Handelsblatt - 18.03.2020

(Sean Pound) #1
Donata Riedel Berlin

S


eit in Deutschland Geschäf-
te und Schulen schließen,
Grenzen kontrolliert wer-
den, herrscht Alarmstim-
mung auch unter Ökono-
men. „Ich fürchte, diese Rezession
wird die Mutter aller Rezessionen“,
sagte Gabriel Felbermayr, Präsident
des Instituts für Weltwirtschaft (IfW-
Kiel) dem Handelsblatt. Denn: „Wenn
sich die Wirtschaftstätigkeit in
Deutschland einen Monat lang hal-
biert, kostet das aufs Jahr gesehen
vier Prozent Wirtschaftswachstum.
Bei zwei Monaten wären es schon
acht Prozent“, so der Wissenschaft-
ler. „Das haben wir in Friedenszeiten
noch nie erlebt“, fügte er hinzu.
Eine ähnliche Rechnung macht Ifo-
Chef Clemens Fuest im Gastbeitrag
für das Handelsblatt auf. Dabei geht
er von der Regierungsprognose vom
Jahresanfang aus, nach der die Wirt-
schaft 2020 um 1,1 Prozent wachsen
sollte. „Wenn die Wirtschaftsaktivität
nur für zwei Monate auf 65 Prozent
des Normalniveaus zurückgeht und
danach wieder wächst wie erwartet,
würde die Wirtschaftsleistung für das
Gesamtjahr um fünf Prozent
schrumpfen“, so Fuest. Das wäre ein
Einbruch wie im Finanzkrisenjahr


  1. „Es kann aber auch deutlich
    schlimmer kommen“, warnte er.
    Das Szenario des tiefen Absturzes
    der Wirtschaft fürchten aktuell die
    meisten Ökonomen. Doch es stellt


die Institute auch vor ein großes Pro-
blem: „Wie tief diese Rezession wird,
lässt sich angesichts der sich täglich
ändernden Lage nur sehr schwer be-
rechnen“, sagte Claus Michelsen,
Konjunkturabteilungsleiter beim
Deutschen Institut für Wirtschaftsfor-
schung (DIW), dem Handelsblatt. Mi-
chelsen wird an diesem Donnerstag
seine offizielle Frühjahrsprognose
vorstellen, ebenso wie seine Kollegen
Timo Wollmershäuser vom Institut
für Wirtschaftsforschung (Ifo) und
Torsten Schmidt vom Leibniz-Institut
für Wirtschaftsforschung (RWI).
Selten waren die Erwartungen von
Unternehmern und Managern grö-
ßer nach Antworten auf die Frage,
wie tief diese Rezession wird und
wie lange sie dauert. Vieles bleibt
schwer zu kalkulieren. Eine Progno-
se ist normalerweise die Fortschrei-
bung der Vergangenheit in die Zu-
kunft. „Alles, was wir uns überlegen,
ist meist einen Tag später schon wie-
der Makulatur“, sagte Wollmershäu-
ser dem Handelsblatt. Die Forscher
arbeiten mit Annahmen. Deren Basis
sind die Zahlen des vierten Quartals
und von Januar und Februar – als die
Zeichen noch auf Erholung standen.
Eine Annahme ist die, dass die Pro-
duktionsausfälle in der Industrie
hierzulande nicht so groß werden
wie in China: Zwar würden Vorpro-
dukte aus der Volksrepublik in den
Lieferketten fehlen. Aber anders als

in China wurde in Europa die Pro-
duktion nicht stillgelegt. „Die Leute
gehen ja weiter zur Arbeit“, sagt
Wollmershäuser. Schwerer abzu-
schätzen sei der Arbeitsstundenaus-
fall in den Homeoffices, wenn gleich-
zeitig die Kinder zu Hause sind.
DIW-Experte Michelsen nimmt die
Erfahrungen aus früheren Epidemien
und Naturkatastrophen in seine Re-
chenmodelle auf. Wollmershäuser
betrachtet jeden Schock der vergan-
genen Jahrzehnte – von Hochwassern
über Sars bis zur Finanzkrise 2008:
„Deren Effekte haben wir mit drei
multipliziert“, sagte er. „Und danach
haben wir uns gefragt: Ist das Ergeb-
nis plausibel? Vermutlich nicht.“
Wollmershäuser hangelt sich wie
Michelsen von einer Annahme zur
nächsten. Das Ergebnis für das Ge-
samtjahr 2020 fällt zwei Tage vor der
Fertigstellung der Prognosen bei bei-
den noch ähnlich aus wie das des
IfW-Kiel aus der vergangenen Woche:
Im März und im zweiten Quartal
wird die Wirtschaft stark einbrechen,
im dritten Quartal werden die Aus-
wirkungen der massiven Rezession
noch spürbar sein, aber im vierten
Quartal setzt eine Erholung ein.

Die Bazooka wird wirken
Für dieses Szenario holt die Wirt-
schaft alle Ausfälle wieder auf, bis auf
die Ausfälle beim sozialen Konsum,
also die fehlenden Umsätze von Res-

taurants, Messen und Klubs. Die dau-
erhaften Ausfälle beziffert er mit 25
Milliarden Euro, die dem Bruttoin-
landsprodukt auch noch am Ende
des Jahres fehlen dürften.
Der Ifo-Forscher unterstellt dabei,
dass die „Bazooka“ der Bundesregie-
rung wirkt und es nicht zu einer In-
solvenzwelle kommt: Am Freitag hat-
ten Finanzminister Olaf Scholz und
Wirtschaftsminister Peter Altmaier
angekündigt, Unternehmen über die
KfW unbegrenzt Liquidität bereitstel-
len zu wollen. Helfen werde auch die
ausgeweitete Kurzarbeit sowie die
Verlängerung der Insolvenzantrags-
pflicht bis 30. September sowie ein
Notfallfonds für Kleinunternehmen.
Die Regierung, loben die Ökonomen,
mache mit diesen Hilfen für die Wirt-
schaft alles richtig.
Für das Gesamtjahr erwartet nach
diesem Basisszenario das Ifo in seiner
Frühjahrsprognose noch knapp ein
Nullwachstum. Das DIW rechnet da-
mit, dass das Bruttoinlandsprodukt
um 0,1 Prozent schrumpfen wird. Ge-
nau damit kalkulierte vergangene
Woche auch das IfW-Kiel.
Dessen Konjunkturchef Stefan
Kooths rechnet nun damit, dass die
Wirtschaft zunächst stärker einbre-
chen wird, als er in seiner Frühjahrs-
prognose angenommen hatte: Die
Wirtschaft werde im März und April
tiefe Schrammen abbekommen, sag-
te Kooths dem Handelsblatt. Gleich-
wohl sei es aber „weiterhin nicht un-
plausibel, dass in der zweiten Jahres-
hälfte eine relativ rasche Erholung
einsetzen wird“, so Kooths und ist
damit optimistischer als sein Insti-
tutsleiter Felbermayr.

Wirtschaft grundsätzlich
gesund
In jeder Rezession stehe die Frage im
Raum, woher denn Besserung kom-
men soll. Aber bei allen Schwierigkei-
ten sieht Kooths die Lage nicht nur
pessimistisch: „Der Treiber für die
Erholung ist die Eindämmung des Vi-
rus, von daher sind die Aufwärts -
chancen sogar weniger abstrakt als
nach gewöhnlichen Rezessionen.“ In
der Coronakrise würde sich – anders
als in der Finanzkrise – keine länger
andauernde Fehlentwicklung“ entla-
den, analysiert Kooths. In ihrem Kern
hält er Deutschlands Wirtschaft für
gesund. Es handele sich daher um ei-
ne massive Produktionsstörung –
mehr aber auch nicht.
Skeptischer blickt dagegen Woll-
mershäuser auf die Corona-Rezessi-
on. Er erwartet schon jetzt, seine
Prognose in diesem Jahr korrigieren
zu müssen. „Wahrscheinlich fehlt uns
Konjunkturforschern zurzeit auch
der Mut, ohne belastbare Zahlen ein
tiefes Minus zu prognostizieren“, ver-
mutet er.
Erste Frühindikatoren werden be-
reits vorgestellt. Als erstes Institut seit
der Ankunft der Coronakrise in
Deutschlands Wirtschaft veröffent-
lichte das Leibniz-Zentrum für Euro-
päische Wirtschaftsforschung (ZEW)
am Dienstag seine monatliche Umfra-
ge unter Börsenexperten. Danach
geht es abwärts mit der Konjunktur,
und zwar rasant: Der ZEW-Indikator
fiel im März zum Vormonat um 58,
Punkte auf minus 49,5 Punkte. Das
ist der stärkste Einbruch seit 1991,
kurz nach der deutschen Wiederver-
einigung.
„Der extrem starke Einbruch war
zu erwarten. Für die Konjunktur ste-
hen die Signale auf Rot“, sagte ZEW-
Präsident Achim Wambach. Die
„Mutter aller Rezessionen“ – sie ist
das wohl wahrscheinlichste Szenario.

Konjunktureinbruch


„Die Signale


stehen auf Rot“


IfW-Chef Gabriel Felbermayr spricht von der „Mutter aller


Rezessionen“. Doch die offiziellen Frühjahrsprognosen


können den Absturz der Konjunktur noch nicht abbilden.


Wolken über dem
Hamburger Hafen:
Kaum vorhersehbare
Auswirkungen.

PantherMedia/Wolfgang Cezanne

Es ist extrem


schwierig, den


Coronaschock


zu berechnen.


Alles, was


wir uns


überlegen, ist


meist einen


Tag später


schon wieder


Makulatur.


Timo Wollmershäuser
Ifo-Institut

Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
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Euro-Zone

Südeuropäer verlangen mehr Solidarität


Auch die EZB pocht auf ein
großes europäisches
Konjunkturprogramm. Der
Euro-Rettungsfonds soll mit
einer Kreditlinie helfen.

Ruth Berschens Brüssel

E


ZB-Präsidentin Christine La-
garde, EU-Wirtschaftskommis-
sar Paolo Gentiloni und die
südeuropäischen Euro-Staaten zie-
hen an einem Strang: Sie pochen da-
rauf, dass die Euro-Zone und ihre
Mitgliedstaaten gemeinsam ein gro-
ßes Konjunkturprogramm starten,
um die wirtschaftlichen Folgen der
Coronakrise abzufedern. Nötig sei ei-
ne „koordinierte fiskalpolitische Ant-
wort“ auf die Coronakrise. Diese „Ba-
zooka“ müsse stark genug sein, um
die Finanzmärkte zu beeindrucken,
sagten EU-Diplomaten dem Handels-
blatt. Der Euro-Rettungsfonds ESM
soll deshalb mit einer Kreditlinie be-

teiligt werden. „Wir müssen verhin-
dern, dass sich die Gesundheitskrise
zu einer neuen Finanz- und Schul-
denkrise entwickelt“, sagte ein EU-
Diplomat.
Die Euro-Finanzminister hatten
sich am Montagabend bei einer Vi-
deokonferenz über die ökonomi-
schen Folgen der Coronakrise ausge-
tauscht. Vor allem die EZB-Präsiden-
tin habe dabei auf ein groß angeleg-

tes europäisches Konjunkturpro-
gramm gepocht, berichteten Teilneh-
mer. Die von den Euro-Staaten bis-
lang beschlossenen Hilfen für die
Wirtschaft würden nicht ausreichen,
monierte der EU-Wirtschaftskommis-
sar. Mehrere südeuropäische Finanz-
minister forderten mehr Solidarität
von der Euro-Zone ein. Ein hochver-
schuldetes Land wie Italien könne
diese Krise nicht allein stemmen,
hieß es in Brüssel. Wohlhabende
Euro-Staaten müssten weitaus größe-
re nationale Konjunkturprogramme
auflegen als bisher geschehen. Au-
ßerdem müsse der Euro-Rettungs-
fonds eingeschaltet werden, und
zwar am besten mit einer unkondi-
tionierten Kreditlinie, die allen Euro-
Staaten offensteht.
Die Forderungen sind umstritten.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz
und sein niederländischer Amtskolle-
ge hätten Bedenken geäußert, berich-
teten Teilnehmer. Deutschland und
die Niederlande hielten eine Ein-

schaltung des ESM zum jetzigen
Zeitpunkt „für verfrüht“, sagten EU-
Diplomaten. Noch seien hochver-
schuldete Euro-Staaten an den Fi-
nanzmärkten gar nicht unter Druck
geraten. Wenn man den ESM bereits
jetzt einschalte, würden die Märkte
womöglich aufgeschreckt, und man
provoziere wider Willen eine Flucht
der Anleger aus südeuropäischen
Staatsanleihen.
Der deutsche und der niederländi-
sche Widerstand haben auch damit
zu tun, dass die seit Langem geplante
ESM-Reform noch immer nicht be-
schlossen ist. Sie sieht unter anderem
vor, private Gläubiger mithilfe verän-
derter Vertragsklauseln (CACs) im
Notfall leichter an einer staatlichen
Schuldenrestrukturierung beteiligen
zu können. Darauf legt insbesondere
Deutschland großen Wert. Doch Ita-
liens Regierung blockiert den ausste-
henden formalen Beschluss zur ESM-
Reform – vor allem aus Angst vor
dem Rechtspopulisten Salvini.

Sitz der EU-Kom-
mission: Nicht nur
aus Brüssel soll Hil-
fe kommen.

imago/Winfried Rothermel

Sozialpolitik

Korrekturliste für


die Grundrente


Die Arbeitgeber machen
Druck, die Grundrente im
parlamentarischen Verfahren
zu ändern. Die Leistung sollte
nur für Neurentner gelten.

Gregor Waschinski Berlin

D


er Widerstand der Arbeitge-
ber gegen die Grundrenten-
Pläne von Bundesarbeitsmi-
nister Hubertus Heil (SPD) war groß.
Nun scheinen sie sich damit abgefun-
den zu haben, dass sich das im Feb-
ruar vom Kabinett beschlossene Ge-
setz nicht mehr aufhalten lässt. Aller-
dings hofft die Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände
(BDA) auf weitreichende Änderungen
des Entwurfs im parlamentarischen
Verfahren, das am Donnerstag mit ei-
ner Beratung im Bundesrat beginnt.
Der Katalog mit Korrekturvorschlä-
gen liegt dem Handelsblatt vor.
An ihren grundsätzlichen Beden-
ken halten die Arbeitgeber zwar fest:
„Die geplante Grundrente ist kein ge-
eigneter Beitrag gegen Altersarmut,
denn die Zielgruppe der langjährig
Beschäftigten ist ohnehin besonders
selten von möglicher Altersarmut be-
troffen.“ Allerdings: „Wenn der Ge-
setzgeber trotz aller Einwände den-
noch an der Einführung der geplan-
ten Grundrente festhalten will, dann
sollte er zumindest einige wesentli-
che Korrekturen der Gesetzespläne
vornehmen“, heißt es in der Stel-
lungnahme. So sollte die Grundrente
nur für den künftige Rentner und
nicht für den Rentenbestand gelten.
Dies würde „dem Umstand Rech-
nung tragen, dass viele heutige Rent-
ner von anderen rentenrechtlichen
Regelungen profitieren, die es bei
jetzigem Rentenzugang nicht mehr
gibt“. Dazu zählten die abschlagsfrei-
en Renten ab 60 Jahre und rentener-
höhende Anerkennung von Ausbil-
dungszeiten.

Union und SPD hatten in ihrem Ko-
alitionsvertrag vereinbart, langjähri-
ge Geringverdiener mit niedrigen
Rentenansprüchen besserzustellen
und so im Alter vor dem Gang zum
Sozialamt zu bewahren. Über die De-
tails wurde heftig gestritten. Am En-
de setzte sich Heil mit einem Konzept
durch, das den Kreis von Anspruchs-
berechtigten weiter zieht, als es die
Union ursprünglich wollte. Statt ei-
ner umfassenden Durchleuchtung
der Vermögensverhältnisse soll bei
Rentnern anhand der Einkommen
geprüft werden, ob ein Anspruch auf
die Rentenerhöhung besteht.
Die Arbeitgeber begründen die ge-
forderte Begrenzung auf Neurentner
damit, dass derzeit nur ein Prozent al-
ler über 65-Jährigen mit mindestens 35
Erwerbsjahren auf Sozialhilfe im Alter
angewiesen sei. Im heutigen Rentenbe-
stand bestehe daher „kein besonderer
sozialpolitischer Handlungsbedarf “.
Die BDA verlangt auch eine Klar-
stellung, dass die Rentenversiche-
rung alle ihr entstehenden Kosten für
die Grundrente vom Bund erstattet
bekommen müsse. Die bislang ge-
plante Anhebung des Steuerzuschus-
ses reiche nicht aus, weil sonst die
Rentenkasse alle Kostenrisiken tra-
gen würde. Zudem müsse die Erstat-
tung des Bundes an die Rentenversi-
cherung auch die hohen Verwal-
tungskosten umfassen, die durch die
Einführung der Leistung und die Ein-
kommensprüfung entstehen.
Besonders kritisch sieht die BDA
das geplante Verfahren, um Kapital-
erträge zu prüfen. Rentner sollen
derartige Einkommen in einer Selbst-
auskunft an die Rentenversicherung
melden. „Die benötigten Verwal-
tungskosten lägen höher als die
durch eine Anrechnung ersparten
Leistungen“, heißt es in der Stellung-
nahme. Wenn keine andere Lösung
gefunden werden könne, „sollte bes-
ser ganz auf die Anrechnung dieser
Einkünfte verzichtet werden“.

 
 
  

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Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 18. MÄRZ 2020, NR. 55
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