vor konkreten Verboten oder Auflagen schreckt John-
son aber zurück. Dahinter dürfte die Furcht stecken, als
Befürworter eines „Nanny-Staates“ zu gelten und so

Wähler zu verprellen. Denn kaum etwas ist in weiten
Teilen Großbritanniens mehr verpönt. Die Abneigung
gegen die angebliche „Regulierungswut“ der EU war es
schließlich auch, die den Brexit nach sich zog.
Und wirklich: Schon als Premier Johnson empfahl,
die Hände zu waschen, maulten einige Briten, dass das
doch einer Bevormundung gleiche. Selbst der 79 Jahre
alte Vater des Premiers verkündete öffentlich, dass er
„natürlich“ in die Kneipe gehe, wenn ihm danach sei.
Gäbe es radikale Verbote, wäre das womöglich an-
ders. So hat Johnsons Zaudern seinen Preis – und den
werden vor allem die Schwächsten zahlen müssen. Bri-
tische Experten schätzen, dass das laxe Vorgehen zu
Tausenden Todesopfern führen könnte. Mit einer Aus-
gangssperre wie in Italien oder Frankreich könnte die
britische Regierung vermutlich einen Teil dieser Tode
verhindern.
Auch für die Wirtschaft und vor allem die vielen
Kleinunternehmen wären klare Ansagen besser. Ein
Beispiel: Nach den „Empfehlungen“ des Premiers wird
nun ein Teil der Briten nicht mehr in Pubs oder Restau-
rants gehen. Deren Umsätze brechen ein. Die Wirte
können allerdings keine Versicherungsansprüche stel-
len, wenn die Regierung kein allgemeines Verbot er-
lässt.
Die Coronapandemie stellt die Gesellschaft nicht nur
gesundheitlich auf eine harte Probe. Mit seinen „Emp-
fehlungen“ hat Boris Johnson versucht, einen Mittelweg
einzuschlagen. Aber in Zeiten dieser weltweiten Krise
ist das der falsche Weg. Premierminister Johnson könn-
te dies im Nachhinein noch zutiefst bedauern.

Boris Johnson


Unentschiedener Mittelweg


Der britische Premier ist noch
immer nicht in der Coronarealität
angekommen, kritisiert Kerstin
Leitel.

Die Autorin ist Korrespondentin in London.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


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