Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1

Unter den Dingen im enger gewordenen
Lebenshorizont der eigenen vier Wände ist
eines uns besonders nahegekommen.
Immer neu lockt es zum Innehalten und
Abschalten. Abschalten? Wo doch so gut


wie alles schon wie abgeschaltet aussieht?
In dieser paradoxen Situation verrät das
Kanapee seine wahre Natur.
Dieses Möbelstück, das unter wechseln-
den Namen und Ausformungen – mit oder


ohne Seitenlehnen, fein gepolstert oder
mit bauschigen Kissen – als Kanapee,
Sofa, Diwan, Couch seit der Demokratisie-
rung der Freizeit zur Standardeinrichtung
gehört, ist ein Ort zugleich der Kommuni-
kation und der Absonderung. Nahm die
vornehme Gesellschaft im alten Rom
darauf halb sitzend, halb liegend gesellig
die üppigen Mahlzeiten zu sich, diente es
auf seinen elegant geschnitzten Rokoko-
Füßen an den europäischen Höfen als In-
timszenerie für Schmeichelei, Verführung,
Tratsch, Intrigen und weltbewegende
Ereignisse. In Goethes berühmtem Ge-
dichtzyklus wird das Möbel sogar zu einem
kulturellen Brückenkopf zwischen West
und Ost. Ungezählte Damen des gehobe-
nen Bürgertums sanken in ihren Schwäche-
anfällen auf der sogenannten Ohnmachts-
Couch darnieder, und im Kabinett Sig-
mund Freuds wurde diesen Anfällen dann
nachgespürt, während vom „Chesterfield“
bis zum „Klippan“-Sofa von Ikea das Da-
sitzen zu einem Lebensstil avancierte.
All dessen ungeachtet ist der Diwan, das
Kanapee oder Sofa aber auch der Ort für ei-
ne Sache geblieben, die uns dieser Tage
wieder sehr vertraut vorkommt. Wo sonst
lässt sich der Müßiggang zwischen Dösen,
Träumen und Abdriften besser pflegen?
Wie eine Trutzburg des Nichtstuns ragt die-
ses Möbel über die Verschanzung der ein-
schlägigen Literatur, von Senecas „De

otio“, über Montaigne bis Odo Marquards
„Apologie des Zufälligen“, hinaus. Vor al-
lem einer aber hat vorgeführt, wie man
dort ohne Begriffskatalog und ohne Hand-
lungsprogramm seine Existenz einrichten
kann. Sein Name ist Ilja Iljitsch Oblomow.
Die Wiederlektüre von Iwan Alexandro-
witsch Gontscharows 1859 erschienenem
Roman „Oblomow“ bringt ein so echtes
wie situationsgemäßes Lesevergnügen.
Der Titelheld ist ein gut dreißigjähriger
Gutsbesitzersohn mit aufgeschwemmten
Gesichtszügen und etwas kraftlosen Bewe-
gungen. Ein Mann, dessen Hauptbeschäfti-
gung das Herumliegen im selten gelüfte-
ten, verstaubten, unaufgeräumten Wohn-,
Ess- und Schlafzimmer seiner Petersbur-
ger Stadtwohnung ist. Wenn er aufsteht,
ist es schon Mittag, mehrere Besucher
haben bis dann bereits vorbeigeschaut,
denen er bei der Begrüßung ein uns heute
wieder sehr geläufiges „Nicht näherkom-
men!“ entgegenruft. Bei Oblomow folgt
allerdings der Nachsatz: „Sie kommen aus
der Kälte.“ Statt in der Angst vor Anste-
ckung lebt er im Wohlgefühl der nach-
wirkenden Bettwärme. Und insgeheim be-
klagt der Stubenhocker seine mit Karriere
oder Liebschaften beschäftigten Besucher.
„Wo bleibt denn da der Mensch?“
Neuigkeiten und Anregungen von drau-
ßen greift dieser Oblomow zwar bereitwil-
lig auf und lässt sich auch auf die Lektüre

von mitgebrachten Zeitungen oder Bü-
chern ein, um sich ein Urteil über den jewei-
ligen Gegenstand zu bilden. „Ein Schritt
noch, und er hätte diesen tatsächlich rich-

tig beherrscht, aber siehe! Schon liegt er
wieder da, starrt abwesend zur Decke und
das Buch bleibt ungelesen, unverstanden
neben ihm liegen.“ Bei seiner verträumten

Hingabe des Strickens am „Ornament sei-
nes Lebens“ entdeckt er in sich selbst so
viel Weisheit und Poesie, dass äußere An-
regungen ihm überflüssig vorkommen.
Gontscharows Genreroman über Lebens-
untüchtigkeit, Langeweile und Seinsleere
lässt subversive Gedanken durchscheinen.
Wie Herman Melvilles Bartleby mit seinem
„I would prefer not to“ hebt Oblomow
beiläufig ein herrschendes Gesellschafts-
modell aus den Angeln. Seltsam nur, dass in
den Neuauflagen dieses Romans in ver-
schiedenen Ländern und Sprachen das
Geschehen gern in die Harmlosigkeit der
bürgerlichen Genremalerei überführt wird.
Eine beliebte Illustration für den Einband
des Romans ist das Ölbild „Liegender Mann
auf einem Diwan“ vom Düsseldorfer Genre-
maler Theodor Franken (1811 – 1876). Her-
umliegende Fechtdegen, nicht angetastete
Pistolen, unberührte Bücher, eine stumm
an der Wand hängende Gitarre und eine er-
loschene Tabakpfeife bilden dort die Kulis-
se für einen auf dem Sofa Eingenickten mit
hochgelagerten Füßen. Alles Subversive
gegenüber der Normalität ist aus dieser
biedermeierlichen Vanitas-Darstellung ver-
schwunden. Ein Missverständnis. Eine fal-
sche Verbindung zwischen Literatur und
Malerei. Bleiben uns noch ein paar Tage
oder Wochen, um den in der Figur Oblo-
mows angelegten Sprengstoff neu zu ent-
decken. joseph hanimann

von joachim hentschel

K


urz überlegt man sich, ob man aus-
nahmsweise mal den Schluss verra-
ten soll. Einfach nur, weil die Vor-
stellung so exponentiell eklig ist, jemand
könnte diesen Film ernsthaft wegen der
Spannung anschauen, mit ähnlichem Sus-
pense-Bedarf wie eine Folge „Sherlock“
oder einen notdürftig lustigen Müns-
ter-„Tatort“. In wenigen Sätzen: „Kopfplat-
zen“, der Spielfilm, um den es hier geht,
erzählt von einem jungen, pädophilen
Mann. Er gerät in eine Beziehung zu einer
Frau. Die Frau hat einen achtjährigen
Sohn. Wird etwas Schlimmes passieren,
wenn die Mutter nicht dabei ist? Oder kann
der Protagonist das Grässliche abwenden,
indem er die anderen vor sich und seiner
Veranlagung schützt? Die Frage treibt die
Handlung.


Wahrnehmungstechnisch ist ein Film
zu diesem Thema also nicht nur, wie es
sonst immer heißt, „ein Spagat“, sondern
ein fünfphasiger Flickflack mit Zusatz-
schraube. Ein mögliches Verbrechen
schwebt im Raum, und es gehört zu den
übelsten, die man sich vorstellen kann.
Der potenzielle Täter ist die Hauptfigur,
lenkt den Kinoblick, lässt uns in seine Woh-
nung, macht uns zu seinen Verbündeten.
Und bemüht sich zugleich mit aller Kraft
darum, die drohende Tat zu verhindern.
„Kopfplatzen“, geschrieben und ge-
dreht vom Kölner Regisseur Savaş Ceviz,
kann man nun sehen, als erste reine Online-
Premiere des Filmverleihs Salzgeber, der
seine krisenbedingt abgesagten Kino-
starts nun auf die Streamingplattform Salz-
geber Club verlegt. Eine durch und durch
unterstützenswerte Idee, für die man auch
ein Dilemma ertragen kann: Selbst bei al-
lergrößtem soziologischen Bildungsinter-
esse schauen wir Filme nun mal vor allem


aus Kunstliebe, zur Unterhaltung, zur Ka-
tharsis. Dass Kino einen so voyeuristi-
schen, dunklen Nukleus hat wie hier, spürt
man selten. Zumindest sind wir inszenato-
risch in sicheren Händen. „Kopfplatzen“
zeigt Markus, 29, Architekt in Karlsruhe,
bestens frisiert und modestreckentauglich
gespielt von Max Riemelt. Die Kinderliebe
ist sein Geheimnis. Er lehnt sie ab, lebt sie
nicht aus, kämpft gegen sie an. Vermeidet
unnötige und sogar nötige Sozialkontakte,
um nicht in Versuchung zu kommen.
Wie ein derart isoliertes Leben aussieht,
weiß das Publikum seit Kurzem selbst. In
„Kopfplatzen“ ist immer schlechtes Wet-
ter, gibt es kaum Musik, kein schmieriges
Bild, kein Schauerspiel. Mahlzeiten wer-
den in zombiebleicher Stille eingenom-
men. Es wird Kampfsport betrieben, mas-
turbiert statt Sex gehabt. Ein Arzt, dem
Markus von seinem Problem erzählen will,
schmeißt ihn angewidert aus der Praxis.
Ein Film, der dazu verdammt ist, zu gro-
ßen Teilen hinter den Grundsatzdiskussio-
nen zu verschwinden, die es um ihn gibt.
„Es war wahnsinnig schwer, Leute zu
finden, die das Projekt unterstützen und
finanzieren wollten“, sagt Regisseur Savaş
Ceviz. Ein Interviewtreffen in einer Woh-
nung in Berlin-Charlottenburg, noch vor
dem Kontaktsperregebot. Auch Riemelt ist
da, wasserstoffblond, gefärbt für seine Rol-
le in „Matrix 4“, für den er gerade drehte.
„Viele intelligente Freunde, mit denen
ich während des Entscheidungsprozesses
über ,Kopfplatzen‘ sprach, wollten mit
dem Thema nichts zu tun haben“, erzählt
Riemelt. „Wie explosiv die Ablehnung
teilweise war, hat mich verwundert.“ Der
Film wurde schon 2006 konzipiert, und
sein Grundimpuls, die Not eines ausweg-
los gegen die eigenen Triebe kämpfenden
Pädophilen aus der schwurbeligen Abs-
traktion zu holen und in belastbare Bilder
zu klopfen, leuchtet selbst beim flüchtigen
Zuschauen ein. Allein in Deutschland lebt
laut Forschung ein Prozent aller Männer
mit der Neigung, rund eine Viertelmillion.
„In den Schlagzeilen ist häufig von Mons-
tern die Rede“, sagt Ceviz, für den dies

nach Dokus und Kurzformaten der erste
lange Spielfilm als Regisseur ist. „Viele
spüren: Sobald wir zugeben, dass das
Menschen sind, könnte ihr Schicksal ja
auch etwas mit uns zu tun haben.“
Die Idee ist längst ein Kino-Topos, mit
jeweils ähnlichen Begleitdebatten. 2004
spielte Kevin Bacon in „The Woodsman“
einen geläuterten Kinderschänder, zwei
Jahre später war Jürgen Vogel in „Der freie
Wille“ zu sehen, als getriebener Vergewalti-
ger, der mit ähnlichen Strategien gegen die
Sucht kämpft wie Riemelts Architekt
Markus. Der Unterschied ist, dass in „Kopf-
platzen“ nichts darauf hindeutet, dass der
Protagonist jemals eine Tat begangen hat.
„Sie können zwar nichts für Ihre Neigung“,

sagt ein Therapeut zu ihm, „aber Sie allein
sind verantwortlich für Ihre Handlungen.“
Determinismus versus freier Wille, der gro-
ße, alte Heldenkonflikt.
Wie wichtig ist es für den Film, dass wir
die Hauptfigur als unschuldigen, sich eh-
renwert mühenden Streiter gegen die Vor-
ausbestimmung kennenlernen? Riemelt
sagt: „Der Schmerz, mit dem er seine Liebe
unterdrückt, lässt sich nur nachfühlen,
wenn man weiß: Er hat Empathie für ande-
re.“ Das ist allerdings genau das Paradox,
das „Kopfplatzen“ einiges an möglicher
subversiver Kraft kostet. Dadurch, dass
der Film seinen Problemcharakter eben
nicht vorverurteilt, gibt er ihm umgekehrt
schon wieder eine seltsame Art von erzähle-

rischer Absolution. Und macht es dem
Publikum fast schon wieder zu leicht, an
seiner Seite zu stehen.
In den sogenannten Netzdebatten war
zuletzt ja viel vom Stereotyp des „Incel“ die
Rede, vom einsam, enthaltsam und frus-
triert lebenden weißen Mann, der mitun-
ter mit Schwarzpulverknall zum Täter
wird. Der pädophile Schläfer passt nicht
ganz in dieses Schema – aber am Ende
zeigt sich die eigentliche Stärke eines
Films wie „Kopfplatzen“ gerade in diesem
Kontext. Savaş Ceviz’ Geschichte hat näm-
lich eine Figur aufzubieten, die ungeheuer
wichtig fürs Ganze ist: Oscar, das achtjähri-
ge Kind der Nachbarsfrau, zu der Markus
im Film eine schrecklich verzweifelte Be-

ziehung knüpft. Der Sohn, das potenzielle
Opfer. In einer ganz großartigen Szene im
Schwimmbad nimmt dieser Oscar die
Kamera, mit der der Protagonist eben ein
paar unschuldig wirkende, im Kern sehn-
süchtige Bilder von ihm gemacht hat. Das
Kind ist am Auslöser, es fotografiert zu-
rück. Wird vom Objekt zum Subjekt, vom
Gesehenen zum Sehenden. Das klingt
pathetisch, aber zum Schluss begreift
man, warum hier der emotionale Kern der
Geschichte liegt. Man sollte „Kopfplatzen“
bis zu Ende gucken, so oder so.

Kopfplatzenist bis 30. April für 4,90 Euro auf
http://www.salzgeber.de zu sehen.

Kampf gegen

die Triebe

Wie erzählt man aus dem Leben eines Pädophilen?


Ein Treffen mit den Machern des Films „Kopfplatzen“


Die unterschätzte Subversion des Stubenhockers


In diesen Tagen der Isolation gewinnt das Sofa wieder an Bedeutung – auf diesem lümmelnd empfiehlt sich die Lektüre von Gontscharows „Oblomow“


Der Film hätte Anfang April im


Kino starten sollen, jetzt erscheint


er als Streamingpremiere


Welches Buch bietet Trost,
welcher Film beruhigt die Nerven,
welches Kunstwerk weitet
den Blick? Empfehlungen des
Feuilletons für beispiellose Zeiten.

(^10) FEUILLETON Dienstag, 7. April 2020, Nr. 82 DEFGH
„Viele Freunde, mit denen ich über ,Kopfplatzen‘ sprach, wollten mit dem Thema nichts zu tun haben“, sagt Hauptdarsteller Max Riemelt. FOTO: SALZGEBER
Wo ließe sich der Müßiggang besser pflegen? „Liegender Mann auf einem Diwan“
von Theodor Franken (1811 – 1876). FOTO: RAFAEL VALLS GALLERY/BRIDGEMAN IMAGES
ÜBER LEBENSKUNST
Wir verlosen 3 Apple iPads (32 GB mit WLAN) inkl.
SZ Plus Jahresabo Komplett!
Die Welt und Deutschland verändern sich – mit der digitalen
Süddeutschen Zeitung behalten Sie stets den Überblick über
alle Informationen und Hintergründe. Bleiben Sie über das
aktuelle Geschehen und darüber hinaus informiert. Mit dem
Apple iPad inkl. 32 GB Speicher und WLAN erhalten Sie
das SZ Plus Jahresabo Komplett, welches Ihnen Zugang zu
allen Artikeln auf SZ.de und SZ-Magazin.de bietet. Somit
erhalten Sie minutengenaue Berichterstattung zusätzlich zu
Ihrem Print-Abonnement. Unsere Zeitungsapps sind unbe-
grenzt nutzbar und die aktuelle Ausgabe steht Ihnen bereits
ab 19 Uhr am Vorabend zur Verfügung.
Mehr Informationen unter: http://www.sz.de/jahresabo-komplett
Teilnahmeschluss: 20. April 2020
Apple iPad inkl. SZ Plus Jahresabo
Teilnahmebedingungen und Informationen zum Datenschutz finden Sie unter sz.de/teilnahmebedingungen. Ein Gewinnspiel der Süddeutsche Zeitung GmbH · Hultschiner Str. 8 · 81677 München; Alle Fotos: Connolly Weber Photography
Unter Stichwort „iPad“
teilnehmen und gewinnen:
sz.de/abo-exklusiv
3 x Apple iPad und
SZ Plus Jahresabo
gewinnen!

Free download pdf