Handelsblatt - 18.03.2020

(Sean Pound) #1
Ruth Berschens, Till Hoppe, Moritz Koch,
Donata Riedel Brüssel, Berlin

E


uropa macht dicht. Bürger aus Drittlän-
dern dürfen ohne zwingenden Grund
nicht mehr in die EU einreisen. So hat-
te es die EU-Kommission am Montag
empfohlen, und so wurde es einen Tag
später von den EU-Regierungschefs abgenickt – ei-
ne beispiellose Entscheidung in der Geschichte der
europäischen Staatengemeinschaft. Im Kampf ge-
gen Covid-19 wird manches möglich, was vor dem
Ausbruch der Pandemie vollkommen undenkbar
gewesen wäre.
Der Einreisestopp gilt zunächst für 30 Tage und
erfasst neben den 27 EU-Staaten vier weitere Län-
der, die dem Schengenraum angehören: Norwe-
gen, die Schweiz, Liechtenstein und Island. Voll-
kommen undurchlässig werden die Außengrenzen
der insgesamt 31 europäischen Länder damit aber
nicht: Briten dürfen weiterhin ohne Einschränkun-
gen einreisen, weil das Vereinigte Königreich dem
europäischen Binnenmarkt noch bis Ende 2020
angehört. Ausnahmen vom Einreisestopp gibt es
zudem für Berufspendler, Lkw-Fahrer, Ärzte und
Pflegekräfte sowie für Menschen mit einer EU-Auf-
enthaltsgenehmigung. Sie müssen allerdings auf
das Virus getestet werden, bevor sie einreisen.
Die Schließung der Außengrenzen ist in der EU
weitgehend unstrittig. Anders sieht es mit der Fra-
ge aus, was an den Binnengrenzen geschieht. Meh-
rere Mitgliedstaaten hatten sich gegen Nachbarlän-
der abgeschottet, ohne sich mit den europäischen
Partnern abzustimmen. Das hat sich inzwischen
zwar geändert. Acht Staaten haben ihre Grenzkon-
trollen innerhalb der EU mittlerweile ordnungsge-
mäß in Brüssel angemeldet: Österreich, Dänemark,
Polen, Deutschland, Tschechien, Ungarn, Litauen
und Estland. Problematisch bleiben die Einreisebe-
schränkungen gleichwohl, denn sie behindern
mancherorts massiv den Warentransport im euro-
päischen Binnenmarkt.

Industrie spürt erste Auswirkungen
Das gilt insbesondere für die deutsch-polnische
Grenze. Dort stauten sich Pkws und Lkws am
Dienstag auf 40 Kilometern. Die polnischen Behör-
den würden alle Einreisewilligen unterschiedslos
für zwei Wochen in Quarantäne stecken, klagte ein
EU-Diplomat. Im- und Exporte würden so massiv
behindert. Außerdem kämen durchreisende Bür-
ger baltischer Staaten nun nicht mehr nach Hause.
Auch an der Grenze zwischen Österreich und Ita-
lien hatten Kontrollen zu langen Staus geführt.
Das Thema sollte am Dienstagabend bei einer Vi-
deokonferenz der EU-Regierungschefs besprochen
werden. Bereits vorab warnte die EU-Kommission
die Mitgliedstaaten eindringlich davor, den Güter-
verkehr im Binnenmarkt zu gefährden. Die Behör-
den sollten sogenannte „grüne Korridore“, für
Lkws reservierte Fahrspuren, an den Grenzen ein-
richten. Verkehrskommissarin Adina Valean will
am Mittwoch mit den zuständigen Ministern per
Videokonferenz beraten, wie diese umgesetzt und
andere Hindernisse für den Güterverkehr beseitigt
werden können.
Die Industrie bekommt bereits erste Auswirkun-
gen der Verkehrsbehinderungen im Binnenmarkt
zu spüren. Die Maschinenbauer etwa registrieren
bereits Störungen ihrer weltweiten Lieferketten.
Knapp 60 Prozent der Betriebe verzeichneten Be-
einträchtigungen, wie aus einer Umfrage des Bran-
chenverbands VDMA unter etwa 1 000 Firmen her-
vorgeht. Noch würden sie überwiegend als gering
bis mittel eingestuft, doch der Trend weise nach
oben. Vor allem bei Importen aus Italien und China
gebe es Probleme.
Die Kontrollen an den Binnengrenzen seien eine
„unterschätzte Gefahr“ für die deutsche Wirt-
schaft, warnte IfW-Präsident Gabriel Felbermayr im
Gespräch mit dem Handelsblatt. „Mehr als die Hälf-
te“ der Vorleistungen für deutsche Produkte kä-
men aus anderen EU-Staaten. Nach Ansicht des
Ökonomen ergeben die Grenzkontrollen innerhalb
der EU keinen Sinn. „Sie binden extrem viel Perso-
nal bei der Polizei. Und sie sind zu wenig zielgenau,
um die Verbreitung des Virus einzudämmen“, so

Nach außen


dicht, innen


offen


Die Europäische Union schließt ihre Außengrenzen


für Bürger aus Drittstaaten. Ihre Binnengrenzen


will die EU unbedingt für den Warenverkehr offen


halten – doch das gelingt nicht überall.


Deutsche Grenze zu Polen:
Viele Binnenübergänge sind
gesperrt, aber für den Wa-
renverkehr offen.

action press [M]

Wirtschaft


& Politik


MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
6

Felbermayr. Er hält es für besser, „die Gebiete mit
hohen Infektionsraten abzusperren“. Der europäi-
sche Fluggesellschaftsverband A4E fordert bereits
einheitliche EU-Bestimmungen, die Besatzungsmit-
glieder von Frachtflugzeugen von den Einreisebe-
schränkungen ausnehmen.
Die Praxis sei in den einzelnen Ländern derzeit
sehr unterschiedlich, heißt es in einem offenen
Brief des Verbands an die EU-Verkehrsminister. Die
Luftfahrtunternehmen täten derzeit alles, um auch
Länder weiter zu beliefern, die wie Italien oder
Spanien die Bewegungsfreiheit weitgehend einge-
schränkt hätten.
Die Schließung der EU-Außengrenze hat auch
zur Folge, dass deutsche Touristen und Geschäfts-
reisende aus Drittländern zurückkehren müssen.
Die deutsche Regierung plant eine „konzertierte
Rückholaktion“. „Wir werden alles dafür tun, den
Tausenden Deutschen, die im Ausland gestrandet
sind, eine Rückkehr nach Deutschland zu ermögli-
chen“, kündigte Bundesaußenminister Heiko Maas
(SPD) an. Dafür werden 50 Millionen Euro zur Ver-
fügung gestellt.
Zugleich bemüht sich die Bundesregierung auch
darum, Bundesbürger an Auslandsreisen zu hin-
dern. Das Auswärtige Amt erließ eine Reisewar-
nung für gleich alle Staaten. „Wir müssen davon
ausgehen, dass der weltweite Passagierverkehr auf
absehbare Zeit auf ein sehr niedriges Niveau zu-
rückgehen wird“, erläuterte Maas. Er rief die Bür-
ger dazu auf, bis auf Weiteres generell auf Reisen zu
verzichten: „Bitte bleiben Sie zu Hause, das hilft Ih-
nen und anderen.“
Besonders viele deutsche Touristen sitzen in Ma-
rokko fest. Es gehe um 4 000 bis 5 000 Personen,
sagte Maas. „Dort müssen wir schnell handeln“,
betonte der Außenminister, erste Rückführungsflü-
ge seien schon organisiert worden, die Anstrengun-
gen sollten in den nächsten Tagen „forciert“ wer-
den. Auch in der Dominikanischen Republik, auf
den Philippinen, Malediven und in Ägypten warten
Deutsche auf eine Flugverbindung in die Heimat.
Auf der Internetseite des Auswärtigen Amts
können sich die gestrandeten Urlauber über die
Lage informieren. Im Zusammenspiel mit Bot-
schaften und Konsulaten werde die Regierung das
„Menschenmögliche“ tun, um den Betroffenen zu
helfen, könne aber nicht in jedem Fall eine
„24-Stunden-Lösung vorhalten“, so Maas. Maschi-
nen der Bundeswehr kommen derzeit nicht zum
Einsatz. Die Lufthansa übernimmt im Auftrag der
Regierung die Rückholaktion. Ein Mangel an Flug-
zeugen besteht nicht, da der Passagierverkehr
stark eingeschränkt worden ist.
Die Grenzschließungen machen sich auch in der
Balkanregion bemerkbar. Rund 3 500 Rumänen sa-
ßen an der österreichisch-ungarischen Grenze fest,
weil Ungarn die Einreise verweigerte. Rumäniens
Außenminister Bogdan Aurescu bat seinen ungari-
schen Kollegen Peter Szijjarto am Dienstag darum,
den Reisenden die Durchfahrt zu erlauben, wie das
Ministerium am Dienstag mitteilte. Szijjarto habe
versprochen, eine Lösung zu finden.

Grenzkontrollen an den Übergängen zu
Tschechien, der Schweiz und Polen:
Sicherheitskräfte müssen Fiebermessun-
gen durchführen und Reiseziele sowie
-gründe abfragen. Das sorgt unter ande-
rem für lange Staus, die den Güterver-
kehr verlangsamen.

epd, dpa, action press

Warenversorgung

„Noch halten die


Lieferketten“


Die Schließung von Läden
und Restaurants schafft freie
Frachtkapazitäten. Doch
nicht immer sind die Fahrer
dort, wo sie hingehören.

Christoph Schlautmann Düsseldorf

D


rei Stunden und sechs Minu-
ten Lkw-Wartezeit in Basel
bei der Einreise nach
Deutschland, eine Stunde und neun
Minuten beim österreichischen
Grenzübergang Passau, eine Stunde
und zehn Minuten hinter dem franzö-
sischen Straßburg – wer am Montag-
mittag die Telematik-Daten des Soft-
wareanbieters Sixfold im Auge be-
hielt, dem bot sich auf einen Blick ein
konkreter Überblick, was die Grenz-
schließungen innerhalb Europas im
Verkehr anrichten. An Polens Grenze
versagte selbst die Telematik-Vorher-
sage. Schon am frühen Dienstagmor-
gen stauten sich auf der A4 bei Görlitz
Autos und Lastwagen über 20 Kilo-
meter.
Seit am Wochenende die Grenzen
rund um Deutschland aufgrund der
Corona-Pandemie scharf kontrolliert
werden, wächst bei Transport- und
Logistikunternehmern die Sorge um
den internationalen Güterverkehr.
„Noch halten die Lieferketten in den
stark beanspruchten Branchen Le-
bensmitteleinzelhandel und Pharma-
zie“, berichtet Dirk Engelhardt, Vor-
standssprecher beim Bundesverband
Güterkraftverkehr (BGL). „Doch nur
unter einem enormen Einsatz von
Fahrern und Unternehmen.“
Und wohl auch, wie es beim Spedi-
tionsverband DSLV heißt, weil durch
die gesetzlich verordnete Schließung
etwa von Modeläden oder Restau-
rants Frachtkapazitäten frei werden.
Nach dem Beginn der Einreisebe-
schränkungen an der deutschen
Grenze zu Dänemark sei die Situation
entspannt, heißt es bei der Polizei.
Der Verkehr habe merklich abge-
nommen.
Dennoch droht im Lkw-Verkehr
ein sich verschärfender Fahrerman-
gel. „Sobald polnische oder tsche-
chische Fahrer von ihrem Einsatz in
Deutschland nach Hause kommen,
müssen sie in eine zweiwöchige
Quarantäne“, bemängelt DSLV-
Hauptgeschäftsführer Frank Huster.
Zwar seien Erleichterungen der dor-
tigen Behörden zugesagt. „Das funk-
tioniert aber uneinheitlich bis gar
nicht“, kritisiert er.
Als Gegenmaßnahme berät man
beim BGL mit den staatlichen Behör-
den über die Einrichtung von fünf so-
genannten Notfallzentren. Sie sollen
Fahrer etwa vom Hamburger Hafen,
wo nur wenig Fracht aus China ange-
langt, an Lebensmittelhändler wie
Rewe, Aldi oder Lidl vermitteln. „Das
regelt der Markt nicht allein“, glaubt
Engelhardt. Andere Länder reagieren
mit gesetzlichen Erleichterungen. So
hat Österreich bereits die sonst übli-
chen Lenk- und Ruhezeitbestimmun-

gen für Lkw-Fahrer für bis zu 30 Tage
ausgesetzt. In Deutschland werde
über ähnliche Maßnahmen disku-
tiert, heißt es nun beim deutschen
Güterkraftverkehrsverband.
Als Alternative empfehlen sich un-
terdessen die Eisenbahnanbieter. Die
alpenquerende Schweizer Hupac et-
wa, die Frachtcontainer und kom-
plette Lkw-Auflieger transportiert,
fährt nach eigenen Angaben weiter-
hin nach Plan. Das gelte auch für die
mehr als 110 Züge pro Woche im Ita-
lienverkehr.
Auch TX-Logistik in Bad Honnef,
Frachttochter der italienischen
Staatsbahn, fährt nach eigener Aus-
kunft weiterhin europaweit. Die Lage
sei zwar sehr herausfordernd, heißt
es in der Zentrale, aber zurzeit laufe
alles. „Unsere Containerzüge fahren“,
berichtet gleichlautend eine Spreche-
rin der Hamburger Hafengesellschaft
HHLA. Deren Bahntochter Metrans
bietet Verbindungen vor allem nach
Mittel-, Ost- und Südosteuropa.
Freie Kapazitäten gebe es genug,
heißt es beim Netzwerk Europäischer
Eisenbahnen NEE. Im NEE sind die
Privatbahnen organisiert, die rund
die Hälfte aller Gütertransporte auf
der Schiene in Deutschland abwi-
ckeln. In Deutschland gibt es über
200 Terminals, in ganz Europa 1 200
Anlagen, auf denen Container oder
Lkw-Auflieger umgeladen und selbst
ganze Fahrzeuge auf Eisenbahnwag-
gons verladen werden können.

„Luftbrücke“ in Sicht?
Lob für die Logistik gab es am Mon-
tag von VW-Chef Herbert Diess.
„Für uns ist es wichtig, dass die Wa-
renströme offen bleiben“, sagte er
am Telefon. „Das gelang bislang
sehr gut.“
So warnen Logistiker vor Panikma-
che. „Einige Medien schreiben von
‚Luftbrücken‘, um die Versorgung
aufrechtzuerhalten“, monierte eine
Sprecherin der Hamburger Hafenge-
sellschaft HHLA. Dabei habe man
sich gut vorbereitet, um die durch
die Ausbreitung der Coronapande-
mie entstandene außergewöhnliche
Lage zu meistern. „Auf den HHLA-
Anlagen in den Häfen Hamburg,
Odessa und Tallinn ist ein stabiler Be-
trieb gewährleistet“, versicherte Vor-
standschefin Angela Titzrath.
Richtig ist aber auch: Aufgrund von
Chinas Produktionsengpässen im
Februar kommen in Deutschlands
Häfen weniger Schiffe an. Um 20 bis
30 Prozent werde der Umschlag im
März und April sinken, erwartet etwa
die Bremische Hafenvertretung BHV.
Für die Versorgung mit eiligen Zulie-
fer- und Ersatzteilen wird voraus-
sichtlich zusätzlicher Luftfrachtver-
kehr gebraucht. „Es ist jetzt notwen-
dig“, fordert deshalb Fraport-Chef
Stefan Schulte, „dass Flughäfen und
Airlines eine Mindestkonnektivität
aufrechterhalten können.“

Mitarbeit: Martin Murphy, Dieter
Fockenbrock

Härtefall Italien
Zahl der am Coronavirus Gestorbenen in ausgewählten europäischen Ländern

Italien

2 158 Tote
Spanien

509

23 10 4

148 55 43

Frankreich

Groß-
britannien

Nieder-
lande

Deutschland Belgien Österreich

HANDELSBLATT • Stand: 17.3.2020, 16:45 Uhr Quelle: Johns Hopkins University/CSSE

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