Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
von constanze von bullion,
cerstin gammelin
und kristiana ludwig

Berlin –Bundeskanzlerin Angela Merkel
hat die Europäer am Montag zu engerer Zu-
sammenarbeit gegen die Corona-Pande-
mie aufgerufen. Die Krankheit stelle die
Europäische Union vor „die größte Bewäh-
rungsprobe in ihrer Geschichte“, sagte sie
nach Beratungen des Corona-Krisenkabi-
netts. Es gehe auch um finanzielle Hilfen
an EU-Mitgliedsländer und ein Belebungs-
programm für die Wirtschaft. Darüber wol-
len an diesem Dienstag die EU-Finanzmi-
nister beraten. Deutschland sei bereit, „sei-
nen Beitrag zu leisten“, sagte Merkel.
Eine schnelle Lockerung der Kontaktbe-
schränkungen in Deutschland stellte die
Kanzlerin nicht in Aussicht. Die Regierung
mache sich zwar Gedanken über die Zeit da-
nach. Ein Neustart könne aber nur schritt-
weise kommen. Und auch dann lebe das
Land „weiter in der Pandemie“. Am
schlimmsten wäre es, Lockerungen anzu-
ordnen und sie wieder zurücknehmen zu
müssen, wenn es erneut mehr Tote gebe,
so Merkel. Das Kabinett treffe weitere Maß-
nahmen zur Eindämmung des Virus.
So will die Bundesregierung die Kapazi-
täten zur Herstellung von Schutzmaterial
ausbauen. Geplant ist außerdem, die Liqui-
ditätshilfen für kleine und mittelgroße Un-
ternehmen noch einmal auszuweiten. Bera-
ten wurde im Krisenkabinett in Berlin aber
auch der Vorschlag von Bundesinnenminis-
ter Horst Seehofer (CSU), Einreisende nach
Deutschland schärfer zu kontrollieren.
Bis zum 10. April will Seehofer mit den
Ländern eine Verordnung aushandeln, wo-
nach alle Personen eine zweiwöchige Qua-
rantäne antreten müssen, die nach einem
„mindestens mehrtägigen Auslandsauf-
enthalt“ nach Deutschland einreisen. Die
Vorschrift soll auch für deutsche Heimkeh-
rer gelten. Kontrolliert werden soll die Um-
setzung der Quarantänepflicht von den ört-

lichen Gesundheitsämtern. Dem Verneh-
men nach haben die Staatskanzleichefs
der 16 Bundesländer in einer Telefonschal-
te bereits Zustimmung signalisiert.
Nicht durchsetzen konnte sich Seehofer
zunächst offenbar mit einem weiteren Vor-
schlag. Der Innenminister strebt an, auch
die Grenzen zu Polen, Tschechien sowie zu
den Niederlanden und Belgien für Perso-
nen zu sperren, die keinen triftigen Reise-
grund vortragen können. Als triftig gelten
Reisen von Berufspendlern oder unauf-
schiebbare Termine von Geschäftsleuten.
Auch der Warenverkehr durch Europa soll
nicht behindert werden.
Solche Einreisebeschränkungen waren
im März schon an den Grenzen zu Frank-
reich, der Schweiz, Österreich, Luxemburg
und Dänemark eingeführt worden. Sie gel-
ten auch für Flugreisen aus Italien und Spa-
nien. Seehofer würde die Regelung gern
auf alle deutschen Grenzen ausdehnen. Al-
lerdings erfordert das die Zustimmung der

Bundesländer. Nach dem deutschen Vor-
preschen bei Grenzkontrollen im März hat-
te EU-Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen zudem ein gemeinsames
Vorgehen der EU angemahnt. Ganz verzich-
ten will Seehofer aber nicht darauf, die
noch unkontrollierten deutschen Landes-
grenzen stärker zu überwachen. Im Rah-
men der Schleierfahndung, bei der die Bun-
despolizei in Grenznähe stichprobenartig
kontrollieren darf, sollen Einreisende nun
an allen deutschen Grenzen daraufhin
überprüft werden, ob eine Quarantäne an-
geordnet werden muss.
Ebenfalls beraten wurde im Kabinett
die Beschaffung von Schutzausrüstung.
Das Gesundheitsministerium will Unter-
nehmen unterstützen, die Vliesmaterial
für Schutzmasken in Deutschland produ-
zieren. Man habe Herstellern einen Rah-
menvertrag angeboten, der bis Ende 2021
laufen soll, um ihnen eine finanzielle Si-
cherheit zu geben, sagte eine Sprecherin.
Zudem hat die Bundesregierung ihre
Liquiditätshilfen für Unternehmen mit elf
bis 249 Beschäftigten deutlich ausgewei-
tet. Noch in dieser Woche sollen sie über
ein neues KfW-Programm Schnellkredite
bei ihren Hausbanken beantragen können.
„Wenn es klappt, können die Banken am
Donnerstag loslegen mit der Bearbeitung
der Sachen“, sagte Bundesfinanzminister
Olaf Scholz (SPD).
Wer einen Schnellkredit beantragen
will, sollte drei Bedingungen erfüllen. Das
Unternehmen muss 2019 bereits existiert
und Gewinn gemacht haben; es muss sich
„in geordneten wirtschaftlichen Verhält-
nissen“ befinden und nicht etwa in einem
Insolvenzverfahren, und der Kredit darf
maximal 800 000 Euro betragen. Für klei-
nere Unternehmen liegt die maximale Kre-
dithöhe bei 500 000 Euro. Damit schöpfe
die Bundesregierung „vollständig“ aus,
was nach Rücksprache mit der EU-Kom-
mission genehmigungsfähig sei, sagte
Scholz.  Seiten 4 und Wirtschaft

Verbaler Kampf:Politiker verwenden oft
Kriegsvokabular, wenn sie über das Virus
sprechen. Das ist irreführend  Meinung

Viral:Wie wahrscheinlich ist es, sich ohne
direkten Kontakt anzustecken?  Wissen

Kaufanreiz Angst:Viele Betrüger und Ge-
schäftemacher nutzen die Krise aus. Wie
kann man sich schützen?  Wirtschaft

Schräglage:Nachrichten und Hintergrün-
de waren selten so gefragt. Dennoch ist die
Medienbranche bedroht  Medien

 Alle aktuellen Entwicklungen, Analy-
sen und interaktiven Grafiken im Netz:
http://www.sz.de/coronavirus

Meinung


Der Schengener Vertrag


darf dem Virus


nicht zum Opfer fallen 4


Politik


Mecklenburg-Vorpommern


greift gegen Stadtflüchtige


besonders rigoros durch 5


Panorama


Japanisch lernen, Brot backen, Yoga:


Selbst in der Krise können viele


keine Ruhe geben 8


Feuilleton


Warum Ausgangsbeschränkungen


Frauen in der Regel härter


treffen als Männer 9


Sport


Wie trainiert man das Schwimmen


ohne Wasser? Ein Gespräch mit


Triathletin Anne Haug 25


TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
München · Bayern 26
Rätsel 24
Traueranzeigen 18


Berlin– Eine Gruppe von etwa 50 Unions-
abgeordneten drängt EU-Kommissions-
präsidentin Ursula von der Leyen, Kinder
aus Flüchtlingslagern auf den griechi-
schen Inseln zügig in anderen EU-Ländern
unterzubringen. Acht EU-Staaten hatten
sich im März zur Aufnahme minderjähri-
ger unbegleiteter Flüchtlinge und anderer
Migranten aus Griechenland bereit er-
klärt. Die EU-Kommission bemüht sich
seither um die Umsetzung. dpa Seite 6

Außerdem in


dieser Ausgabe


Wien– Als erstes europäisches Land hat
Österreich einen detaillierten Plan zur
schrittweisen Lockerung der Anti-Corona-
Maßnahmen vorgelegt. So sollen etwa klei-
nere Geschäfte unmittelbar nach Ostern
wieder öffnen. Begleitet wird dieser Exit-
Plan von strengen Auflagen wie einer Aus-
weitung der Maskenpflicht. Die seit Mitte
März geltenden Ausgangsbeschränkun-
gen werden bis Ende April verlängert.
Kanzler Sebastian Kurz begründete die
Lockerungen mit der positiven Entwick-
lung der Corona-Fallzahlen. „Wir haben in
Österreich schneller und restriktiver re-
agiert als in anderen Ländern, deshalb ha-
ben wir jetzt die Möglichkeit, schneller aus
dieser Krise herauszukommen“, sagte er.
Zugleich warnte er, dass jederzeit wieder
„die Notbremse gezogen“ werden könne.

Die von der Regierung präsentierten
Zahlen zeigen, dass in Österreich seit meh-
reren Tagen jeweils mehr Genesene als
neu Infizierte verzeichnet werden. Aktuell
gibt es etwas mehr als 12 000 positiv Getes-
tete. In der Spitze Mitte März hatte die tägli-
che Steigerungsrate der Infektionen noch
bei mehr als 40 Prozent gelegen, nun ist sie
auf unter zwei Prozent gesunken. Die Zahl
der Infizierten verdoppelt sich demnach
derzeit nur noch alle 16,5 Tage. „Das ist ver-
gleichsweise der stärkste Rückgang inner-
halb der Europäischen Union“, sagte der
grüne Gesundheitsminister Rudolf An-
schober. Der „erste Kraftakt“ sei gelungen,
doch dies sei noch nicht mehr als ein „Etap-
penerfolg“, sagte er.
Im Einzelnen sehen die österreichi-
schen Pläne vor, von 14. April an kleinere

Läden mit weniger als 400 Quadratmeter
Verkaufsfläche sowie Bau- und Garten-
märkte zu öffnen. Von 1. Mai an sollen alle
anderen Geschäfte, Einkaufszentren und
Friseure dazukommen. Hotels und Gastro-
nomie dürfen frühestens Mitte Mai den Be-
trieb aufnehmen. Bis zunächst Mitte Mai
bleiben die Schulen geschlossen, die Matu-
ra, also die Abiturprüfungen, sollen aber
nach jetzigem Stand stattfinden. Alle Ver-
anstaltungen sind bis mindestens Ende Ju-
ni untersagt.
Kurz sprach von einem „ambitionierten
Plan“, der in eine „neue Normalität“ füh-
ren solle. Um sicherzustellen, dass die Lo-
ckerungen nicht zu einem erneuten An-
stieg der Infektionen führen, seien weitrei-
chende Begleitmaßnahmen nötig. So soll
die seit diesem Montag für Läden geltende

Pflicht zum Tragen einfacher Schutzmas-
ken ab Ostermontag auch auf öffentliche
Verkehrsmittel ausgedehnt werden. An Ar-
beitsplätzen sollen dies Arbeitgeber und
Arbeitnehmer untereinander aushandeln.
Bislang allerdings gibt es auch in Öster-
reich Engpässe bei der Beschaffung einer
ausreichenden Anzahl von Atemschutz-
masken.
Kurz kündigte zudem weitere Maßnah-
men zum „Containment“, also zur Eindäm-
mung der Virusausbreitung, an. Notwen-
dig sei dabei eine Ausweitung der Tests,
die Isolierung von Infizierten und Ver-
dachtsfällen sowie das „Tracking“, also die
Nutzung von Handydaten. Wie dies genau
aussehen soll und ob die Nutzung entspre-
chender Apps freiwillig bleiben soll, führte
er nicht aus. peter münch  Seite 4

Berlin– Der Deutsche Lehrerverband rät
Schülern mit schlechten Leistungen, lie-
ber freiwillig die Klasse zu wiederholen, an-
statt „mit massiven Wissenslücken“ ins
nächste Schuljahr zu starten. Diese Emp-
fehlung gelte nur für Schüler, bei denen
„bereits vor Corona solche Leistungsdefizi-
te feststellbar waren, dass ein Erreichen
des Klassenziels unwahrscheinlich gewe-
sen wäre“, sagte Verbandspräsident Heinz-
Peter Meidinger. dpa  Seiten 4 und 5

Berlin– Aufgrund der Corona-Krise sind
bei der Bahn die Fahrgastzahlen eingebro-
chen. Das Reiseaufkommen im Fernver-
kehr liege bei zehn bis 15 Prozent des sonst
üblichen Niveaus, sagte Konzernchef Ri-
chard Lutz. Derzeit seien drei Viertel der
üblicherweise fahrenden Züge im Einsatz:
„Eine weitere Reduzierung ist nicht ange-
dacht.“ Gewerkschaften fordern, das Ange-
bot weiter runterzufahren, um Beschäftig-
te zu schützen. dpa  Wirtschaft

EU vor „größter Bewährungsprobe“


Kanzlerin Merkel betont in der Corona-Krise den europäischen Zusammenhalt. Um die Verbreitung


des Virus in Deutschland einzudämmen, soll Quarantäne für Einreisende beschlossen werden


HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Verband: Schlechte Schüler


sollen Klasse wiederholen


Tokio– Japan will wegen der Coronavirus-
Pandemie den nationalen Notstand ausru-
fen. Dieser solle von Dienstag an für die
Hauptstadt Tokio sowie sechs weitere Prä-
fekturen gelten und etwa einen Monat in
Kraft bleiben, sagte Ministerpräsident
Shinzō Abe am Montag. Grundlage ist ein
Gesetz, das Abe kürzlich eigens für den
Kampf gegen das Virus durch das Parla-
ment gebracht hat. Damit dürfen die Be-
hörden die Bürger anweisen, in ihren Häu-
sern zu bleiben, sowie die Schließung von
Schulen und anderen Einrichtungen ver-
ordnen. Eine harte Abschottung der Städte
wie in Italien oder Frankreich erlauben Ja-
pans Gesetze aber nicht. Hintergrund für
die Maßnahmen ist ein deutlicher Anstieg
der Infektionen mit dem Coronavirus in To-
kio und anderen Großstädten wie Osaka.
Insgesamt zählt das Land mehr als 4000
Corona-Fälle und über 100 Tote. Abe kün-
digte an, die Testkapazitäten auf 20 000
pro Tag zu verdoppeln. Japan sah sich der
Kritik ausgesetzt, viel weniger zu testen
als andere Länder. Zusätzlich kündigte der
japanische Regierungschef ein giganti-
sches Konjunkturpaket im Volumen von
108 Billionen Yen (920 Milliarden Euro) an,
um die ökonomischen Folgen des Coronavi-
rus-Ausbruchs abzufedern. Das Volumen
entspreche rund 20 Prozent der Wirt-
schaftsleistung des Landes, sagte der Mi-
nisterpräsident. dpa  Seite 7

Über den Norden und die Mitte ziehen eini-
ge Wolken hinweg, Schauer sind aber die
Ausnahme. Sonst scheint häufig die Son-
ne. Die Temperaturen erreichen im Nor-
den zwischen zwölf und 20, sonst 19 bis 24
Grad.  Seite 13

NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF3 MÜNCHEN, DIENSTAG, 7. APRIL 2020 76. JAHRGANG / 15. WOCHE / NR. 82 / 3,20 EURO


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Österreich plant Lockerung der Corona-Auflagen


Nach Ostern sollen kleine Geschäfte wieder öffnen dürfen, später auch Schulen. Die Maskenpflicht wird ausgeweitet


Unionspolitiker wollen


Kinder aus Lagern holen


Bis zu 90 Prozent


weniger Bahnreisende


Japan wird


Notstand ausrufen


Die steigenden Fallzahlen zwingen
Regierungschef Abe zum Handeln

24 °/1°


Die britische Nation


leidet heftig unter dem


Corona-Ausbruch – selbst


die Queen kann nur schwer


vermitteln, dass es Aussicht


auf bessere Zeiten gibt


 Thema des Tages


FOTO: UNSPLASH

Bestätigte Corona-Fälle in Deutschland Nach Bundesländern

SZ-Grafik; Quellen: Johns Hopkins University/Landesbehörden/SZ; Stand: 6.4., 19.45 Uhr
Durch Verzögerungen in der Meldekette kann der Deutschland-Wert von der Summe der Fallzahlen in den Bundesländern abweichen.

98 128Infizierte 1534 Tote BY
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31
13
12
6
8

27.1. 1.3. 1.4.

0

20000

40000

60000

80000

100000

Verdopplung
der Infektionen
alle 9,1 Tage

FOTO: PHIL NOBLE/REUTERS

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Telefax -9777; [email protected]
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Dax▲


+ 5,77%

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+ 5,88%

Euro▼



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Fridays for Future – erschöpft in der Pandemie Die Seite Drei


(SZ) Joseph von Eichendorff hat dem Zau-
berwort attestiert, dass es, vorausgesetzt
man trifft es, das in allen Dingen schlafen-
de Lied zum Klingen bringt. Man sagt: Kro-
kus, und der Frühling bricht aus. Man sagt:
Silbereisen, und das „Traumschiff“ läuft
ein. Man sagt: Scheuer, und Mautstraßen
entrollen sich bis zum Horizont. Und wenn
man Bayreuth sagt? Dann wird’s so duster
wie damals, als Hans Carossa für Nieder-
bayern den Titel „Land ohne Wein und
Nachtigallen“ erdachte. Solchen Ländern
unterstellt man, dass ihnen große Sommer
im Rilke’schen Sinn fehlen, und in diese
Richtung läuft es jetzt auch mit Bayreuth,
genauer gesagt mit Valentin Schwarz, der
den „Ring“ hätte inszenieren sollen und
der, da alles abgesetzt wurde, in künstleri-
scher Hinsicht ein „Jahr ohne Sommer“
auf sich und uns zukommen sieht.
Jahre ohne Sommer sind weit weniger
durch Zauberworte zu erschließen als etwa
Hungerwinter, denen man sprechende Na-
men wie Kriegs-, Inflations- oder Steck-
rübenwinter gab. Auch Sturmfluten spre-
chen zu uns, da man sie ihrer Vielzahl
wegen auf die jeweiligen Kalenderheiligen
taufte; eine von ihnen, die Elisabethenflut,
brachte es in ihrer Hartnäckigkeit auf drei
Nennungen: 1404, 1421 und 1424, immer
um den 19. November herum. Unter den
vielen namenlosen Jahren ohne Sommer
ist keines so berühmt geworden wie 1816,
das in den Vereinigten Staaten alsEighteen
hundred and froze to deathim Gedächtnis
blieb. Der Grund für dieses meteorologi-
sche Phänomen lag so weit ab, dass es wei-
ter gar nicht ging: Auf Sumbawa, einer der
Kleinen Sundainseln, war im April 1815 der
Vulkan Tambora ausgebrochen. Die gut
150 Kubikkilometer Dreck, die er von sich
schleuderte, überzogen die ganze Welt mit
einem Schleier, gegen den die Sonne
machtlos war. 200 Jahre später, als es Saar-
brücken-Burbach auf immerhin 37,9 Grad
brachte, dachte man mit etwas Wehmut an
den Eissommer von 1816.
Interpreten dieses sommerlosen Jahres
erinnern daran, dass damals nicht nur das
blanke Elend herrschte, sondern dass aus
der Not auch Neues erwuchs, das sich kein
Mensch hätte träumen lassen. Württem-
bergs König Wilhelm I. rief einen landwirt-
schaftlichen Verein ins Leben und über die-
sen indirekt den Cannstatter Wasen, Jus-
tus von Liebig forcierte die ertragfördern-
de Mineraldüngung, und Mary Shelley, die
wegen des miesen Wetters nicht aus dem
Haus konnte, schrieb den Roman „Fran-
kenstein oder Der moderne Prometheus“.
Als Knüller wird oft verbreitet, dass dem
Jahr ohne Sommer das Fahrrad zu danken
sei. Ihm liegt die nicht ganz unumstrittene
These zugrunde, dass Karl von Drais sein
Laufrad entwickelte, weil die Pferde land-
auf, landab geschlachtet und verzehrt wur-
den. Valentin Schwarz’ „Ring“ kommt in
zwei Jahren auf die Bühne. Dann wird man
wissen, ob unser jetziges Jahr ohne Som-
mer ebenfalls zu Segnungen fähig war.


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