Handelsblatt - 18.03.2020

(Sean Pound) #1

L


othar Wieler wählt seine Worte immer
mit Bedacht, Panik in der Coronakrise
will er vermeiden. Doch die Ansage des
Chefs des Robert-Koch-Instituts (RKI)
an die Kliniken war klar. „Wir erwarten
von allen Hospitälern, dass sie ihre Intensivkapazi-
täten mindestens verdoppeln“, sagte Deutschlands
oberster Seuchenexperte am Dienstag.
Vergleiche mit der dramatischen Lage in Italien
sind übertrieben, trotz der rapide steigenden Fall-
zahlen in vielen Bundesländern. Das deutsche Ge-
sundheitssystem verfügt über viermal so viele In-
tensivbetten wie italienische Krankenhäuser. Doch
in den Krisenzeiten wächst die Verunsicherung, ob
der Staat das Versprechen einer Gesundheitsver-
sorgung einhalten kann, die weltweit zu den bes-
ten gehört. Patienten unter Coronaverdacht klagen
über Irrwege bis zu einer Diagnose, Ärzte fühlen
sich mangelhaft vorbereitet, die Behörden verlie-
ren sich bisweilen im Kompetenzgeflecht des Föde-
ralismus. Bund und Länder ergreifen immer dras-
tischere Maßnahmen, um die Ausbreitung des Vi-
rus zumindest zu verlangsamen. Es gab aber von
Beginn an Schwachstellen im System, die den
Kampf gegen die Epidemie erschweren.
Viele Menschen haben das mittlerweile persön-
lich erlebt. So wie der 47-jährige Berliner Klaus
Henn, der eigentlich anders heißt und seit zehn
Jahren regelmäßig mit Freunden für eine Woche
nach Ischgl fährt. In diesem Jahr brach die Sechser-
gruppe schon nach drei Tagen auseinander – we-

gen des Coronavirus. Noch in Ischgl, so berichtet
es Henn, bekam er trockenen Husten, später auch
Hitzewallungen. Dann brach auch er den Urlaub ab
und fuhr zurück nach Berlin. Henn wollte sich un-
bedingt testen lassen.
Für den Juristen begann eine Odyssee: Zehnmal
habe er beim ärztlichen Bereitschaftsdienst angeru-
fen, doch die Nummer sei immer besetzt gewesen.
Seine Frau kontaktierte die Hausärztin, doch die
wollte Henn nicht in der Praxis haben. Das Kran-
kenhaus lehnte ihn ab, weil dort Schutzausrüstung
fehlte. Erst vier Tage nach seiner Rückkehr fand er
doch noch eine Praxis, die ihn testen wollte. „Ich
musste mich auf den Balkon der Praxis stellen, die
Ärztin kam über die Feuerleiter.“ Sie schrie ihn an,
dass er sich auf keinen Fall umdrehen und mit ihr
sprechen solle. Nun wartet Henn in Quarantäne
auf das Testergebnis.
Auch viele Ärzte fühlen sich im Stich gelassen.
Laut einer Umfrage des Ärzte-Netzwerks Coliquio
sind knapp 40 Prozent der Mediziner der Ansicht,
dass relevante Informationen nicht bei ihnen an-
kommen. Coliquio befragte mehr als 1 000 Medizi-
ner aus Kliniken und Praxen. Konkret wünschen
sich die Ärzte spezielle Versorgungszentren, bei de-
nen Verdachtsfälle getestet und Infizierte nach ei-
ner Ersteinschätzung behandelt werden können.
Auch an der Ausstattung hapert es: Über die Hälfte
der Befragten gab an, dass es an Schutzausrüstung
und Desinfektionsmitteln fehle. Bei weiteren 30
Prozent geht der Vorrat zur Neige.

„Die Belastungen sind extrem“, sagt Jürgen Zas -
trow. Der Kölner Kreischef der Kassenärztlichen
Vereinigung Nordrhein (KVNO) hat selbst eine
HNO-Praxis. Auch dort hat sich der Alltag durch
Corona bereits verändert: „Wir versuchen nur
noch, Menschen zu beruhigen.“ Viele schon am Te-
lefon, damit sie gar nicht erst in die Praxis kom-
men. Andere fordern vehement einen Abstrich.
„Wir können nicht mehr jeden Wunsch der Patien-
ten bedienen“, erklärt Zastrow. Der ärztliche Beruf
werde in dieser Krise neu definiert: „Wir müssen
priorisieren und selektieren, das haben wir bisher
nicht gemacht.“ Einen Arzt könne man immer nur
einmal einsetzen: Entweder er behandle Patienten


  • oder er mache Abstriche. „Das beste Gesund-
    heitssystem kann nicht funktionieren, wenn eine
    ganze verunsicherte Gesellschaft plötzlich Abstri-
    che fordert“, sagt Zastrow. Diese „Volkspanik“ bin-
    de Kapazitäten, die wir „eigentlich für die Patien-
    ten brauchen“ – für Risikopatienten, für Menschen
    ab 80 Jahren, für solche mit Vorerkrankungen. Wie
    viele Menschen sich in Deutschland auf das Virus
    haben testen lassen, wird bislang nicht zentral er-
    fasst. Doch allein im ambulanten Sektor waren es
    vergangene Woche nach Angaben der Kassenärztli-
    chen Bundesvereinigung 35 000. Dazu kommen
    die Tests in Kliniken und Gesundheitsämtern.
    Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesell-
    schaft, Gerald Gaß, rechnet mit einer vollen Auslas-
    tung der 28 000 Intensivbetten in der Krise. Weite-
    re Kapazitäten würden durch die Verschiebung


Alarmsignale im


Gesundheitssystem


Die medizinische Versorgung droht in der Coronakrise an ihre Grenzen zu stoßen.


Hilfesuchende hängen in Warteschleifen, Krankenhäuser verschieben Operationen.


Die Jahrhundertepidemie offenbart Schwachstellen.


Corona-Ambulanzen in
Stuttgart und Bremen:
Die Standardabläufe
funktionieren nicht mehr.

imago images/Arnulf Hettrich, dpa(2), epd

Ich musste


mich auf den


Balkon der


Praxis stellen,


die Ärztin


kam über die


Feuerleiter.


Ischgl-Urlauber

Titelthema


Die Folgen der Coronakrise


MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
4

Gerald Gaß

„Wir sind besser


vorbereitet als Italien“


Als Präsident der Deutschen Kran-
kenhausgesellschaft vertritt Gerald
Gaß die Interessen von 2 000 Klini-
ken. Er klagt: Die Unterfinanzierung
der vergangenen Jahre erschwere die
Reaktion auf die Corona-Epidemie.

Herr Gaß, wann ist die Kapazitäts-
grenze der Krankenhäuser in der
Coronakrise erreicht?
Wir haben in Deutschland
rund 28 000 Intensivbet-
ten und 20 000 Beat-
mungsgeräte. Diese
Betten sind zu rund
80 Prozent belegt.
In der Krise werden
wir zur einhundert-
prozentigen Auslas-
tung kommen. Des-
halb ist es wichtig,
dass wir ab sofort plan-
bare Eingriffe verschieben.

Droht uns eine Entwicklung mit vie-
len Todesfällen wie in Italien?
Wir sind besser vorbereitet als Ita-
lien, weil bei uns früher getestet
wurde und die Eindämmung der In-
fektionen früher begonnen hat. Da-
mit haben wir Zeit gewonnen. Die
extreme Situation in Italien liegt vor
allem an den sehr geringen Intensiv-
kapazitäten. Auch hier hat Deutsch-
land eine deutlich bessere Aus-
gangslange. Ob das aber reicht,
hängt vom Verlauf des Infektionsge-
schehens ab.

Wenn jetzt planbare Eingriffe ver-
schoben werden: Von welchen Pa-
tienten sprechen wir da?
Einzelne Beispiele aufzuführen ist
immer schwierig, aber klar ist: Pa-
tienten, die sich eine krumme Nasen-
scheidewand richten lassen wollen,
können sicherlich warten. Das gilt
auch für Patienten, die eine Hüftpro-
these erhalten sollen, die aber mit
gewissen Einschränkungen in ihrer
Mobilität noch einige Wochen oder
Monate warten können. Die Ent-
scheidung, bei welchen Patienten
Operationen und Behandlungen ver-
schoben werden können, müssen die
Ärzte in den Kliniken treffen. Wie
viele Patienten betroffen sein wer-
den, kann man derzeit nicht abschät-
zen. Dazu ist die Entwicklung viel zu
schnell und wechselhaft.

Haben Coronapatienten denn auto-
matisch Vorrang?
Nein. Entscheidende Kriterien sind,
wie lebensbedrohlich und behand-
lungsnotwendig die Erkrankung ist.
Ich möchte ausdrücklich betonen,
dass zum Beispiel Krebspatienten
keine Sorgen haben müssen, dass ih-
re geplante Operation nicht stattfin-
det. Überhaupt muss kein Patient,
der schwer erkrankt ist, die Sorge ha-
ben, dass er eine notwendige Be-
handlung nicht erhält.

Kliniken fürchten Finanzprobleme
durch den Fokus auf Coronapatien-
ten. Drohen Insolvenzen?
Jetzt geht es um den Schutz der Be-
völkerung und um die Versorgung
der Menschen. Darauf konzentrieren
wir alle unsere Kräfte. Die Gefahr
von Insolvenzen aufgrund der derzei-
tigen Lage muss definitiv ausge-
schlossen werden. Wir vertrauen da-
rauf, dass der Schutzschirm,
den Kanzlerin und Gesund-
heitsminister angekündigt
haben, wirklich umfas-
send sein wird und vor
allem unbürokratisch
und schnell die Liqui-
dität der Krankenhäu-
ser sichert.

Wie sollte dieser Schutz-
schirm denn aussehen?
Wichtig ist, dass die Unter-
stützung bei allen Kliniken an-
kommt. Denn ausnahmslos alle Kran-
kenhäuser beteiligen sich bereits am
Kampf gegen die Corona-Epidemie,
der in den kommenden Wochen
noch intensiviert werden muss. Es
darf auf keinen Fall zu einem Klein-
Klein zwischen einzelnen Kranken-
kassen und Krankenhäusern darüber
kommen, welche Kosten in welcher
Form erstattet werden.

Hätte Deutschland besser auf die
Krise vorbereitet sein können?
Es ist momentan nicht die Zeit für
Schuldzuweisungen oder abschlie-
ßende Analysen. Aber klar ist: Wegen
fehlender Finanzierung durch die
Bundesländer sind Investitionen in
Krankenhäuser ausgeblieben. Das
macht es mit Sicherheit nicht leich-
ter, jetzt diese Krise zu überstehen.

Zuletzt war immer von einer Über-
versorgung im Klinikbereich die Re-
de, Krankenkassen forderten die
Schließung schwach ausgelasteter
Häuser. Wird die Debatte nach der
Coronakrise anders verlaufen?
Ich bin überzeugt, dass der Blick auf
die Bedeutung der Krankenhäuser
nach dieser Krise ein anderer sein
wird. Krankenhäuser sind ein funda-
mentaler Bestandteil der Daseinsvor-
sorge. Die Bevölkerung muss sich
auch in Krisenzeiten auf die Gesund-
heitsversorgung verlassen können.
Hier wurde in den letzten Jahren
vonseiten der Politik denjenigen zu
viel Aufmerksamkeit geschenkt, die
Krankenhäuser nur nach statisti-
schen Kennzahlen für Schönwetter-
perioden planen. Bei planvollen und
zielgerichteten Strukturänderungen
sind wir gesprächsbereit. Aber wir
müssen davon weg, dass stationäre
Versorgung nur als Belastung und als
Kostenfaktor angesehen wird.

Die Fragen stellte Gregor
Waschinski.

Der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft sieht Kliniken
dennoch vor großen Herausforderungen durch die Coronakrise.

DKG

planbarer Operationen geschaffen. Gaß kritisiert,
dass die für die Krankenhäuser zuständigen Bun-
desländer nicht genug in den stationären Sektor in-
vestiert hätten. „Das macht es mit Sicherheit nicht
leichter, jetzt diese Krise zu überstehen“, sagt er.
In der Coliquio-Umfrage glaubt nur ein Drittel
der Klinikärzte, dass ihr Haus personell und orga-
nisatorisch auf eine Pandemie vorbereitet sei.
Knapp 38 Prozent sehen dagegen einen Mangel.
Die übrigen Teilnehmer können die Lage noch
nicht bewerten. Das Land Berlin reagierte am
Dienstag auf drohende Engpässe: Auf dem Messe-
gelände der Hauptstadt soll ein temporäres Covid-
19-Krankenhaus mit bis zu 1 000 Betten entstehen.
Alle anderen Kliniken sollen derweil ihre Kapazitä-
ten für intensivmedizinische Behandlungen erwei-
tern.
Auch den Zivilschutz hat der Staat seit einiger
Zeit vernachlässigt. „Nach dem Ende des Kalten
Kriegs meinten in den Neunzigerjahren viele, da-
rauf verzichten zu können“, sagt Gerda Hasselfeldt,
Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes. „Heute
wissen wir, dass wir angesichts unerwarteter Krisen
wie Pandemien, Cyberattacken oder Naturkatastro-
phen wieder mehr Vorsorge treffen müssen.“ Es ge-
he nicht nur um Atemschutzmasken oder Schutz-
ausrüstungen, die in der Coronakrise knapp wer-
den. Die Bundesrepublik müsse grundsätzlich
wieder mehr Medikamente, Zelte, Feldbetten, Hy-
gieneartikel und andere Ausrüstung für die Versor-
gung der Bevölkerung in Krisenfällen vorhalten.

Zuständigkeiten an den Bund?
In Notfällen steht die Bundeswehr bereit, sie kann
auf Bitten der Behörden vor Ort Amtshilfe leisten.
Doch auch für die Streitkräfte komme es jetzt erst
einmal darauf an, die eigenen Krankenhäuser für
mehr Coronapatienten umzurüsten, sagte ein
Sprecher des Verteidigungsministeriums. „Wir tun,
was alle Krankenhäuser tun: Wir schaffen Platz auf
den Intensivstationen, indem wir geplante Opera-
tionen verschieben. Und wir richten vor allem zu-
sätzliche Beatmungsplätze ein.“
Große Verantwortung im Kampf gegen das Virus
tragen die örtlichen Gesundheitsämter, die sind
aber unterschiedlich für die Notlage gerüstet. Da-
her fordert Uwe Lübking, Gesundheitsexperte
beim Deutschen Städte- und Gemeindebund: „Im
Rahmen des Katastrophenschutzes müssen wir da-
rüber diskutieren, Zuständigkeit vielleicht noch
stärker beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz
zu bündeln und besser aufeinander abzustimmen.“
Epidemien erfordern schnelle Entscheidungen
und klare politische Führung. Damit tut sich
Deutschland schwer. Das Grundgesetz verteilt die
Kompetenzen des Staats auf Bund und Länder. Der
Föderalismus hat in Deutschland eine lange Tradi-
tion, in der Theorie soll er Bürgernähe garantieren.
Doch in Krisenzeiten ist das Kompetenzgeflecht ein
Hindernis. Die Kanzlerin kann Krisenkonferenzen
mit den Ministerpräsidenten einberufen, ihr Ge-
sundheitsminister kann Empfehlungen ausspre-
chen. Doch die Umsetzung der wichtigsten Maß-
nahmen obliegt den Ländern. Das Ergebnis ist ein
gesundheitspolitischer Flickenteppich. Bayern ruft
den Katastrophenfall aus, Nordrhein-Westfalen da-
gegen ließ die Spielplätze noch bis Dienstag offen –
um sich dann schließlich doch der Empfehlung
von Kanzlerin Merkel anzuschließen. Dafür hält
Berlin die Spielplätze offen. Es entsteht der Ein-
druck, dass in der Krise jeder macht, was er will.
Auch die Meldeketten zwischen den verschiede-
nen Behörden und den Krankenhäusern haben Lü-
cken. Die Intensivfälle werden in Deutschland bis-
lang nicht umfassend kommuniziert. Dabei ist ge-
nau das die entscheidende Kennziffer für die
kommenden Wochen. Zusammen mit der Zahl der
freien Intensivbetten gibt sie Aufschluss darüber,
wo Engpässe entstehen. Nach Ansicht der Deut-
schen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-
und Notfallmedizin (DIVI) ist der Föderalismus in
einer Krise wie der Corona-Epidemie ein Störfak-
tor. „Wir haben keinerlei zentrale Erfassung von
Daten aus den Krankenhäusern“, sagte eine Spre-
cherin. In jedem Bundesland sei das anders gere-
gelt. Am Dienstag startete das DIVI ein Onlineregis-
ter, in dem Kliniken ihre Zahlen eintragen sollen.
Allerdings: alles auf freiwilliger Basis. Moritz Koch,
Donata Riedel, Maike Telgheder, Gregor Waschin-
ski, Christian Wermke

Kanzlerin Merkel mit Gesundheits-
minister Spahn: In der Krise ist das
Kompetenzgeflecht ein Hindernis.

Polaris/laif

Das beste


Gesundheits -


system kann


nicht funk -


tionieren,


wenn eine


ganze


verunsicherte


Gesellschaft


plötzlich


Abstriche


fordert.


Jürgen Zastrow
Kassenärztliche
Vereinigung Nordrhein

Die Folgen der Coronakrise


MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
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