Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
Der französische Soziologe und Anthropolo-
ge Bruno Latour setzt sich seit vielen Jahren
für ein philosophisch breit gefasstes ökologi-
sches Denken ein. Sein letztes Buch „Das ter-
restrische Manifest“ (auf Französisch: „Où
atterrir?“), 2018 erschienen, stellte die Fra-
ge der Rückkehr auf den Boden der Realität
nach den techno-euphorischen Höhenflü-
gen der Nachkriegsmoderne. In einem Bei-
trag für die Internetzeitschrift AOC (Analy-
se Opinion Critique) führt er aus, warum
der gegenwärtig weltweite Betriebsausfall
der Weltwirtschaft eine Chance für das Um-
denken sein könne, und fügt einen kleinen
Fragekatalog für alle hinzu: Was wollen wir
von unserem Wirtschaftssystem nach der
Corona-Krise behalten, will Latour wissen


  • und weist somit darauf hin, dass es auch
    Teile geben könnte, die man verwerfen
    kann. sz


„Wir machen gerade eine unglaubliche
Entdeckung. Dass nämlich im Weltwirt-
schaftssystem irgendwo doch eine grell ro-
te Alarmlampe vorhanden war mit einem
massiven Schalthebel, den die Staatschefs
einer nach dem anderen nun mit einem
Ruck betätigt haben, um den ,Eilzug des
Fortschritts‘ unter laut kreischendem
Bremsen zum Stillstand zu bringen. War
die Aufforderung zu einem Wechsel bei un-
serem Wachstumsmodell im Januar noch
eine nette Träumerei, ist sie gerade viel rea-
listischer geworden.
Allerdings sehen leider nicht nur Um-
weltschützer in dieser jähen Pause des glo-
balen Produktionssystems eine Gelegen-
heit, ihr Landeprogramm für die Rückkehr
auf den Boden der Realität zur Anwendung
zu bringen. Jene Globalisierer, die seit Mit-
te des 20. Jahrhunderts sich in den Kopf
gesetzt haben, man könne die Begrenzt-
heit des Planeten außer Acht lassen, sehen
ebenfalls eine Chance, die verbleibenden
Hindernisse für ihre Flucht nach vorn aus

dieser Welt noch radikaler aus dem Weg zu
räumen. (...) Wir müssen von der Hypothe-
se ausgehen, dass diese Globalisierer sich
der ökologischen Krise sehr bewusst sind
und dass all ihre Anstrengungen seit fünf-
zig Jahren dahingehen, den Klimawechsel
zu leugnen, gleichzeitig aber seinen Folgen
zu entkommen, indem sie Bastionen für
Privilegierte errichten, die den zahlreichen
Anderen unzugänglich bleiben. (...) Es sind
jene Globalisierer, die sich täglich auf Fox
News zu Wort melden und die von Moskau
bis Brasilia, von New Delhi, über London,
bis Washington am Klimawandel vorbeire-
gieren. (...)
Doch wenn ihnen sich eine Gelegenheit
auftut, dann auch uns. Wenn alles zum
Stillstand gebracht ist, kann alles auch
hinterfragt, überdacht, neu sortiert, end-
gültig ausgesetzt oder, im Gegenteil, noch
stärker vorangetrieben werden. Es ist Zeit
für die Bilanz. Dem Ruf des gesunden Men-
schenverstands: ,Nehmen wir so schnell
wie möglich die Produktion wieder auf‘,
müssen wir mit dem Ausruf antworten:
,Das gerade nicht!‘. Das letzte, was wir nun
tun sollten, wäre, da weiterzumachen, wo
wir zuvor waren. (...)
Wenn wir anfangen, jeder für sich, über
die verschiedenen Aspekte unseres Pro-
duktionssystems uns Gedanken zu ma-
chen, werden wir millionenfach ebenso
wirksame Globalisierungsunterbrecher
sein, wie das durch die Globalisierung
schnell sich ausbreitende Coronavirus es
paradoxerweise ist. Was das Virus über
den Speichelstaub zwischen den Men-
schen zustande brachte, das Aussetzen der
Weltwirtschaft, können wir durch unsere
von Mensch zu Mensch weitergegebenen
kleinen Gesten nutzbar machen. Mit sei-
nen Fragen errichtet so jeder eine Schran-
ke nicht nur gegen das Virus, sondern auch
gegen all jene Teile unseres Produktions-
modells, die wir künftig nicht wiederauf-
nehmen wollen.“

von michael stallknecht

Z


ahllose Streamingangebote geben
momentan ein eindrucksvolles Zeug-
nis davon, dass Künstler auch in Zei-
ten von Vorstellungsabsagen keine Pause
machen. Sondern, dass sie weiter an sich
und ihrer Kunst arbeiten und sie unter fast
allen Umständen einem Publikum zugäng-
lich machen wollen. Doch Geld verdienen
können sie damit nicht, dafür wären sie im
Moment wie viele Selbständige aus ande-
ren Branchen vielmehr auf staatliche Un-
terstützung angewiesen. Tatsächlich hatte
Kulturstaatsministerin Monika Grütters
bereits zu Beginn der Veranstaltungsab-
sagen angekündigt, die Kreativszene bei
Unterstützungsmaßnahmen und Liquidi-
tätshilfen nicht im Stich zu lassen.
Umso nachvollziehbarer ist die Empö-
rung, die sich dieser Tage vor allem in den
sozialen Netzwerken Luft macht. Denn im-
mer deutlicher wird, dass die staatlichen
Hilfsmaßnahmen an der Lebensrealität
von freischaffenden Künstlern vorbei ge-
hen und deshalb in vielen Fällen gar nicht
oder nur begrenzt greifen. Das milliarden-

schwere Hilfspaket des Bundes wendet
sich allgemein an Selbstständige und
Unternehmer, denen vor allem Überbrü-
ckung bei Liquiditätsengpässen zugesagt,
aber auch Steuerstundungen und erleich-
terte Kredite in Aussicht gestellt werden.
Doch in vielen Bundesländern gelten nur
solche Verbindlichkeiten als Engpässe, die
sich aus Sach- und Finanzaufwand für das
laufende Geschäft ergeben, also für Ange-
stellte oder das Büro, für die Abzahlung
bereits laufender Kredite oder die Zahlung
von Rechnungen an andere Firmen. All das
aber sind Kosten, die freischaffende Künst-
ler üblicherweise gar nicht haben. Schrift-
steller brauchen kein Personal, Musiker
kein Büro und Maler zahlen ihre Farben
meistens gleich im Geschäft. Auch Steuer-
stundungen nützen ihnen wenig, da viele
von ihnen ohnehin Geringverdiener sind
und kaum Steuern zahlen. Kredite können
sie erst recht nicht aufnehmen, da sie sie
nie zurückzahlen könnten. Das Ergebnis
ist, dass momentan viele Anträge von
Künstlern abgelehnt werden. Stattdessen
werden sie von den Behörden auf die
Grundsicherung verwiesen, also auf

Hartz IV, das momentan zu erleichterten
Bedingungen ausgezahlt werde.
„Da werden die Tatsachen verdreht“,
sagt David Erler, „wir sind nicht arbeitslos
oder arbeitssuchend“. Der Countertenor
hat sich in einer Petition an das Bundesfi-
nanzministerium gewandt, die inzwischen
von mehr als 280000 Menschen unter-
schrieben wurde. Sie fordern unter ande-
rem Hilfsfonds zum schnellen Ausgleich

entfallender Honorare und unbürokrati-
sche Überbrückungsgelder wie zum Bei-
spiel ein bedingungsloses Grundeinkom-
men. Die bestehenden Maßnahmen be-
rücksichtigten nicht die für Künstler cha-
rakteristische Verquickung von Privatem
und Beruflichem, sagt Erler, also dass er
sich selbst als Unternehmer seinen Lebens-
unterhalt zahlen und seine Familie ernäh-
ren muss. Dass Künstler nun de facto in die
Arbeitslosigkeit abgeschoben werden, sei

nicht nur eine Frage der Künstler-Ehre,
sondern könne auch die bedeuten, dass
man die Grundsicherung von späteren Ho-
noraren teilweise zurückzahlen müsse.
Tatsächlich legen die Bundesländer die
Richtlinien für die Bundeshilfen unter-
schiedlich aus. So fördern Brandenburg
und Thüringen nicht nach Liquidität, son-
dern nach entstandenem Schaden, Ham-
burg gestattet, sich selbst ein Einkommen
von den erhaltenen Mitteln zu zahlen, Bay-
ern und Rheinland-Pfalz decken dagegen
nur Betriebskosten ab. Inzwischen haben
auch der Landesmusikrat und weitere
Verbände in Rheinland-Pfalz gefordert,
Einnahmeausfälle bei Künstlern zu berück-
sichtigen. Sie auf Hartz IV zu verweisen, sei
unter den gegenwärtigen Umständen, so
Musikratspräsident Peter Stieber, ein
„Schlag ins Gesicht eines jeden Freiberuf-
lers“. Dazu kommt, dass viele Länder, oft
bereits vor den Maßnahmen des Bundes,
eigene Hilfsprogramme aufgelegt haben,
was an sich löblich ist, aber den föderalen
Flickenteppich weiter befördert. So stellt
das Land Nordrhein-Westfalen pauschal
und mit wenig bürokratischem Aufwand

jedem 2000 Euro zur Verfügung, der
Mitglied in der Künstlersozialkasse oder
bei einem einschlägigen Verband ist. In
Berlin hat man versucht, Einnahmeaus-
fälle sogar pauschal mit 5000 Euro abzu-
gelten. Das Ergebnis war freilich, dass die
Töpfe innerhalb weniger Tage leer waren,
weil in Berlin einfach zu viele freischaffen-
de Künstler wohnen. Nun verweist man
Antragsteller dort auf das Hilfsprogramm
des Bundes.
Tatsächlich ist es keine Frage, dass der
Bund über kurz oder lang mindestens die
Austeilung der eigenen Hilfen einheitlich
regeln müsste. Bis zu Monika Grütters
freilich scheinen die Probleme der Künst-
ler bislang kaum vorgedrungen. In einem
Interview mit derNeuen Osnabrücker Zei-
tunglehnte sie dieser Tage ein eigenes
Förderprogramm für sie dezidiert ab. Das
Beharren auf einer Sonderrolle der Kunst
sei im Augenblick weniger wert als das
Anerkennen der großen Solidarität. Doch
nicht um eine Sonderrolle geht es hier,
sondern um einen alten Gerechtigkeits-
grundsatz: dass man Ungleiches nicht
gleich behandeln sollte.

Seltsame Zeiten, in denen das Leben auf
seine elementaren Funktionen reduziert
ist, die biologischen, vegetativen. In denen
man sich darauf beschränkt, seine Gesund-
heit zu erhalten. Und deshalb den anderen
meidet, den potenziellen Träger dieser
heimtückischen, unsichtbaren Krankheit.
Seltsame Zeit, in der man sich darüber klar
wird, dass leben mehr ist, als sich am Le-
ben zu erhalten, dass es heißt, mit anderen
zu leben, in Verbindung mit anderen.
Dakar ist eine Stadt, in der die Proxemik
stark ist – ein Konzept, das von Kultur zu
Kultur unterschiedlich ist. In manchen be-
rührt man sich, betastet sich, umarmt sich,
ballt sich zusammen. In anderen hält man
die Körper auf Distanz, grüßt sich mit Kopf-
nicken, beugt den Oberkörper. In Senegal
grüßt man sich, indem man sich berührt.
Man gibt sich die Hand. Manchmal legt
man sie dem andern an die Stirn und ans
Herz. Leben heißt zusammen sein. Man
bildet Gruppen, auf Bänken, in Hausein-
gängen, zum Tee, in Garküchen, in Bussen.
Man bildet einen Gesellschaftskörper.
Die Stadt ist geisterhaft. Die Angst hat
die Seelen befallen. Vor allem die der
Städter, die rund um die Uhr mit ihren
Bildschirmen verbunden sind, die immer
dieselben Informationen verbreiten,ad
nauseam.Die steigende Zahl der Infizier-
ten. Der Tod, der mahlt und mäht. Die
Defizite des Gesundheitssystems. Die
Angst. Immer die Angst.

Ausgangssperre. Von acht Uhr abends
bis sechs Uhr morgens. Am ersten Tag hat
die Polizei alle verprügelt, die zu spät wa-
ren. Trödelnde Jugendliche, Taxifahrer, Fa-
milienväter vor ihrer Wohnungstür. Kran-
kenschwestern und Pfleger, die keinen Bus
für den Heimweg fanden. Diese Kultur
staatlicher Gewalt geht auf die Kolonialzeit
zurück. Unsere postkolonialen Staaten
haben sie für ihre Zwecke übernommen.
Das Volk, ein Vieh, das man in Schach hält
statt es aufzuklären. Der Präsident dieses
Landes hat für diese Aufgabe einen Kom-
missar ernannt, der traurige Berühmtheit
erlangte durch die Brutalität, mit der er bei
den Protesten von 2012 gegen die dritte
Amtszeit von Abdoulaye Wade vorging. Da-
mals gab es ein Dutzend Tote. Die Krise ist
ein Geschenk für die Mächtigen, um die
Schrauben anzuziehen, die Bürgerrechte
einzuschränken und die autoritäre Wende
zu rechtfertigen, von der sie alle träumen.
In Frankreich nutzen sie die Situation
aus, um illegale Einwanderer zu vertreiben
und zu repatriieren, Boden zu gewinnen in
den sogenannten schwierigen Banlieues,
dadurch die Randgruppen zu treffen, die
Armen, die Schwarzen, die Araber. In
Senegal, der Elfenbeinküste, Burkina Faso
nutzt man sie, um die Leute unter die Knu-
te oder die Nilpferdpeitsche zu zwingen.
Man verwandelt ein Problem der öffentli-
chen Gesundheit in eins des Erhalts der
Ordnung. Attackiert jene, die am verletz-
lichsten sind, statt ihnen Unterstützung
zukommen zu lassen.
Afrika ist der Kontinent, der am wenigs-
ten betroffen ist, weil er am wenigsten Teil
ist der globalen Mobilität. Dieses Mal
kommt die Epidemie nicht von hier. Trotz-
dem verlangt die WHO, der Kontinent müs-
se aufwachen und sich für das Schlimmste
wappnen, und Antonio Guterres, der UN-
Generalsekretär, erklärt, es werde hier Mil-
lionen Tote geben. Immer die alte rassisti-
sche Herablassung, die sich nicht die Mühe
macht, die Wirklichkeit wahrzunehmen.
Afrika, das ist eine imaginäre Wirklich-
keit. Dass die meisten afrikanischen Län-
der sehr früh teils drastische Maßnahmen
ergriffen haben, während manche europäi-
schen Länder schliefen, spielt keine Rolle.

Man sagt uns das Schlimmste voraus. Es
ist Afrika! Unvorstellbar, dass der Konti-
nent glimpflich davonkäme. Man vergisst
dabei, dass Afrika eine lange Erfahrung
mit Infektionskrankheiten hat. Und eine
größere Belastbarkeit Schocks gegenüber.
Wir sprechen uns nach der Krise!
Das Virus ist ein Ergebnis des Anthropo-
zäns, einer Zerstörung der Biodiversität
durch eine gedankenlose kapitalistische
Produktionsweise und der Hybris eines
Viertels der Menschheit, der Europäer und
Amerikaner, inzwischen auch der Chine-
sen. Die ganze Welt zahlt den Preis für de-
ren Leichtfertigkeit und Egoismus. Dieses
Virus deckt die Anfälligkeit der Weltgesell-
schaft auf, ihre Ungleichheit, ihren Mangel
an Solidarität. Es erinnert uns, dass wir al-
le dasselbe Schicksal teilen. Niemand wird
den Auswirkungen der ökologischen Krise
entgehen, die bereits im Gange ist.
Seit der erzwungenen Einstellung der
industriellen Hyperproduktion atmen die
Flüsse und Ströme besser, die Fische keh-
ren zurück. Selten habe ich auf der Corni-

che von Dakar so gute Luft erlebt wie in
den letzten Tagen. Doch wir beherrschen
keine Kunst besser als die des Vergessens.
Es steht zu befürchten, dass wir uns nach
der Krise nicht mehr erinnern an das Zei-
chen, das uns Covid-19 gab. Warum sind
wir so blind? Warum ist kein Alarm heftig
genug, um uns daran zu hindern, gegen die
Mauer zu rennen?

Unser Gehirn ist seit dem Präkambrium
darauf programmiert, das Überleben zu si-
chern: essen, sich fortpflanzen, Informatio-
nen speichern, sozialen Status erlangen,
neue Gebiete entdecken. Das Gehirn erle-
digt diese Aufgabe, indem es mit Dopamin
Verhaltensweisen belohnt, die das Überle-
ben sichern. Den „Bug humain“ nennt das
der Neurobiologe Sébastien Bohler. Dieser
bugbringt uns dazu, immer mehr zu konsu-

mieren. Dieses Prinzip, das bis jetzt unser
Überleben sicherte, bedroht es heute.
Wie sollen wir uns zügeln, obwohl unser
Gehirn uns zu Hybris drängt? Religion und
gesellschaftliche Konventionen mäßigen
uns, mit begrenztem Erfolg. Doch das Man-
tra vom hemmungslosen Genießen ist das
meistgeteilte der Welt. Was tun?
Verzichten auf den Traum vom Hyper-
konsum. Für die im industrialisierten Nor-
den bedeutet das, sich mühsam des Kon-
sums zu entwöhnen. Für die im Süden, die
in erzwungener Kargheit leben, bedeutet
es Verzicht auf das Traumbild der westli-
chen industriellen Modernität und dieses
Modells der Zivilisation. Eine andere erfin-
den. Diese Krise ist die Gelegenheit dafür.

Felwine Sarr,geboren 1972, lehrt Ökonomie in
Saint-Louis, Senegal. Gemeinsam mit Bénédicte
Savoy schrieb Felwine Sarr den Restitutionsbericht
für Präsident Macron. 2019 erschien von ihm der Es-
say „Afrotopia“ (Matthes & Seitz).

Aus dem Französischen von Fritz Göttler.

Dass die Länder Hilfsprogramme
aufgelegt haben, ist löblich,
befördert aber den Flickenteppich

„I’m New Here“ war vor zehn Jahren
das letzte Album des Dichters, Pianis-
ten und Pionier des Black Arts Move-
mentGil Scott-Heron. Kurz vor seinem
Tod wandelte sich sein Furor, mit dem
er politische Hymnen für die Ewigkeit
verfasst hatte („The Revolution Will Not
Be Televised“, „Whitey On The Moon“,
„B-Movie“) in eine Melancholie, die sich
mit bedrückender Intensität nach innen
richtete. Es gibt kaum einen Song, der
die Qual einer durchwachten Nacht so
gut nachvollziehbar macht wie „Where
Did The Night Go“, und auch wenn Scott-
Heron da seine Drogensucht verarbeite-
te, wird jeder von Sorgen Geplagte sich
darin wiedererkennen.
Gemeinsam mit dem britischen Pro-
duzentenRichard Russellproduzierte
der Dichter damals quer über den Atlan-
tik sein persönlichstes Album, das nun
einerseits in einer erweiterten Jubilä-
umsausgabe erscheint (XL Recordings),
das aber auch vom Jazzschlagzeuger
Makaya McCraven
neu instrumentiert
wurde. „A Reimagi-
ning“ nennt er
seine Neuaufnah-
me „We’re New
Here“ (XL Recor-
ding), auf der nur
Scott-Herons Stimme geblieben ist.
Besagtes Stück über die Schlaflosigkeit,
das im Original von einem dumpfen
Elektrodröhnen begleitet wird, ist bei
McCraven eine minimalistische Kompo-
sition mit Flöte, akkordgezupftem Bass
und sparsamem Schlagzeug.
McCraven war nicht der erste, der
sich Scott-Herons Spätwerk vorgenom-
men hat. Der britische Dubstep-Meister
Jamie XXhatte das Album schon ein-
mal komplett überarbeitet, Drake und
Rihanna machten daraus wiederum
ihren Hit „Take Care“. McCraven wird
dem Geist des Dichters allerdings ge-
rechter. Was ihm nun nicht nur viele
Jubelkritiken einbrachte, sondern auch
eine Schlüsselstellung in einer jungen
Jazzszene in Chicago, die sich noch
weiter als ihre Zeitgenossen in New
York, London und dem Rest der Welt
von den Dogmen ihrer Musik absetzt.
Was sie da im Mittleren Westen vor
allem beherrschen ist es, das Persönli-
che und Innerste nach außen zu kehren.
Der Schlagzeuger und DJKassa Overall
zum Beispiel. Der
spielte lange für
Geri Allen und im
Quartett des Trom-
peter Theo Croker,
gehört zuTerry
Lyne Carringtons
BandSocial Sci-
ence, die mit „Waiting Game“ ( Ajari) ein
hochpolitisches Meisterwerk ablieferte,
das vom Hip-Hop bis zum Free Jazz
einen extrem weiten Bogen spannte.
Auf seinem ersten Soloalbum „I
Think I’m Good“ (Brownswood) wagt
sich Overall tief in die eigenen Abgrün-
de. Da dokumentiert er die Wege in die
Heime und Anstalten, in die ihn seine
psychischen Probleme immer wieder
brachten. Mit der Zeitlupen-Ästhetik
des Trap und dem Rhythmusverständ-
nis eines Elvin Jones schafft er da ähn-
lich wie Scott-Heron seinen eigenen
Kosmos der Albträume.
Noch einen Schritt weiter in die eige-
ne Biografie geht der Schlagzeuger
Jeremy Cunnigham. Auf „The Weather
Up There“ (Northern Spy) verarbeitet er
die Geschichte, als er Zeuge wurde, wie
Einbrecher seinen
Bruder erschossen.
Produziert hat ihn
der GitarristJeff
Parker, der im
vergangenen Jahr
mit „Suite for Max
Brown“ die Ge-
schichte seiner Mutter in eine dieser
Klang- und Rhythmuslandschaften
verarbeitete, mit denen sie in Chicago
gerade ganz neue Wege freimachen.
Man könnte all diese Alben ineinan-
der mischen und bekäme ein mehrstün-
diges Mammutwerk von Künstlern
einer Generation, die mit den Qualen
ihres Innenlebens so souverän umge-
hen, dass sie darüber eine gemeinsame
Sprache finden, die von der freien Im-
provisation über die Collagetechniken
der „Found Objects“ bis zum Hip-Hop,
von der Selbstreflexion bis zum politi-
schen Ausbruch vieles auf einen Nenner
bringt, was jeweils eine eigene Welt zu
sein schien. Und genau da zeigt sich die
Größe in Makaya McCravens Neuerfin-
dung des Gil Scott-Heron-Albums, das
durch ihn eine Zeitlosigkeit bekommt,
die es bisher nicht hatte.
Was sich auch durch diese Alben
zieht, ist die Suche nach einer Schön-
heit im musikalischen Experiment, die
sich manchmal erst im Subtext ergibt.
Deswegen noch ein kurzer Schlenker
nach Hannover, das mit Chicago nicht
viel, aber vielleicht doch diese geistige
Haltung gemeinsam hat, das man sich
in der Stadt mangels Glamour nur nach
innen beweisen muss. Da gibt es ein
17-köpfiges Ensemble mit dem etwas
unglücklichen NamenFette Hupe, das
sich unter der Leitung des Schlagzeu-
gers Timo Warnecke und des Dirigen-
ten Jörn Marcussen-Wulff einen ver-
blüffenden Sinn für Schönheit erarbei-
tet hat. Auf ihrem neuen Album „Mo-
dern Tradition“ (Berthold) schwebt das
Klangbild der
Bläsersätze mit
einer Spannung
über den Grooves,
wie man es schon
lange nicht mehr
erlebt hat.
andrian kreye


Die Globalisierer errichten
Bastionen, um selbst den Folgen
des Klimawandels zu entgehen

Bisher sicherten Konsum, Status,
Expansionsdrang das Überleben.
Jetzt gefährden sie es

WELT
IM FIEBER

Vor leeren Töpfen

Die von der Kulturstaatsministerin Monika Grütters angekündigten unbürokratischen Hilfen für Künstler greifen nicht immer.


Viele bewerben sich jetzt um Hartz IV. Tausende unterschreiben eine Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen


Fehler im Gehirn


Man sagt Afrika das Schlimmste voraus. Dass es glimpflich davon kommen könnte, ist nicht vorstellbar


DEFGH Nr. 82, Dienstag, 7. April 2020 (^) FEUILLETON HF3 11
Die Stadt ist geisterhaft, die Angst hat die Seelen befallen: Ein Arbeiter versprüht in Dakar Desinfektionsmittel, um die
Ausbreitung des Virus einzudämmen. FOTO: JOHN WESSELS/AFP
JAZZKOLUMNE
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT
Denken mit
Mundschutz
Das Virus trifft die ganze Menschheit.
Einige Orte erfasst es früher,
andere später. Sechs Literaten aus
sechs Ländern führen eine
globale Chronik. Heute: Senegal

Free download pdf