Handelsblatt - 18.03.2020

(Sean Pound) #1
Dana Heide Peking

D


er 27-jährige Liu, der in der Zeitung
nur mit seinem Nachnamen genannt
werden will, schaut von seinem
Smartphone auf. In der Ferne sieht er
den Bus, auf den er wartet. Der soll
ihn zu seinem Arbeitsplatz bei einer Internetfirma
in der ostchinesischen Stadt Hangzhou bringen. Liu
senkt den Blick wieder, tippt auf seinem Smart -
phone auf die Zahlungsdienst-App Alipay und akti-
viert die Minisoftware „Hangzhou Health Code“. Er
stellt sicher, dass der Service läuft. Dann reiht er
sich in eine lange Schlange ein. Jeder, der in dem
Bus mitfahren will, muss dem Fahrer seinen persön-
lichen Code zeigen. Grün bedeutet kein Problem,
Gelb und Rot zeigen hingegen an, dass die Person
nicht mitfahren darf. Liu zeigt dem Fahrer seinen
vorbereiteten Code. Er ist grün. Liu darf einsteigen.
Hangzhou war eine der ersten Städte, die das
neue Programm namens „Health Code“ eingesetzt
haben. Um den Service zu nutzen, müssen Anwen-
der dort neben Namen, Identifikationsnummer
und Wohnadresse Daten zum Gesundheitszustand
angeben und darüber informieren, wo sie in den
vergangenen beiden Wochen waren. Die Software
greift auch auf Standortdaten der Nutzer zu.
Das Programm, der Code, ist mittlerweile de facto
Pflicht für chinesische Staatsbürger. Je nach Stadt
dient er als Eintrittskarte für Restaurants, den Nah-
verkehr, Supermärkte. Viele Arbeitgeber verpflich-
ten ihre Mitarbeiter, den Service zu aktivieren und
den Code vor dem Betreten der Büroräume oder
Werkshallen vorzuzeigen. Inzwischen nutzen laut
Angaben des Fintechs Ant Financial, zu dem Alipay
gehört, rund 200 Städte in China die Software.
China versucht derzeit den Spagat: Auf der einen
Seite will die Regierung die inzwischen deutlich ge-
sunkene Zahl der Neuinfizierten weiter eindäm-
men. Auf der anderen Seite sollen die Unterneh-
men ihre Arbeit wieder aufnehmen – und der Alltag
in der durch das Coronavirus hart getroffenen
zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt wieder ein-
kehren. Die Gesundheitscodes sollen dabei helfen.

Kritiker fürchten jedoch, dass die Regierung die Si-
tuation ausnutzt, um die Überwachung der chine-
sischen Bürger noch stärker auszuweiten.
Der Code und weitere Instrumente, mit denen
Daten gesammelt werden, sind inzwischen fester
Bestandteil im Alltag von Millionen Chinesen. Auch
für Liu. Bevor er zu seinem Arbeitsplatz gelangt,
überprüft ein Sicherheitsmann am Eingang zum
Bürogebäude zunächst seine Körpertemperatur.
Dann zeigt Liu ihm seinen Papierausweis, den ihm
seine Firma ausgestellt hat. Schließlich hält er dem
Sicherheitsmann noch seinen grünen Code vor.
Auch der Supermarkt, in dem er einkauft, das Res-
taurant, in dem er in der Mittagspause isst, und die
Sicherheitsmitarbeiter am Eingang seiner Wohn-
siedlung wollen den Code sehen.
„Die meisten Menschen haben sich an die neue
Norm angepasst“, beobachtet Liu. Einige, meist äl-
tere Personen würden zwar ihren Code beim Ein-
steigen in den Bus manchmal nicht zeigen. Der Fah-
rer erinnere sie dann aber, ihn vorzuzeigen oder im
Zweifelsfall zu beantragen.
Die meisten Städte in China nutzen eine Soft-
ware, die auf dem Health-Code-System basiert, wie
es in Hangzhou entwickelt wurde. Der Service kann
meist auf mindestens drei Wegen genutzt werden:
durch die Zahlungsdienstleistungs-App Alipay, den
Messengerdienst WeChat, die Kommunikations-
plattform Ding Talk oder eigene Webseiten der
Stadtregierungen. Andere Städte, wie etwa Chinas
Hauptstadt Peking oder die ostchinesische Metro-
pole Schanghai, haben ihre eigenen Systeme entwi-
ckelt. Die meisten Städte akzeptieren den Code aus
einer anderen Stadt nicht. Es gibt allerdings Pläne,
die Systeme untereinander kompatibel zu machen.
Im Gespräch mit dem Handelsblatt distanziert
sich Ant Financial von dem Service. Er sei allein von
der Regierung entwickelt worden. Alipay habe „nur
technische Unterstützung geleistet“, etwa indem es
den Service über die Alipay-Plattform zugänglich
gemacht habe. Das System werde allein von der Re-
gierung angeboten und gesteuert, Alipay habe kei-

nen Zugriff auf die Daten, die erhoben werden, be-
tont das Unternehmen. Die ausdrückliche Distan-
zierung hat einen Grund: Alipay will in Europa
wachsen, negative Schlagzeilen in Verbindung mit
Datenschutz würden dem Image der App schaden.
Welche Daten die Code-Services genau erheben
und an welche Stellen die Informationen weiterge-
geben werden, ist unklar. Um den Service nutzen zu
können, muss der Anwender sich damit einverstan-
den erklären, dass seine Standortdaten ermittelt
und an die lokale Behörde für Epidemieprävention
und -kontrolle weitergereicht werden. Damit weiß
diese staatliche Stelle jederzeit, wo sich der Nutzer
des Service aufhält und mit wem er sich trifft. Die
Option, sein Smartphone zu Hause zu lassen, um
dem Tracking zu entgehen, besteht nicht mehr –
der Code ist nun notwendig für das tägliche Leben.
Die zuständigen Stellen der Stadt Hangzhou lehn-
ten eine Antwort auf einen Fragenkatalog des Han-
delsblatts ab. Eine Frage war, an welche Stellen au-
ßer den lokalen Behörden für Epidemieprävention
und -kontrolle die Daten der Nutzer weitergeleitet
werden. Eine Untersuchung der „New York Times“
Anfang März legte nahe, dass die Standortdaten
auch mit der Polizei geteilt werden.

Arbeit an staatlichem Datenpool
Mareike Ohlberg vom Berliner China-Thinktank Me-
rics glaubt, die Apps seien nicht in erster Linie we-
gen der Art der gesammelten Daten eine neue Es-
kalationsstufe bei der Überwachung der Bürger in
China. Die Möglichkeiten, den Standort einer Per-
son zu tracken, habe es vorher auch schon gege-
ben. Sie sieht jedoch eine andere Gefahr: „Pro-
gramme wie die Health-Code-Apps, auf die mehre-
re staatliche Stellen Zugriff haben, verstärken den
Trend in China, Daten systematischer zu sammeln
und allen staatlichen Einrichtungen zugänglich zu
machen“, so Ohlberg. Bislang gebe es eben nicht
die eine zentrale Stelle, wo alle Daten liegen, auf die
jeder zugreifen kann. „Die chinesische Regierung
arbeitet aber daran, und Tracking-Tools wie die

Datenschutz


Chinas Code-System


Im Kampf gegen das Coronavirus setzt China auf Software-Programme,


die massiv persönliche Daten sammeln. Experten kritisieren eine


neue Stufe der Überwachung, die auch nach der Krise fortgeführt wird.


Programme


wie die


Health-Code-


Apps


verstärken den


Trend in China,


Daten


systematischer


zu sammeln


und allen


staatlichen


Einrichtungen


zugänglich zu


machen.


Mareike Ohlberg
Thinktank Merics

Digitale Revolution
MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
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Big-Brother-Citys
Die 20 meistüberwachten Städte der Welt, Zahl der Kameras pro 1 000 Einwohner

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Chongqing

Shenzhen

Schanghai

Tianjin

Ji’nan

London

Wuhan

Guangzhou

Beijing

Atlanta

Singapur

Abu Dhabi

Chicago

Urumqi

Sydney

Bagdad

Dubai

Moskau

Berlin

Neu Delhi

China

China

China

China

China

Großbritannien

China

China

China

USA

V. A. E.

USA

China

Australien

Irak

V. A. E.

Russland

Deutschland

Indien

HANDELSBLATT Quelle: Comparitech

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Health- Code-Programme können dazu beitragen,
das System weiter in diese Richtung zu entwickeln.“
Öffentliche Debatten um Datenschutz finden in
China nur sehr selten statt. Auch im Fall der Health-
Codes gibt es kaum sichtbare Kritik. Dies bedeutet
nicht, dass chinesischen Bürgern per se der Schutz
ihrer Privatsphäre unwichtig ist. So wies etwa ein
bekannter Professor der Pekinger Universität An-
fang März in einem Blogeintrag auf die Problematik
des Datenschutzes während der Pandemie hin.
Liu ist jedoch einer von vielen Chinesen, die kei-
ne Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes ha-
ben. Er sieht es als Vorteil, dass das Code-System
die Bewegungen der Bürger verfolgt. „Die Kombi-
nation mit den eigenen Angaben über den Gesund-
heitszustand macht es zurzeit zur effektivsten Me-

thode, um die Epidemie zu kontrollieren“, sagt er.
Auch Xu Yiao, ein Unternehmensberater aus
Schanghai, hat keine Bedenken bezüglich seiner
Daten. Er schätzt, dass er „Suishenma“, die
Schanghaier Version des Gesundheitscodes, etwa
viermal pro Tag nutzt. Er muss den Code, der auch
bei ihm Grün zeigt, beim Betreten der U-Bahn und
an seiner Arbeitsstelle vorzeigen. Xu greift auf den
Service über die Messenger-App WeChat zu. Er
muss dazu jede Woche sein Gesicht mit einer Ge-
sichtserkennungssoftware scannen. „Ich weiß
nicht, wer das Programm entwickelt hat und wo
meine Daten gespeichert werden“, sagt er. Er finde
„Suishenma“ aber bequem und einfach.
Menschenrechtsorganisationen wie Human
Rights Watch kritisieren den Umfang der Daten-

sammlung als unverhältnismäßig. Sie befürchten,
Situationen wie die Coronakrise könnten dazu ge-
nutzt werden, solche Datensammlungen weiter aus-
zubauen. „Der Grund für die Datensammlung ver-
leiht dieser Form der Überwachung eine neue Legi-
timität, denn sie dient einem höheren Ziel: der
Gesundheit“, erklärt Merics-Expertin Ohlberg. „Die
Gefahr ist, dass die detaillierte Überwachung der
chinesischen Bürger auf diese Weise weiter norma-
lisiert wird, nicht nur innerhalb Chinas, sondern
auch gegenüber dem Ausland.“
Tatsächlich äußerten sich Lokalregierungen be-
reits dahin gehend: „Künftig werden nach und nach
weitere Daten- und Anwendungsdienste eingeführt,
um zu persönlichen Identifikations- und Service-As-
sistenten der Schanghaier zu werden“, heißt es in
einer Antwort des Büros für Öffentlichkeitsarbeit
der Schanghaier Stadtverwaltung auf eine Bürger-
anfrage zum Programm „Suishenma“ Anfang März.
Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Hang -
zhouer Stadtausschusses lehnte einen Kommentar
auf die Anfrage des Handelsblatts, ob das System
auch nach der Krise beibehalten werden soll, ab.
Eine zentrale Informationsstelle der Stadt Peking
sagte auf Anfrage, es lägen noch keine Informatio-
nen dazu vor, dass die Code-Programme nach der
Pandemie weiter eingesetzt werden. Die Entschei-
dung stehe noch aus.
Menschenrechtsorganisationen führen Erfahrun-
gen der Vergangenheit an, nach denen es häufig
kein Zurück von einem einmal eingeführten Über-
wachungsniveau gab. So wurde in China während
der Olympischen Spiele im Jahr 2008 die Überwa-
chung des öffentlichen Raums durch Videokame-
ras deutlich verstärkt. Als das Großereignis been-
det war, bliebt das Ausmaß der Überwachung be-
stehen. China ist aktuell das Land mit den meisten
Überwachungskameras.

System scheint fehleranfällig
Schätzungen zufolge sind zwischen 200 Millionen
und 626 Millionen Kameras in Gebrauch. Nach ei-
ner Erhebung von Comparitech kommen in der
Metropole Chongching auf 1 000 Einwohner 168
Überwachungskameras, in Schanghai 114 Kameras,
in Peking 40 Kameras. Zum Vergleich: In Berlin
sind es elf, in Paris drei.
Neben der enormen Datenmenge, die der Code-
Service ansammelt, gibt es noch ein weiteres The-
ma: Die Ermittlung des Codes scheint fehleranfäl-
lig. So berichten Nutzer, dass ihr Code auf Rot
sprang und sie in Quarantäne mussten, weil sie an-
geblich mit Personen in Kontakt waren, die den Vi-
rus hatten. Dem sei aber gar nicht so gewesen.
Auch Wang Hao aus Peking, der seinen richtigen
Namen nicht in der Zeitung lesen will, da er nega-
tive Konsequenzen an seinem Arbeitsplatz bei ei-
nem staatlichen Unternehmen fürchtet, berichtet
im Gespräch von Problemen mit „Jingxinxiangzhu“
(sprich: Dschingchinchiangdschu), der Pekinger
Version des Health-Code-Service.
Ende Februar war Wang von seinem Heimatort
im Norden Chinas aus mit dem Zug zurück nach
Peking gefahren. Ein Zugbegleiter wies ihn an, sich
bei „Jingxinxiangzhu“ anzumelden. Nachdem er
sich mit Namen, Wohnadresse und Ausweisnum-
mer registriert und Angaben über seinen Gesund-
heitszustand gemacht hatte, fuhr er weiter in seine
Wohnung im Zentrum Pekings und startete seine
14-tägige Quarantäne. Dann kam der Tag, an dem
die zwei Wochen vorüber waren. Wang freute sich
schon darauf, wieder in einem nahe gelegenen
Park Sport zu machen. Doch als er „Jingxin -
xiangzhu“ morgens checkte, war sein Code nicht
grün, sondern gelb, das heißt, er sollte weiter in
Quarantäne bleiben.
Wang war irritiert. Er schrieb in den Nachbar-
schaftschat seiner Wohnanlage und bat um Hilfe.
Als niemand antwortete, machte er seinem Ärger
in dem sozialen Netzwerk Weibo Luft. „Ich war
wahrscheinlich enttäuscht darüber, dass ich nach
zwei Wochen noch immer nicht die Wohnung ver-
lassen durfte“, so Wang. Zwei Stunden später war
sein Code grün. Warum er geändert wurde, wurde
ihm nicht mitgeteilt.

Diese Woche beschäftigen wir uns
mit den Gesundheitscodes in
China. Weitere Beiträge unter
http://www.handelsblatt.com/
REUTERS/Aly Song; Getty Images; Wechat digitalerevolution

DIGITALE
REVOLUTION

Österreich Der
Ex-Staatskonzern A
übergibt Medienbe-
richten zufolge ano-
nymisierte Mobilfunk-
Bewegungsdaten an
die Regierung. Somit
soll nachvollzogen
werden, wie die
Bewegungsströme
mit der Ausbreitung
von Corona zusam-
menhängen.

Israel Medienberich-
ten zufolge sollen die
Standortdaten von
Mobilfunknutzern
erfasst und die Nutzer
per Nachricht
gewarnt werden,
sobald sie einem Infi-
zierten nahe kommen.
Für dieses Vorgehen
fehlte am Dienstag
aber noch der richter-
liche Beschluss.

Südkorea In Südkorea
werden auf der Platt-
form „Coronaita“ Orte
angezeigt, an denen
sich besonders viele
Corona-Infizierte auf-
halten.

Deutschland Die
Datenschutzaufsichts-
behörden des Bundes
und der Länder halten
eine Nutzung perso-
nenbezogener Daten
für möglich, solange
sie verhältnismäßig
und anonymisiert
erfolgt oder eine Ein-
willigung der Person
vorliegt.

Daten gegen
Corona

Digitale Revolution
MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
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