Der Standard - 18.03.2020

(Dana P.) #1

20 |MITTWOCH,18.MÄRZ2020DForschung spezial ERSTANDARD


Seattle, Ende 1918: Polizisten während der Spanischen Grippe, die sich nachhaltigaufdie globalenBeziehungen auswirkte.

Fotos: National Archives, Annette Hornischer

DieUS-amerikanische HistorikerinTara Zahra erforscht, wie es nach dem ErstenWeltkriegund der
Spanischen Grippe schon einmal zu einem folgenschwerenRückgang des internationalenAustauschs kam.

Klaus Taschwer

Dieerste großeKrise derGlobalisierung


E


swar mit weltweit rund 50
Millionen Toten die folgen-
reichste Pandemie des 20.
Jahrhunderts, sie forderte mehr
Tote als der Erste Weltkrieg. Wir
können heute nur hoffen, dass die
OpferzahlenderSpanischenGrip-
pe, die von 1918 bis 1920 wütete,
durch Covid-19 ziemlich genau
100 Jahre später nicht erreicht
werden.
Abgesehen von vielen epide-
miologischen Unterschieden gibt
es aber auch einige erstaunliche
kulturhistorische Parallelen zwi-
schen der Spanischen Grippe der
Jahre 1918/19 und Covid-19 etwas
mehr als 100 Jahre später. Bereits
1918 gab es am Beginn der Pan-
demie Geheimhaltung und fatale
Verzögerungen bei den Maßnah-
men; schon damals waren–noch
ganz ohne soziale Medien–jede
Menge Falschnachrichten im Um-
lauf, und Fußballspiele fanden
ohne Publikum statt. So wie heu-
te machten auch damals viele
Länder wegen der Grippewelle die
Grenzen dicht.
„Die Namen für die Spanische
Grippe waren damals um einiges
fremdenfeindlicher als die heute
für Covid-19“, meint die US-ame-
rikanische Historikerin Tara Zah-
ra. So nannten die Polen die Spa-
nische Grippe die „bolschewisti-
sche Krankheit“, die Dänen dach-
ten, sie käme „aus dem Süden“.
Für Brasilianer war es die „deut-
sche Grippe“ und für die Bewoh-
ner des Senegals die „brasiliani-
sche Grippe“. Heute ist US-Präsi-
dent Trump eher die xenophobe
Ausnahme, wenn er Covid-19 als
„chinesisches Virus“ bezeichnet.
Zahra, eine vielfach ausge-
zeichnete Geschichtsprofessorin
an der Universität Chicago, inte-
ressiert sich aus einer spezifi-
schen Perspektive für die Spani-
sche Grippe: Im Zentrum ihres
nächsten Buchs, das sie gerade
fertigstellt, steht nämlich die Kri-


se der Globalisierung in der Zwi-
schenkriegszeit. Und wie ihre Re-
cherchen zeigten, hat die Spani-
sche Grippe dabei eine wichtige
Rolle gespielt.
Etwas ganz Ähnliches wird
wohl auch das Coronavirus für
die 2020er-Jahre bringen, ver-
mutet die 43-jährige Historikerin.
Längst hat man in den letzten
Wochen Maßnahmen ergriffen,
um die globalen Lieferketten zu
verringern und die Produktion zu-
rück in die eigenen Länder zu
holen. Wie weit diese Deglobali-
sierung in den nächsten Monaten
und Jahren noch gehen wird, steht
in den Sternen.

Kein unaufhaltsamer Prozess
Begonnen hat diese heutige Kri-
se der Globalisierung aber schon
etliche Jahre vor Covid-19, erklärt
die Historikerin, die sich vor vier
Jahren für das Thema zu interes-
sieren begann. Anfang des 21.
Jahrhunderts sah es so aus, als ob
die Globalisierung–trotz kleiner
Gegenbewegungen –ein mehr
oder weniger unaufhaltsamer Pro-
zess sei. Doch 2016, ein Jahr nach
der sogenannten Flüchtlingskrise,
die Zahra lieber als „Flüchtlings-
panik“ bezeichnet, wurde Trump
zum US-Präsidenten gewählt, die
Briten stimmten für den Brexit,
undeskaminternationalzueinem
Aufschwung rechtsnationaler Be-
wegungen.
Der Historikerin, die 2014 ein
renommiertes MacArthur Fellow-
ship (in den USA auch als „Genie-
preis“ bekannt) gewann, fielen
bestimmte Ähnlichkeiten dieser
heutigen Entwicklungen mit der
Situation nach dem Ersten Welt-
krieg auf, und sie begann, in
Archiven in Österreich, Deutsch-
land, Italien, Polen und Tsche-
chien nach Hinweisen zu suchen,
ob es auch schon nach 1918 so
etwas wie eine Deglobalisierung
gegeben habe.

Aus Sicht der Wirtschaftspolitik
und auch für die Migration sei die-
se These gut belegbar:„Der inter-
nationale Handel ging nach einer
Phase der starken Globalisierung,
die es zwischen 1880 und 1914
gegeben hat, stark zurück“, so Zah-
ra. „Und die weltweiten Migran-
tenzahlen erreichten erst wieder
in den 1970er-Jahren die Werte
von vor dem Ersten Weltkrieg.“
Zahra hat sich in mehreren
Büchern mit Migration, den bei-
den Weltkriegen und ihren Folgen
befasst. So etwa geht es inThe
Great Departure: Mass Migration
from Eastern Europe and the Ma-
king of the Free World(2016) um
die rund 50 Millionen Europäer
vor allem aus Osteuropa, die zwi-
schen 1846 und 1940 in die USA
aufbrachen. „Im Zusammenhang
dieser Migration gab es schon vor
demErstenWeltkriegÄngste,dass
diese Migranten zu den neuen
Sklaven der Globalisierung wer-
den könnten“, räumt Zahra ein.
In den 1920er-Jahren habe es
dann –ähnlich wie in Europa
Anfang des 21. Jahrhunderts –
eine linke Antiglobalisierungsbe-
wegung gegeben, die kritisierte,
dass die Globalisierung zu viel
Unsicherheit und Ungleichheit
und Armut schaffen würde. Im
Laufe der Zwischenkriegszeit
übernahm dann aber die Rechte
immer stärker eine globalisie-
rungskritische Agenda, so Zahra,
die aber auch die Unterschiede
zwischen linken und rechten
Gegenvisionen betont.
Diese Entwicklung lasse sich
auch gut an Österreich zeigen, so
Zahra. Mit den Pariser Vorortver-
trägen 1919 und dem teilweisen
Ausschluss der Verliererstaaten
aus der Weltgemeinschaft habe
hier der Glaube geherrscht, dass
man innerhalb der neuen Grenzen
nicht eigenständig überleben
kann. „Im Roten Wien gab es des-
halb viel Unterstützung für die

Siedlerbewegung, und viele Be-
wohner der Stadt begannen, sich
als Selbstversorger zu betätigen.“
Auf der politisch diametral ent-
gegengesetzten Seite hatten das
faschistische Italien und das na-
tionalsozialistische Deutschland
den Plan, durch Expansion zu
einem Großreich zu werden, das
sich mit eigenen Kornkammern –
sei es in Äthiopien oder in der Uk-
raine–selbst versorgt und von der
Weltwirtschaft unabhängig wird.

Nicht nur Nationalismus
„Bisher hat man die Entwick-
lungen der Zwischenkriegszeit,
die zum Zweiten Weltkrieg und
zum Holocaust führten, fast aus-
schließlich unter den Aspekten
des ethnischen und rassistischen
Nationalismus begriffen“, sagt
Zahra, die nächste Woche den
Eröffnungsvortrag der verschobe-
nen Konferenz „Europa ethnisie-
ren. Hass und Gewalt im Post-Ver-
sailles-Europa“ des Wiener Wie-
senthal-Instituts für Holocaust-
Studien hätte halten sollen. „Ich
denke, dass man die damaligen
Entwicklungen auch als Gegen-
reaktion auf die Globalisierung in
den Jahrzehnten zuvor analysie-
ren sollte. Dieser Aspekt wurde
bis jetzt unterschätzt.“
Was aber bedeutet das für die
aktuelleLage,dienichtzuletztauf-
grund von Covid-19 ebenfalls eine
Krise der Globalisierung bringen
dürfte? Zahra, die sich selbst als
öffentlicheHistorikerin versteht
und wenigdavon hält, sich im
akademischenElfenbeinturm ab-
zuschotten, glaubt nicht, dass wir
so einfachaus der Geschichte ler-
nen können:„Unsere Aufgabe als
Historiker kann es entsprechend
nur sein, die historischen Bedin-
gungen zu analysieren, die damals
zu einer Deglobalisierung und
zum Faschismus geführt haben –
ohne dass das eine notwendiger-
weise im anderen enden muss.“

DieNamen für die
Spanische Grippe
warendamals um
einiges fremden-
feindlicher als die
heute für Covid-19.


Tara Zahra

CORONAVIRUS


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