Handelsblatt - 18.03.2020

(Sean Pound) #1
Larissa Holzki, Anis Mičijević
Köln, Düsseldorf

D


ie Schüler bleiben zu
Hause, die Lehrer be-
kommen Nachhilfe:
Wer am Montag an der
berufsbildenden David-
Roentgen-Schule in Neuwied noch
nicht wusste, wie man online Doku-
mente austauscht, musste es lernen.
Schulleiter Dirk Oswald hat seine
Lehrerinnen und Lehrer in „kollegia-
le Serviceteams“ eingeteilt, damit es
die einen den anderen beibringen.
„In Zukunft wird niemand mehr mit
mir über die Notwendigkeit diskutie-
ren“, sagt Oswald.
Was der Schulleiter in Neuwied
verordnet hat, passiert gerade überall
im Land – Schulen und Hochschulen
digitalisieren sich im Eiltempo.
Deutschland hat sich dabei lange
schwergetan: Lehrer kannten sich zu
wenig aus und hatten Angst zu versa-
gen. Wo Technik vorhanden war,
fehlten Leute, die sie instand hielten.
Zudem gibt es viele Bedenken gegen-
über neuen Lehrmitteln. Selbst mit
dem milliardenschweren Digitalpakt
des Bundes kam die Digitalisierung
nur schleppend in Gang. Jetzt sind
aufgrund des Coronavirus Schulen im
ganzen Land geschlossen und die
Zaghaftigkeit wird bestraft.
Am deutlichsten wurde das am
Montag ausgerechnet in Bayern, das
sich für sein leistungsstarkes Bil-
dungssystem rühmt. Hacker legten
die für den Fernunterricht gedachte
Online-Plattform Mebis gleich am ers-
ten Tag der Schulschließung lahm.
Schüler kamen nicht an ihre Übun-
gen, weil Hunderttausende automati-
sierte Seitenaufrufe die Server atta-
ckierten. „Die existierenden Lern-
plattformen einzelner Bundesländer
gehen wohl derzeit alle in die Knie“,
sagt auch Heinz-Peter Meidinger, Vor-
sitzender des Deutschen Philologen-
verbands, im Interview.

Pragmatismus ist gefragt
Die Lage lässt sich als Desaster deu-
ten oder als Chance, wie das Beispiel
von Schulleiter Dirk Oswald zeigt:
Jetzt gilt es, von digitalen Vorreitern
zu lernen, und das mit Pragmatismus


  • nur bitte mit Bedacht. Beispiel
    Grundschule der deutschen Bot-
    schaftsschule in Teheran: Als sie we-
    gen Corona geschlossen wurde, hat
    Schulleiter Johannes Claassen einfach
    Lernvideos des Start-ups Sofatutor
    abgefilmt und seinen Schülern per
    WhatsApp geschickt. Der Gründer
    und Geschäftsführer der digitalen
    Lernplattform, Stephan Bayer, muss
    zwar lachen, während er das erzählt.
    „Das war jetzt nicht mit uns abge-
    sprochen, aber der Schulleiter hat
    sich nach ein paar Tagen bei uns ge-
    meldet und eine Lizenz für seine
    Schüler beantragt.“
    Lehrer in Deutschland würden da-
    mit nicht nur gegen Lizenzbestim-
    mungen von Sofatutor, sondern auch
    gegen die Datenschutz-Grundverord-
    nung verstoßen, weil Dienste wie
    WhatsApp im Schulkontext nicht er-
    laubt sind. Zumindest Absprachen


mit allen Beteiligten sind also unbe-
dingt erforderlich.
Ab Mittwoch sind auch die Schu-
len in Deutschland bundesweit ge-
schlossen. Die Berliner Firma Sofa-
tutor mit ihren Lernvideos ist nur ei-
ner von vielen Profiteuren, wenn die
Schulen den Unterricht trotz Schlie-
ßung fortsetzen müssen. Schulträger
und Landesregierungen melden sich
nun bei Sofatutor-Chef Bayer: „Wir
haben derzeit viele Anfragen und
merken ganz klar eine sprunghaft
gestiegene Bereitschaft, das Thema
digitales Unterrichten ins Kollegium
zu tragen und mit den Schülern aus-
zuprobieren.“

Chance für Plattformen
Andere Gewinner sind Plattformen
für digitale Lern- und Arbeitsumge-
bungen, die das Wanken und Fehlen
der Schulserver als Chance begrei-
fen, mit kostenlosen Angeboten Nut-
zer zu gewinnen. Zu den erprobten
Angeboten zählt das Hochschulfo-
rum Digitalisierung Zoom, Adobe
Connect, GoToMeeting, Lösungen
von Google und Microsoft Teams,
das unter dem aktuellen Ansturm al-
lerdings auch stolpert.
Lehrer, die nach digitalen Inhal-
ten für ihren Unterricht suchen, fra-
gen am besten ihre Schüler. Längst
lösen sie Hausaufgabenprobleme bei
der Analysis oder im Prozentrech-
nen auf der Videoplattform Youtu-
be. Dabei helfen die Kanäle „Lehrer-
schmidt“ von Kai Schmidt, Sebasti-
an Schmidt oder Daniel Jung. Die
Lehrer und Nachhilfeanbieter haben
inzwischen die komplette Schulma-
thematik erklärt. „Aus meiner Sicht

ist die Situation eine riesige Chance,
dass sich Lehrer die vielen Inhalte
im Netz ansehen, bewerten und die
richtigen weiterempfehlen“, sagt Da-
niel Jung. Nutzen und Weitersagen
ist also ausdrücklich erlaubt.
Während Schulen und Hochschu-
len insgesamt bei der Digitalisierung
hinterherhinken, haben einzelne
Lehrende die Chancen längst ergrif-
fen. Dazu gehört Professor Martin
Bonnet von der Technischen Hoch-
schule in Köln. Schon vor sieben Jah-
ren hat er seine Vorlesungen im
Fach Werkstoffkunde abgeschafft
und stattdessen Inhalte häppchen-
weise im Video erklärt und ins Netz
gestellt.
Inzwischen hören dem Professor
mit der riesen Auswahl an gemuster-
ten Krawatten auf Youtube nicht
mehr nur eigene Studenten zu, son-
dern Hunderttausende. Seine eige-
nen Studenten kommen nur noch
zum Besprechen und Experimentie-
ren zu ihm und sollen sogar bessere
Klausuren schreiben. Das Handels-
blatt erreicht ihn zwischen Telefona-
ten mit Kollegen aus Bayern, die nun
seinen Rat suchen.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse
beim Experimentieren mit der Bil-
dung im Netz: „Sachen einfach nur
digital zur Verfügung stellen ist keine
vernünftige Lehre.“
Die fünf wichtigsten Tipps von
Bonnet und Jung an Lehrende:

nInhalte für das Fach im Netz su-
chen und weiterempfehlen.

nBei Bedarf den eigenen Unterricht
aufnehmen – es reicht, das Smart -

phone auf das Papier zu richten und
etwa beim Zeichnen zu erklären.

nVideoinhalte sollten maximal 20
Minuten dauern. Es ist viel schwieri-
ger, sich auf Videos zu konzentrieren
als auf den Unterricht.

nVideokonferenzen sollten mög-
lichst zu zweit organisiert werden,
damit sich einer um die Technik
kümmert.

nIn der Präsenzzeit von 45 Minuten
die Aufgaben für die nächste Konfe-
renz besprechen.

Bonnet selbst muss sich nun überle-
gen, wie er auch seine Versuche im
Netz zeigt. In seinem Fach geht es et-
wa darum auszuprobieren, wie sich
Werkstoffproben verformen, bevor
sie reißen. „Es steigert das Interesse
und die Motivation am Fach, wenn
Studenten Versuche machen“, sagt
er. Da müsse man nun Abstriche ma-
chen. Für die digitalen Präsenzver-
anstaltungen nutzt Bonnet Adobe
Connect. „Da kann ich verschiedene
Fenster zeigen: Powerpoint-Präsen-
tation, Web-Kamera, einen Chat für
Fragen“, sagt er.
Eine schlechte Nachricht hat Da-
niel Jung für Lehrer und Eltern jün-
gerer Kinder: „Der Siebenjährige
verdaddelt sich allein am Tablet.“ Al-
leine könnten Schüler sich erst zwi-
schen elf und 14 im Netz bilden. An-
gebote gibt es offline wie online bei
den klassischen Anbietern: Der
Schulbuchverlag Cornelsen etwa
bietet auch digital eine kostenlose
Leseförderung.

Unterricht im Internet


Digitales Nachsitzen


Deutschlands Schulen haben sich schwergetan bei der Digitalisierung. Es fehlt an Technik, Personal


und Überzeugung. Jetzt muss es auf einmal trotzdem gehen: Die Digitalisierung im Eiltempo.


Getty Images

Sachen


einfach nur


digital zur


Verfügung


zu stellen


ist keine


vernünftige


Lehre.


Martin Bonnet
Professor an der
Technischen
Hochschule Köln

Unternehmen & Märkte
MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
22

D


er Präsident des Deutschen
Lehrerverbands, Heinz-Pe-
ter Meidinger, bleibt ange-
sichts der flächendeckenden Schul-
schließungen gelassen. Seine Mutter
habe ihn an das „Notabitur“ im
Zweiten Weltkrieg und der Nach-
kriegszeit erinnert – ein Abschluss
ohne Prüfung. Auch das habe den
Bildungsstandort Deutschland nicht
in seinen Grundfesten erschüttert,
meint der Pädagoge.

Herr Meidinger, Liberale wie der
Bundestagsabgeordnete Thomas
Sattelberger warnen schon vor ei-
nem „verlorenen Bildungsjahr“,
wenn nicht schnell alle Schüler digi-
tal unterrichtet würden. Ist das real
oder Alarmismus?
Das halte ich für sehr übertrieben –
zumindest für den Fall, dass die
Schulschließungen nicht mehrere
Monate andauern, sondern nur eini-
ge Wochen. Es trägt auch nicht gera-
de zur Beruhigung bei. Auch in nor-
malen Zeiten fällt manchmal wo-
chenlang Unterricht aus oder Schüler
sind längere Zeit krank – das muss
man dann auch kompensieren. Zu-
dem werden wir, wenn es mit dem
Präsenzunterricht wieder richtig los-
geht, sicherlich auch Nachhol- und
Förderkurse anbieten.

Aber es ist eine historische Heraus-
forderung für das Schulsystem ...
Auf jeden Fall. Aber wenn man etwas
weiter zurückdenkt: Meine Mutter
hat mir erzählt, dass im Zweiten
Weltkrieg und in der Nachkriegszeit
teilweise Abitur gemacht wurde, oh-
ne dass eine Prüfung stattfand – das
war das sogenannte „Notabitur“. Da
haben die Schulen einfach die Noten
aus dem Vorjahr genommen und ein-
getragen. Und selbst in den 60er-Jah-
ren des vergangenen Jahrhunderts
gab es beispielsweise die Kurzschul-
jahre. All das hat den Bildungsstand-
ort Deutschland auch nicht in seinen
Grundfesten erschüttert.

Eigentlich sollten Deutschlands Schu-
len mittlerweile ja in der Lage sein, di-
gital zu unterrichten. Aber da stehen
wir immer noch sehr am Anfang: Von
den Digitalpaktmitteln ist bisher nur
ein minimaler Teil abgerufen wor-
den, und die Mehrheit der Lehrer ist
dafür noch gar nicht geschult.
Das ist leider wahr, wir sind alles an-
dere als gut gerüstet für so eine Situa-
tion. Wenn wir es schaffen, mit digi-
talen Mitteln auch nur ein Viertel des
normalen Präsenzunterrichts zu er-
setzen, können wir schon froh sein.
Ich fürchte, dass das an vielen Schu-
len noch weniger sein wird.

Also doch flächendeckend „Corona -
ferien“?
In der Mehrzahl der Länder sind die
Lehrer nach wie vor dienstverpflich-
tet, müssen also Wege finden, wie sie
mit ihren Schülern kommunizieren.
Und die Schüler sind verpflichtet, an
dieser Kommunikation teilzunehmen.

Wie sieht es für die Schüler aus, die
in den kommenden Wochen Abitur
machen wollen?
Die existierenden Lernplattformen
einzelner Bundesländer gehen wohl
derzeit alle in die Knie. Ich höre aber
deutschlandweit, dass es hier für di-
gitalen Unterricht sehr gute Erfah-
rungen mit dem Programm „Teams“
von Microsoft gibt und dass da auch
keine Serverprobleme auftreten. Das
scheint eine gute Lösung zu sein.

Auch für Prüfungen?
Nein. Online-Abiturprüfungen, wie
sie etwa das Land Berlin ins Spiel ge-

bracht hat, halte ich für nicht durch-
führbar. Die Prüfungen werden wir
also wohl teilweise nach hinten ver-
schieben müssen. Zumindest dort,
wo sie planmäßig schon in Kürze
stattfinden müssten, wie etwa in
Rheinland-Pfalz, wo die Gymnasial-
zeit achteinhalb Jahre dauert. Auch
der gemeinsame Aufgabenpool wird
dann wohl nicht überall genutzt wer-
den, weil die Termine auseinander-
fallen. Aber das ist natürlich im Mo-
ment noch alles offen.

Wie gehen die Schulen damit um,
dass es für all das noch keinerlei ver-
bindliche Anweisungen gibt?
Das ist das Hauptproblem: dass in den
Schubladen der Ministerien keinerlei

Notfallpläne lagen. Wir brauchen jetzt
klare Ansagen, wie wir vor allem mit
dem Abitur umgehen sollen, aber
auch mit den ausfallenden Klausuren,
die in die Abiturwertung einfließen.
Doch darauf werden wir sicher noch
einige Tage warten müssen.

Die Kultusminister waren also nicht
vorbereitet, obwohl andere Länder
ihre Schulen schon vor Wochen ge-
schlossen haben.
Die Schließungen haben uns alle
weitgehend kalt erwischt. Denn bis
vergangenen Donnerstag hieß es ja
vom Bundesgesundheitsministerium
und vom Robert-Koch-Institut immer,
es mache keinen Sinn, die Schulen zu
schließen – vor allem weil die Kinder

nicht von den Großeltern betreut
werden sollten. Auch der einflussrei-
che Virologe der Berliner Charité,
Christian Drosten, hat bis dato im-
mer gesagt, Schulschließungen seien
vielleicht im Juni oder auch erst im
Herbst nötig und sinnvoll.

Bis dann Bayern am Donnerstag
letzter Woche den Schalter umlegte.
Genau. Das produzierte dann den
Dominoeffekt, dass alle Länder bin-
nen zwei Tagen kurz nacheinander
Schulschließungen beschlossen. Das
bedeutet aber für die Schulen, dass
sie de facto allenfalls den Freitag
hatten, um Vorkehrungen für digita-
len Unterricht zu schaffen, bevor am
Montag die Schulen dichtgemacht
wurden.

Noch mal zur Digitalisierung: Einzel-
ne Länder haben aber doch schon
Plattformen ...
Ja, Bayern zum Beispiel hat die Me-
bis-Lernplattform. Aber die ist sehr
schnell zusammengebrochen, weil
sie eben nicht für die gleichzeitige
Nutzung durch Hunderttausende
Schüler ausgerichtet ist. Dafür hat
schon die massenhafte Neueinrich-
tung von Passwörtern gesorgt, weil
ein Großteil der bisherigen Nutzer
sie vergessen hatte. Diesen Effekt
kennen Unternehmen ja auch. Und
die Plattformen in Nordrhein-West-
falen und anderen Bundesländern
waren schon vorher nicht einsatzfä-
hig – vor allem aus Datenschutz-
gründen.

Und jetzt?
Sehr viele Lehrer sind sehr aktiv und
nutzen alle Wege, die ihnen offenste-
hen. Plattformen einzelner Schulen,
die gute alte E-Mail oder auch Whats -
App, das eigentlich für die Lehrer-
Schüler-Kommunikation verboten ist.
Aber man kann ja per Mail Arbeits-
aufträge an einen Schüler schicken,
der es in der WhatsApp-Gruppe der
Klasse weiterverbreitet (lacht). Die
mögen ihre Schüler in der Regel ja
und tun alles, damit ihnen keine
Nachteile entstehen.

Einzelne Politiker fordern, die öf-
fentlich-rechtlichen Fernsehsender
sollten zumindest vormittags Bil-
dungsprogramm senden.
Das wäre ein begrüßenswertes Zu-
satzangebot – vor allem um Kinder
zu Hause mit anspruchsvollen Sen-
dungen zu beschäftigten, wenn sie
nicht rausdürfen. Angesichts von 16
Bundesländern und 50 Schularten
mit sehr unterschiedlichen Lehrplä-
nen kann es aber niemals mehr sein
als „nice to have“.

Herr Meidinger, vielen Dank für das
Interview.

Die Fragen stellte Barbara
Gillmann.

Heinz-Peter Meidinger

„Online-Prüfungen


halte ich für nicht


durchführbar“


Der Präsident des Lehrerverbands glaubt nicht, dass das
Bildungsjahr verloren ist. Es gebe auch keine „Coronaferien“:
Schüler seien verpflichtet, sich an
digitaler Kommunikation mit Lehrern zu beteiligen.

Heinz-Peter
Meidinger: Der Chef
des Lehrerverbands
sieht digital großen
Nachholbedarf.

SZ Photo

Der Funktionär Heinz-Peter Mei-
dinger, 65, ist seit 2017 Präsident
des Deutschen Lehrerverbands.
Zuvor war der gebürtige Regens-
burger 13 Jahre lang Bundesvorsit-
zender des Philologenverbands, in
dem vor allem Gymnasiallehrer
organisiert sind.

Der Lehrer Im Alltag ist Meidinger
Gymnasiallehrer für Deutsch,
Geschichte, Sozialkunde und Philo-
sophie. Seit 2003 leitet er das
Robert-Koch-Gymnasium in Deg-
gendorf.

Heinz-Peter Meidinger

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