Handelsblatt - 18.03.2020

(Sean Pound) #1
Martin Buchenau Stuttgart

W


er bei „Flip“ anfängt, darf sich
eine Pflanze aussuchen. Die
kommt neben seinen Compu-
ter, und der oder die Neue
muss sich dann auch darum
kümmern − sprich gießen. „Das klappt gut, hilft
dem Raumklima und ist ein schöner Kontrast zur
virtuellen Welt in den Bildschirmen“, sagt Benedikt
Ilg. Der 27-Jährige hat vor zwei Jahren das Start-up
„Flip“ gegründet. Der englische Firmenname be-
deutet „umdrehen“ gemeint ist: umdenken. Ilg
möchte, dass die Kommunikation in Unternehmen
grundlegend anders läuft. So wie bei WhatsApp im
Privaten nur eben rechtssicher über alle Ebenen
hinweg vernetzt. Investoren haben den Gründern
im Februar 3,6 Millionen Euro anvertraut. Darun-
ter sind Business-Angels wie der BASF-Aufsichts-
ratsvorsitzende Jürgen Hambrecht oder Kurt Lauk,
Oberaufseher des Zuliefergiganten Magna Interna-
tional.
Mit der Beschaulichkeit in den Räumlichkeiten
ist es seit vergangenem Freitag vorbei, seit klar ist,
dass in fast allen Unternehmen wegen des Corona-
virus Homeoffice angesagt ist. Die Firmen suchen
händeringend nach Möglichkeiten, ihre Mitarbeiter
zeitnah zu erreichen oder, wenn man die gut ge-
füllten Straßencafés in der Stuttgarter Innenstadt
bei Sonne und 20 Grad sieht, ihrer überhaupt hab-
haft zu werden. „Es geht bei uns ab wie Schmidts
Katze. Das Telefon steht nicht mehr still“, sagt Ilg.
Derzeit hat Flip 30 Leute. In diesem Jahr soll sich
die Belegschaft verdoppeln. Brauchen könnte Ilg
die Spezialisten alle schon jetzt. Hin- und hermai-

len über die eigenen Server ist zwar für die Unter-
nehmen relativ sicher, war aber schon vor dem
Ausbruch des Coronavirus kompliziert und zeitauf-
wendig. Flip ist ein WhatsApp für Firmen. In Unter-
nehmen sind allerdings in der Regel Messenger-
dienste sozialer Medien aus Sicherheitsgründen für
die interne Kommunikation verboten. Es geht ja
schließlich auch um Firmengeheimnisse, die Mitar-
beiter austauschen.
„Wir haben das Sicherheitsproblem gelöst“, ver-
sichert Benedikt Ilg. Die Anwendung basiere auf ei-
nem DSGVO-konformen Daten- und Arbeitnehmer-
schutz-Konzept, das mit Experten und Betriebsrä-
ten mehrerer Dax-Konzerne gemeinsam validiert
worden sei. Auch die „Junge IG Metall“ zählt zu
den Kunden. Ein Unternehmen kann mit Flip alle
Mitarbeiter simultan erreichen, auch wenn sie wie
Produktions- oder Logistikkräfte sowie Außen-
dienstler nicht am PC sitzen, sondern nur ihr Mo-
biltelefon haben oder eben wie derzeit flächende-
ckend in der Heimbüro-Quarantäne arbeiten.
2018 gründeten Benedikt Ilg und Giacomo Kenner
Flip in einem sogenannten Coworking-Space mit
dem hippen Namen „Code_n Spaces“ im eher tris-
ten Stuttgarter Industriegebiet Fasanenhof, wo
Start-ups und erfahrene Wirtschaftslenker ihre Bü-
ros Tür an Tür haben. Austausch durchaus er-
wünscht. Wertvolle Hinweise kamen von der Zim-
mernachbarin und heutigen Thyssen-Krupp-Chefin
Martina Merz. Vor ihrem Fulltime-Engagement bei
dem krisengeschüttelten Stahlkonzern hatte sie ihr
Büro als Berufs-Aufsichtsrätin direkt neben dem
Start-up. Man kam sich näher. „Frau Merz hatte sehr

gute Tipps für uns“, welche, verrät Ilg nicht. „Wir
wuchsen so schnell, dass wir keine Zeit hatten, uns
um neue Büroräume zu kümmern. Ehe wir uns ver-
sahen, nahmen wir langsam, aber sicher das Büro
von Martina Merz ein. Aus der Übernahme des Ar-
beitsplatzes entwickelte sich schließlich ein freund-
schaftliches Verhältnis und aus einer Büronachbarin
wurde meine Mentorin“, erzählt der Flip-Gründer.
Aus den besten Funktionalitäten der beliebtes-
ten Social-Media-Apps bastelten die beiden Grün-
der ihre Unternehmens-App. Auf die Plattform kön-
nen auch Personalsachen gepackt werden wie Rei-
seabrechnungen oder Krankmeldungen. Dabei hat
jeder Mitarbeiter ein eigenes Profil und ist wie bei
Facebook in einer Gruppe, die Informationen und
Dokumente austauscht. Es gibt auch die Möglich-
keit zu direkter Kommunikation mit nur einer Per-
son. Anders als bei anderen Systemen kann die
Kommunikation nicht von Vorgesetzten eingese-
hen werden. Genauso wie die Vorstandsgruppe
auch sicher vor unbefugtem Zugriff ist.
Die Idee ist natürlich nicht neu. Große US-Kon-
kurrenten wie Microsoft mit Team oder auch Slack
sind schon auf dem Markt. Slack hat von Investo-
ren bereits über eine Milliarde Euro eingesammelt.
Die Kalifornier haben erst vor wenigen Monaten ei-
ne Niederlassung in München gegründet, um den
deutschen Mittelstand mit seinen Familienunter-
nehmen aufzurollen. Aber Ilg lässt sich nicht ein-
schüchtern. Er hat Argumente, die im deutschen
Mittelstand verfangen: „Bei uns ist alles in Deutsch-
land gehostet, um optimalen Datenschutz gewäh-
ren zu können.“
Die Geschäftsidee kam Ilg, als er ein duales Stu-
dium bei Porsche absolvierte. „Die interne Kom-
munikation muss doch besser gehen“, dachte Ilg
sich damals und begann mit seinem Kumpel Giaco-
mo Kenner zu programmieren. Schnell war klar,
dass er die Selbstständigkeit einer sicheren Kon-
zernkarriere vorzieht. Porsche ist erster und noch
immer wichtiger Kunde von Flip. Inzwischen ver-
trauen auch Edeka, Bauhaus und Wüstenrot auf die
Schwaben. Auch die Deutsche Telekom gehört zu
den Partnern. „Wir freuen uns, Flip in unserem
Techboost-Programm zu haben, und bekommen in
allen Innovationsworkshops mit unseren Kunden
ein sehr positives Feedback über Team und Lö-
sung“, betont Matthias Schievelbusch von der
Deutschen Telekom.
Die entwickelte Standardlösung wird innerhalb
einer Woche an die Kundenwünsche angepasst,
dann folgt eine Testphase von zwei bis vier Mona-
ten. „Bislang führen dann fast alle Unternehmen
Flip ein“, sagt Ilg. Die App wird als Abonnement
verkauft und wird pro Nutzer abgerechnet, mit
Großkundenrabatt versteht sich. Den genauen Um-
satz will Ilg aber nicht verraten. Aber er lag wohl
deutlich über einer halben Million Euro im vergan-
genen Jahr – Tendenz stark steigend. Die Hauptin-
vestoren sind neben den Business-Angels LEA Part-
ners und Cavalry Ventures gemeinsam mit Plug
and Play Ventures. „Wir sind überzeugt, dass Flip
mit seinem sicheren, leichten und äußerst leis-
tungsfähigen Produkt neue Maßstäbe in diesem
noch jungen Markt setzt“, sagt Claude Ritter von
Cavalry Ventures.
Den Umzug in größere Büroräume in Stuttgarts
City hat Ilg dieser Tage spontan vorgezogen. „Wir
wollten erst im April umziehen, aber wegen Coro-
na dachten wir, das klappt vielleicht dann nicht
mehr“, sagt Ilg. Sein Instinkt gab ihm recht. Seit
heute arbeiten seine Leute allerdings nicht im neu-
en Büro, sondern im Homeoffice und natürlich alle
verbunden mit Flip. Die offene Frage: Wer gießt
jetzt die Pflanzen?

Benedikt Ilg


Flip oder Flop


Erfahrene Industrieführer wie BASF-Aufsichtsratschef Hambrecht


trauen dem Start-up zu, das WhatsApp für Unternehmen zu werden.


Die Nachfrage jedenfalls steigt gerade in Zeiten von Homeoffice.


Die Flip-Gründer: Benedikt Ilg (re.) und Giacomo Kenner saßen Tür an Tür mit der aktuellen Thyssen-Krupp-Chefin Martina Merz.

Flip

Es geht bei


uns ab wie


Schmidts


Katze. Das


Telefon steht


nicht mehr


still.


Benedikt Ilg
Flip-Gründer und CEO

Familienunternehmen


des Tages


MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
44

Valeska Benner:
Bis zu 40 000
Euro pro notlei-
dendem Laden-
besitzer.

Sportmarken 24

Valeska Benner

Nothelferin der


Sporthändler


Die Gründerin des
Onlineshops Sportmarken24
hilft Ladenbesitzern mit
zinslosen Darlehen durch die
Coronakrise.

Joachim Hofer München

N


ichts geht mehr in den meis-
ten deutschen Sportgeschäf-
ten. Für viele Kaufleute ist
die Corona-Epidemie eine Katastro-
phe. Um die Händler zu unterstüt-
zen, schlägt Valeska Benner jetzt ei-
nen ungewöhnlichen Weg ein. Die
Gründerin des Onlineshops Sport-
marken 24 vergibt zinslose Darlehen
an Ladenbesitzer, denen das Geld
ausgeht.
„Die Auszahlung wird pragmatisch
lediglich mit einem Minimum an Ver-
tragstext abgewickelt, um sofort zu
helfen, wo notwendig“, sagt die Un-
ternehmerin aus Wiesbaden. Am
Freitagnachmittag hat die 35-Jährige
das Angebot allen Händlern unter-
breitet, mit denen sie zusammenar-
beitet. Am Montag sei bereits die ers-
te Überweisung rausgegangen, freut
sich Benner.
Mit dem Start-up Sportmarken 24
ist die ehemalige Unternehmensbera-
terin vor zwei Jahren angetreten,
Händlern vor Ort den Weg ins Inter-
net zu bahnen. Denn viele Ladenbe-
sitzer stehen schon in normalen Zei-
ten schwer unter Druck. Benner er-
möglicht Geschäftsinhabern, ihre
Bestände auf Internetmarktplätzen
zu präsentieren. Vorbild ist Schuhe
24, eine Firma ihres Mannes Dominik
Benner mit einem ähnlichen Konzept
für Schuhgeschäfte.
„Für Händler ist es ein enormer
Aufwand, das Onlinegeschäft selbst
zu betreiben“, sagt die Allgäuerin. Sie
bietet Ladenbesitzern daher ein IT-
System an, mit dem diese ihre Ware
einfach auf allen großen Onlineplatt-
formen verkaufen können. Unter
dem Namen Sportmarken 24 tau-
chen die Angebote auf Marktplätzen
von Amazon über Ebay bis Real auf.
„Für die Geschäftsinhaber besteht
kein Risiko, und sie müssen kaum
Geld in die Hand nehmen.“

Nun aber fürchtet sie, dass viele ih-
rer Partner die Krise nicht überleben
werden. Jeder Händler, der Liquidität
benötige, bekomme daher von ihr
für den Zeitraum von zwei Monaten
ein zinsloses Darlehen in Höhe des
Umsatzes, den der Händler im letz-
ten Monat über ihre Software erzielt
hat. Diese liegen zwischen 2 000 und
40 000 Euro. „Dies deckt zwar in kei-
ner Weise die wegbrechenden Um-
sätze, sollte den Händlern aber zu-
mindest helfen, die laufenden Kosten
wie Miete und Personalkosten teil-
weise zu decken“, sagt Benner.
Benner ist mit ihrer Firma liquide,
sie hat einige Investoren als Gesell-
schafter und verfügt über Kreditlini-
en. Diese will sie dafür verwenden,
den Händlern zu helfen. Benner:
„Schließlich sind wir an langfristigen
Partnerschaften mit jedem einzelnen
Händler interessiert und haben
nichts davon, wenn nun eigentlich
solide und gut aufgestellte Händler
aufgrund des Coronavirus Insolvenz
anmelden müssen.“ Darüber hinaus
will sie weitere Händler über ein
Schnellverfahren an ihr System an-
gliedern. So könnten diese, während
die stationären Umsätze ausbleiben,
zumindest im Netz verkaufen.

Versand geht immer
Rainer Wolf war einer der Ersten, der
bei Sportmarken 24 mitgemacht hat.
Weil sich der Eigentümer von vier
Sportläden im Raum Ulm einen eige-
nen Onlinestore nicht leisten kann,
sah Wolf in der Plattform die Chance,
am boomenden Internethandel teil-
zunehmen. „Das funktioniert sehr
gut und reibungslos“, beteuert Wolf.
Vergangenes Jahr schloss Benner
auch einen Vertrag mit der Händler-
vereinigung Intersport, um deren
Mitglieder leichter anzubinden.
Der Onlinehandel laufe bislang
weitgehend reibungslos, versichert
Benner. Ihr eigenes Unternehmen
lasse sich notfalls aus dem Homeof-
fice führen, und die Händler könnten
die Pakete auch bei geschlossenen
Läden verschicken. Nur die Logisti-
ker von DHL und DPD dürfen nicht
ausfallen. Irgendjemand muss die
Sendungen schließlich liefern.

Die Achterbahnen stehen


Im November erst hat Roland Mack, 70, „Ru-
lantica“ eröffnet. Rund 200 Millionen Euro
hat der Chef und Gesellschafter des Europa-
Parks in Rust in das Spaßbad mit angeschlos-
senem Luxushotel gesteckt. Seit Anfang der
Woche steht die Wellenmaschine still, und
auch die Wasserrutschen bleiben trocken. We-
gen des Coronavirus ist „Rulantica“ bis min-
destens Mitte April geschlossen. Die Tore im
benachbarten Europapark wird Mack nach
der Winterpause gar nicht erst öffnen. Ur-
sprünglich sollten die Achterbahnen in
Deutschlands besucherstärkstem Freizeitpark
von Ende März an wieder rollen. Doch daraus
wird nun nichts. Die Epidemie bremst die Ba-
dener aus. Am Dienstag kündigte zudem auch
Ravensburger an, sein Spieleland unweit des
Bodensees voraussichtlich erst am 1. Mai zu
öffnen. Dafür werde die Saison aber ohne Ru-
hetage bis zum 4. November dauern, so das
Familienunternehmen. Joachim Hofer

Mit KI gegen Covid-19


Gunjan Bhardwaj, Gründer und Chef des auf
Medikamentenforschung spezialisierten KI-
und Datenanalyse-Unternehmens Innoplexus,
will Forschern weltweit helfen, schneller Tests
und Therapien gegen das neuartige Coronavi-
rus zu entwickeln. Deshalb macht er seine KI-
basierte Suchplattform nun zeitweise öffent-
lich verfügbar. Innoplexus beobachtet und
verfolgt nach eigenen Angaben in Echtzeit alle
wichtigen Erkenntnisse und Veröffentlichun-
gen zum Thema. „Wir möchten einen aktiven
Beitrag zu den Bemühungen der wissenschaft-
lichen Community leisten, die mit Hochdruck
daran arbeitet, zu verstehen, wie die Krank-
heit funktioniert und sich ausbreitet“, sagt der
36-jährige Unternehmer, dessen Firma ihren
Hauptsitz in Eschborn bei Frankfurt hat. Zu-
dem will der gebürtige Inder ein Dashboard
im Internet zur Verfügung stellen, das über al-
le weltweit relevanten Entwicklungen zu Co-
vid-19 informieren soll. Maike Telgheder

IN KÜRZE


























 
 
 

  
 

 

    
 
  

 


Familienunternehmen des Tages


MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
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