Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
von willi winkler

M


it der Post kommt ein Trumm von
Buch, Familienbibelformat, gut
fünf Pfund schwer, bestes Papier,
säure- und auch sonst beständig mindes-
tens bis ins nächste Jahrhundert, enthal-
tend aber im vollständigen Faksimile die
wohl vergänglichste Literaturzeitschrift,
die es je gab,Zwischen den Kriegen,von
Ende 1952 an dreieinhalb Jahre lang in
unregelmäßigen Abständen erschienen,
Auflage 120 hektografierte Stück, gelegent-
lich sogar schwindelerregende 150.
Diese Ausgabe ist eine verlegerische
(oder vielmehr mäzenatische) Großtat, die
den Ur-Autoren, wären sie noch am Leben,
die Tränen in die Augen treiben würde.
Was für ein Aufwand für ihre kleinen und
größeren Verse und eifrigen Aufsätze, für
diese Schinderei mit den Matrizen, abge-
zogen auf einer Wäscherolle! Die Dichter-
jünglinge Peter Rühmkorf und Werner Rie-
gel schrieben, aufgeplustert und verstärkt
durch mehrere Pseudonyme, die Beiträge
für ihr Blatt fast alle selber und versandten
die Hefte, getippt von Almut Bock, an mehr
vermutete als echte Leser mit der Beteue-
rung, sie seien „kein Geschäftsunter-
nehmen“. Auch kleinste Spenden waren
willkommen.


Die Form war aus der Not geboren: Die
beiden Dioskuren waren so arm, wie es nur
die Boheme erlaubt. Riegel leistete sich
zwar den Luxus einer Familie mit Frau und
Kind, aber die drei bewohnten nicht mehr
als ein größeres Zimmer, in dem sich auch
eine Bibliothek mit tausend expressionis-
tischen Rara befand und wo nächtens bei
Zigaretten und sehr viel Alkohol die Redak-
tionssitzungen abgehalten wurden. Tags-
über wirkte Riegel als Bürobote, während
Rühmkorf noch auf Lehramt studierte und
jede Art Studentenjob annahm, darunter
auch Sandwich-Mann, Kaffee-Mohr und
Anpreiser der 1952 erstmals erscheinen-
denBild.
Die Zeitschrift sollte dem Abdruck von
Gedichten dienen, „zumal unserer eige-
nen“, wie Rühmkorf rückschauend ein-
räumte, „aber auch der Verbreitung von
politischem Widerstandsgeist“. Genau dar-
an mangelte es in den ersten Jahren der
Bundesrepublik, in der Kultur jedenfalls
oder an der Universität, in der Politik erst
recht. Konrad Adenauer betrieb mit Kom-
munismusfurcht die Wiederaufrüstung,
was die Rehabilitierung der ehemaligen
NSDAP- und SS-Angehörigen einschloss.
Zwischen den Kriegenwar radikal pazi-
fistisch und ebenso radikal literarisch, ei-
ne Sumpfblüte des spezifisch Hamburgi-
schen Untergrunds, zu dem Kommunisten
aus dem Hafen, jüdische Re-Migranten
und etliche Studenten gehörten, die auf
eine Karriere in den bewährten Medien aus
waren. Klaus Rainer Röhl und Rühmkorf
priesen sich in einem Kabarettprogramm
als „KZ-Anwärter des 3. Weltkriegs“ an,
und Riegel und Rühmkorf erfanden eine
endgültige Kunstrichtung namens „Finis-
mus“ mit genau zwei Aktivisten, ihnen
beiden. Die Zeitschrift hätte ein besserer
Studentenscherz werden können, zeigte je-
doch dafür zuviel erbittertes Literatentum
im stolzen Bewusstsein, damit ganz allein
in der Welt zu sein. „Wir haben wenigstens
keine Anhänger“, protzte Riegel in einem
Brief an ihren glühendsten und einzigen
Anhänger.
Der TitelZwischen den Kriegenwar kein
Witz, sondern todernst gemeint. Riegel
und Rühmkorf verstanden sich als „Sys-
tembildner“ gegen die gesamte Nach-


kriegswelt. Politisch schlugen sie die „Hei-
nemannrichtung“ ein, nach dem Innenmi-
nister im ersten Kabinett Adenauer, der
die Remilitarisierung des Kanzlers nicht
mitmachen wollte, weil er dadurch die
deutsche Einheit gefährdet sah. Der ange-
hende Germanist Rühmkorf klagte über
die Zustände an der Hamburger Universi-
tät: „Es fehlt hier ja allenthalben an Geist
von links.“ Hans Pyritz, bei dem er im Semi-
nar sitzt („Pyritz selbst ist ein ganz großes
Arschloch“), war, was Rühmkorf nicht
wissen konnte, SA- und NSDAP-Mitglied
und dazu fürs Amt Rosenberg tätig gewe-
sen und selbstverständlich gegen einen
„Arbeitskreis progressive Kunst“, der sich
da unter seinen wachsamen deutschnatio-
nalen Augen bildete.
Mitten im aufschießenden Wirtschafts-
wunder kehrte Riegel mit seinem Unter-
nehmen (denn im Wesentlichen ist es doch
seines) freiwillig in die Armut zurück. Der
Schlachtruf einer ganz eigenen Arte Pove-
ra, „Wir proklamieren den Hektographis-
mus!“, richtet sich gegen die „Einsegnungs-
jünglinge um den Kilometerstein 47“ (ge-
meint ist die gleichzahlige Gruppe), gegen
jede Art anerkannter Literatur, gegen fast

alles. Vom „Restauratorium“ ist gern die
Rede, auch von der „klerikalfaschisti-
schen“ Demokratie.
Adenauer ist der „Asinissimus“, der
oberste Esel, und Bundespräsident Heuss,
der ehemalige Journalist, wird zum „Sitz-
redakteur der Republik“ ernannt. Aber
was ist schon zu gewinnen gegen eine
Front, wo der „ästhetische Philphras, der
Dutzenddemokrat amerikanischer Unart
neben dem permanenten Nazi mit dem
Kruppstahlrückgrat, der Gelegenheitsfa-
schist neben ausgesprochenen Verbrecher-
naturen mccarthysanischer Nationalnarr-
heit“ steht?

In einem Brief an seine Mutter formu-
lierte Rühmkorf einen Vorsatz für eine Art
Futur II, wonach er sich wünscht, dass es
irgendwann heißt, die Zeitschrift habe „die
Zeit im Geistigen geprägt“. Davon kann
aber keine Rede sein, das Programm war
zu heroisch, um überhaupt als Programm

aufzufallen. Stolz meldete Riegel einem
Korrespondenten, „daß Zwischen den
Kriegen die einzige zutiefst literarische
Zeitschrift Deutschlands ist, daß sie von
einer Literatur handelt, die es offiziell über-
haupt nicht gibt, und daß man eine literari-
sche Zeitschrift machen kann, ohne von
der offiziellen Literatur mehr als nur im
Vorbeigehen polemisch Notiz zu nehmen.
Dazu: hektographiert, selfmade-magazi-
ne, es ist zu schön, um wahr zu sein, und
dennoch wahr.“
Darum kann Rühmkorf als Insider-
scherz den Beiträger Leo Doletzki sterben
lassen (also sich) und ihm als Rühmkorf ein
Epitaph widmen, das autobiografisch und
zugleich klassischer Künstlerbiografen-
kitsch ist: „Im Grunde wie am Ende war es
eine existentielle Revolte gegen alles, was
Manier, Eleganz, Urbanität, was Eloquenz
und Bescheidenheit war.“
Die Literatur, die es offiziell nicht gibt,
existiert doch, hektografiert geht sie ins
Volk, also an die paar Dutzend Auserwähl-
ten, die wenigstens ahnen, wovon die Rede
ist. Rühmkorf als Leslie Meier kann sich
nicht immer entscheiden, ob er Gottfried
Benn nacheifern oder ihn parodieren soll:

„Ein Tief über Irland, ein ungesungener
Psalter –/Untergang so oder so./Lockert
schon die Geliebte den Büstenhalter,/Löse
die Strümpfe im dämmernden Indigo.“
Seit Rilke war die Reimbereicherung durch
Fremdworte erlaubt, doch Psalter/Büsten-
halter scheint bereits auf den volksvermö-
genden Mike Krüger vorauszudeuten.
Riegel findet Benn bei einer Lesung in
der Hamburger Uni vom Aussehen „unbe-
deutend“ (Rühmkorf erinnert er an Musso-
lini), doch bleibt er sein Hausgott, dem er
schamlos opfert: „Nimm dein Messer vom
Bord, schlachte die Schwäne./Wirf den pur-
purnen Stein in das Spiegelbild./Schlage
dein Wasser ab am verwitterten Haupt der
Athene,/Ins verwesende Laub, das ihre
Augen füllt.“ Auch im weiteren Angeber-
Griechenland geht es nicht ohne Nausikaa
und Odysseus, Mona Lisa wird bemüht
und der unglückliche Kain, aber dann wie-
der kann er überraschen, reimt in seiner

„Finistischen Introduktion“ Leichtmetall
auf Nachtigall: „Über dem herben Idyll
schwingt sich der weite gefleckte/Himmel
aus Leichtmetall./Ich singe Päan, die End-
und Verfallsdialekte, /Die Nänien der sty-
gischen Nachtigall.“ Wer mag, findet hier
das Missing Link zum frühen Enzensber-
ger, der 1957 mit seiner „verteidigung der
wölfe“ bereits wesentlich eleganter und
schnittiger debütierte. Der anmerkungs-
fleißige Herausgeber Martin Kölbel kann
belegen, dass der mit Rühmkorf gleichaltri-
ge Enzensberger die Zeitschrift las.
Die Nänien dieser Hamburger Nachti-
gallen waren alles andere als volksnah, die
beiden dichteten entschlossen ohne Ge-
schäftssinn, stefangeorgisch fast, aber
statt derBlaetter fuer die Kunstbrachten
sie (Untertitel)Blätter in die Zeit, später,
passender,gegen die Zeitheraus, die so gut
wie nichts von ihrem poetisch-politischen
Treiben merkte. Immerhin schrieb der
nicht wesentlich ältere Dieter Wellershoff,
bereits über Benn promoviert, in der Deut-
schen Studentenzeitung 1953 Rühmendes,
Hans Blumenberg rümpfte streng die Nase
über die Finisten (SZ vom 8. Februar 2019),
aber sonst blieben Zeitschrift wie Finis-
mus unter der Wahrnehmungsschwelle
der voranstrebenden Fünfziger. Dann je-
doch traf aus London die Postkarte eines er-
klärten Atheisten ein: „Gottseidank, dass
Ihr endlich daseid!“ Der Publizist Kurt Hil-
ler, Jahrgang 1885, schrieb ihnen, ein pro-
movierter Jurist, als Jude, Kommunist und
bekennender, kämpferischer Homosexuel-
ler 1933 in Oranienburg inhaftiert, über
Prag nach England geflohen – ein Emi-
grant erkannte sie.
„Brutal aber scharmant“, nannte er die
Autoren, lobte ihre Arbeiten als „tausend
Eiffeltürme über allem in Neudeutsch-
land“. Als leibhaftige Verbindung zur Welt-
bühne Tucholskys und zum Expressionis-
mus wurde er ihr einziger Mentor. „Lebten
über Jahre nur vom Eigenlob und von den
begeisternden Hifthornklängen, mit de-
nen Kurt Hiller unsere literarischen
Treibjagden von London aus begleitete“,
seufzte Rühmkorf später in seinen früh
vollendeten Memoiren.
Der Spenglerianer Riegel stand Hillers
Idee einer „Logokratie“, in der die Intelli-
genteren über mehr Stimmgewicht verfü-
gen sollten, nicht gar so fern, denn inZwi-
schen den Kriegenwurde die Verachtung
des Gegenwartsangebots mit dem Elitis-
mus der absoluten Außenseiter verknüpft.
Die selbstgebastelte Zeitschrift war nicht
nur unzeitgemäß, sondern im Rückgriff
auf die unbedingte Moderne eines radika-
len Expressionismus sogar antimodern.

Dort, in der Menschheitsdämmerung des
Ersten Weltkriegs, suchten die Kinder des
Zweiten Weltkriegs ihre Neigungsväter.
Zum Bespiel Jakob van Hoddis, der in
Schülerzeitungsmanier – die bekannte
Hamburger Urheberrechtskanzlei, die un-
ter anderem Rühmkorfs Rechte wahrt,
gab’s damals noch nicht – einfach geklaut
wird. Hier muss ein höheres Recht gelten,
das der Kunst. Entrissen wird nicht bloß
das berühmte Gedicht „Weltende“ („Dem
Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“),
sondern es folgt ein Dossier, Erinnerungen
von Kurt Hiller und Ludwig Meidner und
im Heft darauf weitere Ergänzungen.
Die Enthusiasten zeigen den Fachger-
manisten, was diese veruntreuen. Mangels
zureichender Gegenwart spiegeln sie sich
in dieser edlen Vergangenheit, wenn es in
der biografischen Einführung zu Hoddis
heißt, „und so waren es nur wenige Freun-
de, die sich um van Hoddis versammelten,
ein Vorgang, der nicht vereinzelt ist, und
unser Volk der Dichter und Denker hat sich
dessen noch nie geschämt“.
Für seine Rückkehr nach Deutschland
suchte Kurt Hiller Bundesbrüder und
drängte seine Finisten deshalb zum Ver-
lassen der Literaturklause und in den
politischen Aktionismus. Rühmkorfs „Ge-
nieprosa“ erkennt er an, beklagt aber
dessen „spießbürgerlich-laotseanisch-pas-
sivistisch-konservatives Zyniker-ICH“. An
guten Tagen vergleicht er ihn mit Lessing
und Lichtenberg und nennt ihn, was für
ein Lob!, den „Einzigen, der denkerisch
und künstlerisch anknüpft an den geisti-
gen Tatbestand vom 30ten Januar 1933,
morgens“ und erkennt früh, dass der Dich-
ter Rühmkorf dem gleichnamigen Polemi-
ker unterlegen ist: „Ich hoffe, er hängt die
Lyra ins Spind und nimmt sie nur noch bei
(subjektiv) extrawichtigen Anlässen her-
aus, um sie zu schlagen; während er die
Prosa-Orgel fortan sozusagen täglich be-
dient.“ Von der eigenen heroischen Dichter-
jugend, als sie, „auf der Höhe unserer
geistigen Zerfaserungen“, brüderlich ver-
eint gegen alle anderen standen, fand
Rühmkorf in Hillers Memoiren nichts
mehr wieder; der Lehrer strafte ihn durch
Nichterwähnung.

Der Antikommunist Hiller setzt dafür
ausgerechnet auf Klaus Rainer Röhl, der
mit den Mitarbeitern Rühmkorf und Rie-
gel 1955 denStudentenkurierstartet, das
spätere konkret, und dafür früh heimlich
mit den Kommunisten der DDR anbän-
delte, weil ihm das Geld doch näher war als
jede Überzeugung.
Im Sommer 1956 starb Werner Riegel
plötzlich im Alter von erst 31 Jahren und
wurde in diesem Drei-Dichter-Todesjahr
von keinem Geringeren als Arno Schmidt
einer Elegie gewürdigt: „Wehe die wanken-
den Reihen des Geistes! :/Brecht stirbt;
Benn ist tot; macht ein Kreuz hinter Rie-
gel.“ Mit ihm starb sein unbekanntes
MeisterwerkZwischen den Kriegen, deren
„Folgenlosigkeit selbstverständlich ist“,
wie er dichterstolz erklärte. Sie braucht
auch keine Folgen zu haben, aber was für
ein Glück, dass die Zeitschrift aus dem
Archiv gerettet wurde und jetzt fremd und
herrlich wie ein Meteoritenstein vor dem
nachgeborenen Leser liegt, der sie an die
geneigte Leserin gelehnt staunend durch-
blättern wird.

Zwischen den Kriegen. Blätter gegen die Zeit. Eine
Zeitschrift von Werner Riegel und Peter Rühmkorf.
Herausgegeben von Martin Kölbel. Wallstein Ver-
lag, Göttingen 2019. 626 Seiten, 50 Euro.

Literatur ist immer dann am bes-
ten, wenn sie nach Jahrzehnten
noch so frisch wirkt, als sei sie gera-
de erst geschrieben worden. Der
amerikanische Krimiautor James
M. Cain etwa wurde in den 1930er-
Jahren mit seinen Hardboiled-Kri-
mis „Wenn der Postmann zweimal
klingelt“ (1934) und „Doppelte
Abfindung“ (1936) berühmt. Beide
wurden bereits mehrfach verfilmt.
Doch ist es sein vierter Roman
„Mildred Pierce“ (1941), mit dem
ihm jenseits seines Hauptgeschäfts
ein Werk von zeitloser Schönheit
und Aktualität gelang. Zugleich
Milieustudie und feministisches
Porträt zeigt Cain darin die Nöte
der einst Wohlhabenden im kalifor-

nischen Glendale während der
Großen Depression, aber auch die
Anmaßung, Gier und Oberflächlich-
keit, mit der die Mittelschicht sich
weiterhin für etwas Besseres hält.
Aus diesem Umfeld versucht die
junge Mutter Mildred Pierce das
Beste zu machen. Ihr Ehemann
Bert war einst eine gute Partie, jetzt
ist er arbeitslos und zu stolz, um
Hilfe anzunehmen. Cain stellt amü-
siert fest: Er „konnte sich unmög-
lich dazu durchringen, zuzugeben,
dass sein Erfolg reines Glück und
abhängig von den äußeren Umstän-
den gewesen war und nichts mit
seinen persönlichen Fähigkeiten zu
tun hatte.“ Mildred jagt ihn aus
dem Haus und ist nun eine soge-
nannte Grüne Witwe: verheiratet,
aber dennoch alleinerziehend. Die-
se Figur macht Cain zum Gegenent-
wurf des von der Großen Depressi-
on schwer beschädigten Männlich-
keitsideals. Die Frauen springen
ein, auch Mildred nimmt ihr Schick-
sal in die eigene Hand. Sie baut sich
ein Geschäft auf und genießt es,
unabhängig von Männern zu sein.
Als „working mom“ muss sie sich
immer wieder gegen die intrigante
Arroganz ihrer Tochter Veda durch-
setzen, die in Cains Krimis wohl als
Femme fatale agiert hätte. Der
Weltschmerz der Noir-Romane
wird in Mildred jedoch zu einer
realen Resignation, aus der ein
unsentimentaler Pragmatismus die
Kraft zum Weitermachen generiert.
Mildred ist damit in gewisser Weise
auch der lebensweltliche Gegenent-
wurf zu den Femmes fatales und
gerade deshalb so zeitlos.
sofia glasl

Mich laust der Affe, meint der alte
Mann zu Delpha Wade: Sie haben
das Profil von Madeleine Carroll.
Delpha kennt den blonden Star
nicht, sie ist zu jung, und auch Tom
Phelan nicht, ihr Boss. Er hat Del-
pha zur Mitarbeiterin des Detektiv-
büros gemacht, als die dringend
einen Job suchte, eben entlassen
aus dem Gefängnis Gatesville. Sie
hatte einen Mann getötet, der sie
vergewaltigte – davon hat Lisa
Sandlin im ersten Buch, „Ein Job
für Delpha“, erzählt. In Gatesville
gab’s an den Filmabenden nur Do-
ris Day und Elvis. Beaumont, Te-
xas, die Siebzigerjahre, ein heißer
Sommer, Nixon ist verstrickt in die
Watergate-Affäre. Ein entspanntes
Panorama des Kleinstadt-Amerika,
eine Bibliothekarin, deren Mini-
kleid nicht dem Arbeitsplatz gemäß
ist, ein aufsässiges Mädchen, das
einen mystischen zweiten Blick hat,
ein Brüderpaar, über siebzig, das
durch eine düstere Familienge-
schichte verbunden ist. Der eine
verbirgt sich, der andere lässt ihn
suchen, durch die Agentur. Ich bin
ein Cineast, sagt er, so kommt
Madeleine Carroll ins Spiel, der
Star aus Hitchcocks The 39 Steps.
Am Ende verkriecht er sich ins
Kino, zum High Plains Drifter von
Clint Eastwood. fritz göttler


„Einer sentimentalen Verklärung
seiner Person hätte er sich be-
stimmt widersetzt. Und er wäre
vermutlich auch nicht einverstan-
den damit gewesen, ihn als Vorbild
zu nehmen“. Alois Prinz hält sich in
seiner Biografie des Widerstands-
kämpfers Dietrich Bonhoeffer – am




    1. ist der 75. Todestag seiner
      Ermordung im KZ Flossenbürg –
      an seine Vorgaben. Er will dessen
      Bedeutung für die heutige Zeit
      hervorheben. Bonhoeffers theologi-
      sche Schriften und Tagebücher
      sowie die Erinnerung von Zeitzeu-
      gen erzählen von einem Menschen,
      dessen Charakter sehr unterschied-
      liche Facetten aufweist. Der als
      Intellektueller mit den führenden
      Theologen im Gespräch und Disput
      war und ein sehr eigenes Gottesbild
      hatte. Der Glauben als etwas ansah,
      das im Leben in Taten umgesetzt
      werden muss, was er selbst tat in
      seiner Arbeit als Gemeindepfarrer,
      aber auch gegen die kirchliche und
      weltliche Obrigkeit. Geprägt wurde
      Bonhoeffer, 1906 geboren, durch
      seine großbürgerliche Familie, als
      junger Theologe erfuhr er die Zerris-
      senheit der evangelischen Kirche
      im Umgang mit dem NS-System.
      Das er bekämpfte, auch als Geheim-
      agent von Admiral Canaris.
      roswitha budeus-budde




Ein populistischer Politiker mit
Aussichten auf höhere Ämter, der
das Volk mit seinem Charisma
bannt, dessen Mutter esoterisch
anderer Leute Energien befeuern
oder blockieren kann, ist unfrucht-
bar – ein Problem in Südamerika,
in Argentinien, wo er zum Präsiden-
ten gewählt werden will. Er lässt
seine Frau mit dem Privat-Sekretär
das Kind zeugen, das als sein Sohn
ausgegeben wird. Der Roman be-
ginnt mit der Entführung des Klei-
nen durch den leiblichen Vater.
Zunächst liest es sich wie ein inter-
essanter Roman aus der Welt neu-
reicher Potentaten, dann will der
kommende Präsident den Entfüh-
rer seines vorgeschützten Sohnes
festsetzen lassen, aber der kennt
die mafiösen Mordmethoden sei-
nes Chefs und kommt ihm, umsich-
tig, mit seinen Mitteln zuvor. Ein
Krimi, der gut endet, wo es zwar
eine Leiche gibt aufgrund eines
Missverständnisses, aber der Witz
am Buch und der Autorin ist, dass
sie in einem südamerikanischen
Setting allgemein menschliche
Fragestellungen in Szene setzt,
zum Beispiel, gemäß Hegel, die
Abhängigkeit des Herrn von seinem
Knecht. Hier wäre das kaum an-
ders, das macht die Geschichte
universell. rudolf von bitter

Gestandene Bäuerinnen: Zwei Jah-
re lang haben die Geschwister Ma-
ria und Zenzi vom Dammerlhof im
Bayerischen Wald Christine Zuppin-
ger aus ihrem Leben erzählt. Die
Ethnologin hat zugehört und vor
über zehn Jahren das Buch „Schwal-
bennester“ über die zwei ledigen
Frauen herausgebracht. Nun gibt es
eine Wiederauflage, in der man den
resoluten Mitsiebzigern und ihren
vom Dialekt geprägten Geschichten


  • in den Worten Marias „Gedanken,
    gekittet wie Schwalbennester, da-
    mit sie einen Sinn ergeben“ – er-
    neut begegnen kann. Das Leben
    war arbeitsreich, doch es gab Ab-
    wechslung. Zenzi spielte Zither,
    Maria Gitarre. Zenzi hielt sich mit
    den „Fünf Tibetern“ fit – zu ihr
    kam man, wenn man medizinische
    Tipps benötigte. Maria zeichnete,
    restaurierte Möbel. Die Zeit verän-
    derte das bäuerliche Leben, nicht
    die Bäuerinnen. „Viele hier vom
    Dorf haben verkauft (...) Jetzt sitzen
    sie in ihren neuen Stuben herum
    und langweilen sich“, heißt es ein-
    mal süffisant, ein anderes Mal wird
    es philosophisch. „Vielleicht aber
    braucht man von der Welt nicht so
    viel sehn wie man meint.“ Einpräg-
    same Fotografien von Haus und
    Hof, Maria und Zenzi runden das
    Buch ab. florian welle


Mitmachen und sich zugleich in
Unwissenheit suhlen: im 20. Jahr-
hundert ist die Kulturtechnik des
Unpolitischen zur Perfektion ge-
reift. Ihre Mechanismen legt Rober-
to Bolaño anhand der Lebensbeich-
te des fiktiven Chilenen Sebastián
Urrutia Lacroix frei. Der erfolgrei-
che Literaturkritiker, Schmalspur-
dichter und Priester beteuert im
Sterben liegend, wie sehr er mit
sich im Reinen sei, um sodann in
eine mäandernde Rechtfertigungs-
suada mit beeindruckender Sogwir-
kung zu verfallen. Lacroix erzählt
unzuverlässig und flüchtet sich in
ihn selbst entlarvende Anekdoten.
Traum, Wunsch und Wirklichkeit
fallen zersplittert ineinander. Die
katholische Kirche schickt ihn im
Kampf gegen Taubenexkremente
quer durch Europa. Sonst ergötzt er
sich am Leben inmitten der chileni-
schen Kulturschickeria, quittiert
den Tod Allendes mit „Welch ein
Frieden“ und gibt dem Diktator
Pinochet Nachhilfe in Marxismus.
Ein über Jahrzehnte von Ästhetizis-
mus und Gewohnheit erschlagener
Mensch, der natürlich nichts von
Folterkellern mitbekommen hat
und das Ende der Aufklärung in
einem Satz zu formulieren vermag:
„Ich bin stets mit der Geschichte
gegangen.“ volker bernhard

Claudia Piñeiro:
Der Privatsekretär
Thriller. Aus dem Spani-
schen von Peter Kultzen
Unionsverlag, Zürich
320 Seiten, 13,95 Euro.

Christine Zuppinger:
Schwalbennester. Zwei
ledige Bäuerinnen erzäh-
len. Steidl Pocket, Göttin-
gen 2020. 96 Seiten,
12,80 Euro.

Lisa Sandlin:Family
Business. Ein Fall für
Delphi. Aus dem Engli-
schen von Andrea
Stumph. Suhrkamp Berlin


  1. 357 Seiten,
    10 Euro.


Alois Prinz: Dietrich
Bonhoeffer. Sei frei und
handle! Insel Taschen-
buch, Berlin 2020.
270 Seiten, 10 Euro.

James M. Cain:Mildred Pierce. Aus dem
Englischen von Peter Torberg. Arche
Verlag, Zürich 2020. 416 Seiten, 12 Euro.

Roberto Bolaño: Chileni-
sches Nachtstück.
Fischer Taschenbuch,
Frankfurt am Main


  1. 160 Seiten,
    13 Euro.


Die Nänien dieser
Hamburger Nachtigallen waren
alles andere als volksnah

Im Sommer 1956 starb
Werner Riegel plötzlich, im
Alter von erst 31 Jahren

Den Beiträger Leo Doletzki (also
sich selbst) ließ Rühmkorf sterben
und widmete ihm ein Epitaph

Die Zeitschrift war radikal


pazifistisch und


ebenso radikal literarisch


Schwäne schlachten

Gegen das „Restauratorium“: Peter Rühmkorfs und Werner Riegels


Zeitschrift „Zwischen den Kriegen“ in einer opulenten Faksimileausgabe


„Brutal aber scharmant“: Der Dichter, Germanist und Redakteur Peter Rühmkorf. FOTO: DEUTSCHES LITERATURARCHIV MARBACH

(^12) LITERATUR Dienstag, 7. April 2020, Nr. 82 DEFGH
Kleinstadt -
Amerika
Glauben
in Taten umsetzen
Unabhängig von Männern zu sein –
James M.Cains „Mildred Pierce“
Früchte
des Ehrgeizes
Gekittete
Gedanken
Künstler
des Mitlaufens
NEUE TASCHENBÜCHER

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