Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
von laura hertreiter

W


as der Mensch wirklich braucht,
das hat sich in der Coronakrise
schlagartig verändert. Und damit
auch, was er herstellt und welche Jobs ge-
fragt sind. Die einen arbeiten deshalb in
diesen Tagen bis zum Umfallen. Kranken-
pfleger, Ärztinnen, Kassierer. Die anderen
weniger oder gar nicht mehr. Autobauer,
Kinderbetreuerinnen, Kellner.
Und dann sind da noch Medienhäuser,
in denen die simple Gleichung von Nachfra-
ge und Angebot nicht so einfach aufgeht.
Denn nie zuvor waren seriöse Nachrichten-
portale, Zeitungen und Magazine so ge-
fragt wie in diesen Tagen. Und zugleich lei-
det die Branche so massiv unter den Fol-
gen der Pandemie, dass in nahezu jedem
Medienhaus im Land über Spar- und Hilfs-
programme nachgedacht wird, viele Maga-
zine und Zeitungen ein paar Seiten dünner
werden oder ganz verschwinden.
Wer sich in diesen Tagen nach der Lage
in deutschen Redaktionen erkundigt, er-
fährt gleichzeitig von großen Erfolgen und
tiefer Verunsicherung. DieFrankfurter All-
gemeine Zeitungpräsentiert Jubelzahlen:
„Eine vergleichbare Steigerung der Zugrif-
fe auf das digitale Angebot in so kurzer
Zeit“ habe es „noch nie gegeben“, im Ver-
gleich zum Vormonat seien diese um 80
Prozent gestiegen, auch die Zahl der ver-
kauften Abos wachse. Knallende Champa-
gnerkorken? Von wegen: Man plane „der-
zeit keine Kurzarbeit, jedoch ist der Ver-
lauf der nächsten Wochen nicht absehbar.“


Auch bei derZeitverkündet Rainer Es-
ser, Geschäftsführer der Zeit-Verlagsgrup-
pe, eine „Abo-Auflage auf Rekordniveau“.
Im Vergleich zu einem Durchschnittsmo-
nat im Vorjahr habe sich die Nachfrage
nach Abos der Wochenzeitung verdoppelt,
auch die Kiosk-Auflage der drei aktuells-
ten Ausgaben lag 50 Prozent über dem Vor-
jahr. Aber: „Wir planen in Bereichen, in de-
nen derzeit Arbeit wegfällt, Kurzarbeit“.
Auch in den Redaktionen? „Wenn die Krise
länger anhält, müssen wir sehen, welchen
solidarischen Beitrag alle leisten, damit
wir ordentlich über die Runden kommen.“
Die Funke Mediengruppe hat die Kurzar-


beitshilfen der Bundesagentur für Arbeit
beantragt und angekündigt, künftig ne-
ben Zeitungen auch Brötchen auszulie-
fern. Auch die SWMH, zu der dieSüddeut-
sche Zeitunggehört, hat Kurzarbeit für ein-
zelne Unternehmensbereiche angemeldet.
Ob die SZ-Redaktion davon betroffen sein
wird, wird sich wohl in den nächsten Tagen
entscheiden.
DieMain-Postin Würzburg schickt als
eine der ersten Zeitungen ihre Redaktion
in Kurzarbeit. Chefredakteur Michael Rein-
hard schrieb in der Lokalzeitung, für die Be-
legschaft sei Arbeit weggefallen, weil Ver-
anstaltungen nicht mehr stattfinden, weil
das Kultur- und Sportgeschehen brachlie-
gen. Laut Bericht hätten Werbeverluste
von 80 Prozent zu der Entscheidung ge-
führt. Überhaupt sind kleinere Lokalzei-
tungen am stärksten betroffen. DieNeue
Rottweiler Zeitungmusste schon vor Wo-
chen ihre Druckausgabe einstellen.
Dass in Deutschland in diesen Tagen in
nahezu jedem Verlagshaus über Hilfs- und
Sparprogramme verhandelt wird, hat mit
der Art und Weise zu tun, wie sich journalis-
tische Angebote finanzieren. Das Geld, das
von Lesern und Abonnentinnen kommt,
macht meist nur eine von zwei bis drei tra-
genden Säulen aus: Die zweite, das Ge-
schäft mit Anzeigen, bröckelt schon länger
und bricht gerade massiv ein, auch bei der
SZ. Die Wirtschaftskrise lässt Konzerne rei-
henweise Anzeigen stornieren. Wann und
in welchem Umfang diese wieder zu erwar-
ten sind, ist laut Experten nicht absehbar.
Eine dritte Säule hat die Corona-Krise
sturmflutartig fortgerissen: Veranstaltun-
gen wie Kongresse, Tagungen, Vorträge.
Diese Verluste kann selbst die derzeit
geradezu explodierende Nachfrage nach
gutem Journalismus nicht ausgleichen,
warnen Verlagshäuser, Zeitungs- und Be-
rufsverbände im ganzen Land.
Beim Axel-Springer-Konzern, derWelt
undBildherausgibt, hatte ein Sprecher
noch vor zwei Wochen angekündigt, man
prüfe die Option von Kurzarbeit, in vielen
Bereichen komme dies jedoch nicht in Be-
tracht. Wegen der gestiegenen Zugriffszah-
len „vor allem nicht im Journalismus“.
Aber in der Corona-Krise ändern sich die
Dinge rasant. Inzwischen hat Springer
Kurzarbeit in einem Bereich angemeldet,
der vom Veranstaltungsverbot betroffen
ist, und Vorstand Mathias Döpfner klingt
in einer Mail an die Belegschaft verhalte-
ner: Auch wenn die Nachfrage nach journa-

listischen Inhalten „derzeit sehr hoch ist
und diese steigenden Traffic auf ihren Web-
seiten verzeichnen, gibt es starke Rück-
gänge in den Werbemärkten“. Kurzarbeit
werde für weitere Bereiche geprüft.
Auch das Online-Angebot desSpiegel
ist gerade rekordverdächtig frequentiert,
im März wurden zehn Prozent mehr Hefte
verkauft als am Jahresanfang, verkündet
der Verlag. Und kündigt dann ein Sparpro-
gramm von zehn Millionen Euro an. Man
prüfe Kurzarbeit. „Betriebsbedingte Kün-
digungen“ stünden „kurzfristig nicht auf
dem Plan“, teilt eine Sprecherin mit.

In der täglichen Arbeit von Redakteu-
ren und Reporterinnen hat die Corona-Kri-
se das planbare Tagesgeschäft zwischen
Parteitagen, Opernpremieren und Bundes-
ligaspielen fortgefegt. Stattdessen tobt
seit Wochen ein Nachrichtensturm von völ-
lig neuem Ausmaß. Ohne Unterlass wirbelt
er rund um den Globus Neuigkeiten zur
Pandemie auf, dieser großen Menschheits-
krise, wahre wie falsche, denn die Corona-
Krise ist auch die große Zeit der Fake News,
die es auszusortieren und richtigzustellen
gilt. Nichts bleibt unberührt. Politik, Wirt-
schaft, Sport, Kultur, Medien.
Die Windgeschwindigkeit eines sol-
chen Nachrichtensturms lässt sich zum
Beispiel in Eilmeldungen messen. Die
Deutsche Presse-Agentur, die Redaktio-
nen im ganzen Land mit News versorgt,
hat davon im März allein im Basisdienst
241 Stück mit besonderer Dringlichkeit
verschickt, rund zwei Drittel zum Thema
Corona, insgesamt fast doppelt so viele wie
im März 2019.
Diesen Sturm bewältigen die meisten
Redaktionen gerade selbst im Ausnahme-
zustand. Viele haben ihre Belegschaft zum
Arbeiten nach Hause geschickt, um die An-
steckungsgefahr gering zu halten. Der dpa-
Newsroom in Berlin steht fast leer, die ver-
gangenen dreiSpiegel-Ausgaben wurden
größtenteils außerhalb des Hamburger Re-
daktionsgebäudes produziert. Und auch
dieSüddeutsche Zeitungwird derzeit in Te-
lefon- und Videokonferenzen geplant und
entsteht komplett in den Wohn-, Arbeits-,
Schlafzimmern und Küchen der Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter.

Hört man Urbano Cairo zu, dem Verleger
des MailänderCorriere della Seraund der
Gazzetta dello Sport, also der größten
Tages- und der größten Sportzeitung Itali-
ens, sowie Eigentümer des Fernsehsen-
ders La 7, dann ist alles wunderbar. Zu-
hören kann man ihm, weil sein Moti-
vationsvideo für die Werbeverkäufer im
Unternehmen vor einigen Tagen publik
wurde – unbeabsichtigt. Fünf Minuten
und 39 Sekunden, ein Festival des positi-
ven Denkens. Die meisten Werbekunden,
sagt Cairo, seien gerade sehr interessiert,
Anzeigen und Werbeblöcke zu schalten.
„Überall sind wir solide“, sagt er. Beretta
Salumi, die Wurstwaren? „235000 Euro.“
Enel, die Stromfirma? „1,1 Millionen.“ „Ich
habe Banca Intesa angerufen, 250 000 Eu-
ro zusätzlich.“ Das Video passt nicht so gut
in die Zeit, Cairo entschuldigte sich dafür.
Auch bei der römischen KonkurrenzLa Re-
pubblicaist man zuversichtlich, nur klei-
nere Sparmaßnahmen sind geplant. Kurz-
arbeit hat auch sie nicht angemeldet. Im
Netz ist sie die Nummer eins im Land. Die
Zugriffe kommen auch aus dem Ausland.
Selbst bei den Abonnements der Papier-
ausgabe legtRepubblicazu, und das kam
lange nicht mehr vor. oliver meiler


Am schwersten trifft es in Großbritanni-
en die Gratiszeitungen.City AMundThe
Metro, die wie derEvening Standardvon
Nutzern des öffentlichen Nahverkehrs
gelesen werden, haben ihr Erscheinen
eingestellt; derStandardhat seine Aufla-
ge stark heruntergefahren und ver-
sucht, die Pleite dadurch zu umgehen,
dass Teile der Auflage als Briefwurfsen-
dungen verteilt werden. Den großen Me-
dienhäusern geht es wie überall auf der
Welt: Die Anzeigenerlöse brechen ein
und können durch das verstärkte Inter-
esse an Online-News und explodierende
Klickzahlen nicht kompensiert werden.
DerGuardianberichtet, britischen Zei-
tungen drohten allein in den kommen-
den drei Monaten Verluste von 57 Millio-
nen Pfund (65 Millionen Euro), weil An-
zeigenkunden sich weigerten, ihre
Webung im Umfeld von Artikeln über
das Virus zu platzieren. Einzig die BBC
profitiert von der Lage: Weil die Regie-
rung damit beschäftigt ist, die Krise zu
bewältigen, hat der Druck auf den Sen-
der nachgelassen, dem von Downing
Street die Zerschlagung und eine Ab-
schaffung der Lizenzgebühr angedroht
worden war. cathrin kahlweit

Man merkt es schon am Kiosk: Die fran-
zösischen Blätter werden dünner. WoLe
Mondenormalerweise um die 35 Seiten
hat, sind es derzeit keine dreißig mehr.
Bei der Mitte März von der Regierung
verhängten allgemeinen Ausgangsbe-
schränkung im Land haben die meisten
Redaktionen sofort auf Home-Office
für fast alle umgestellt. Seit über zwei
Wochen sind die Redaktionsgebäude
praktisch leer, und die Zeitung entsteht
aus der Ferne, mit bis zu 530 gleichzeiti-
gen VPN-Schaltungen. Kompakteinsatz
ist dagegen beim Fernsehen gefragt, wo
die ohnehin schon langen Nachrichten-
sendungen zu noch längeren Sondersen-
dungen ausufern. Interessant ist, was
beim Radio geschah: Nachdem zu-
nächst die unterschiedlichen Kanäle
des öffentlichen Radio France zur Scho-
nung des Personals morgens und mit-
tags zu einer einzigen langen Informati-
onsschneise zusammengelegt wurden,
haben sie nun wieder zum jeweiligen Ei-
genprofil mit den angestammten Mode-
ratoren und den von zu Hause zugeschal-
teten Kolumnisten zurückgefunden. Zu
traurig war der Einheitssound gewor-
den. joseph hanimann

Im jüngsten Corona-Hilfspaket hat
Österreichs Regierung auch eine geson-
derte Medienförderung beschlossen. 32
Millionen Euro sollen der Branche hel-
fen, durch die Krise zu kommen. Fast
die Hälfte davon geht an kommerzielle
Privatsender. Tageszeitungen bekom-
men insgesamt 12,1 Millionen Euro, Wo-
chenzeitungen 2,7 Millionen Euro.
Über die Verteilung ist sogleich ein
heftiger Streit entbrannt. Obwohl die Re-
gierung bei den Verteilungskriterien im
letzten Augenblick noch ein wenig nach-
besserte, bekommen unter dem Strich
die Boulevardblätter einen Löwenanteil
der Förderung, also dieKronen Zeitung
sowie die gratis verteilten BlätterÖster-
reichundHeute.
Journalistenverbände übten daran
heftige Kritik und forderten, dass ne-
ben der Auflagenzahl stärker die Quali-
tät als Kriterium für die Förderung be-
rücksichtigt werden müsste. Überdies
gibt es inzwischen bei den meisten ös-
terreichischen Medienhäusern Kurzar-
beit, auch beim gebührenfinanzierten
ORF. Nicht betroffen ist dort aber die
derzeit besonders beschäftigte Sparte
Information. peter münch

Die von Regierungschef Viktor Orbán in
Ungarn durchgesetzten Notstandsgeset-
ze bringen die noch verbliebenen unab-
hängigen Medien des Landes weiter un-
ter Druck. Denn wer in der Corona-Krise
„Falschinformationen“ verbreitet oder
„Panik“ schürt, kann nun mit einer Ge-
fängnisstrafe von bis zu fünf Jahren be-
straft werden.
Ungarn ist dabei ein spezieller Fall:
Was wahr und was falsch ist, wird weitge-
hend von der Regierung und den von ihr
kontrollierten Medien bestimmt, die un-
ter dem Dach einer Stiftung zusammen-
gefasst worden sind. Die Organisation Re-
porter ohne Grenzen fürchtet nun, „dass
regierungskritische Medien in der Coro-
na-Krise mundtot gemacht werden sol-
len“. Konkrete Vorfälle haben ungarische
Journalisten bislang noch nicht gemel-
det, doch sie klagen darüber, von über-
prüfbaren Informationen über die Aus-
breitung der Pandemie abgeschnitten zu
sein. Anfang März noch waren unabhän-
gige Medien die ersten gewesen, die auf
die Gefahr durch das Coronavirus auf-
merksam machten, während die regie-
rungsnahen Medien diese Gefahr noch
herunterspielten. peter münch

Auch in Dänemark hat Corona die Medi-
enhäuser in eine Krise gestürzt. Die
Kopenhagener ZeitungBerlingskehat
schon 20 Stellen abgebaut,Jysk Fynske
hat die Gehälter um zehn Prozent ge-
kappt, und dem seit 1867 bestehenden
Helsingør Dagbladdroht die Schließung
innerhalb von vier Wochen, wenn kein
Käufer gefunden wird. Vorige Woche
dann verkündete die viel kritisierte Kul-
turministerin Joy Mogensen ein Ret-
tungspaket: Wenn ein Medienhaus 30
Prozent seiner Werbeeinnahmen ver-
liert, übernimmt der Staat 60 Prozent
der Verluste. Wenn mehr als die Hälfte
der Werbeeinnahmen wegbrechen,
dann steht der Staat sogar für 80 Pro-
zent der Verluste gerade. Die Ministerin
geht davon aus, dass am Ende 180 Millio-
nen Dänische Kronen fließen werden,
das sind umgerechnet etwa 24 Millio-
nen Euro. Wie anderswo auch trifft die
Krise in Dänemark vor allem lokale und
regionale Zeitungshäuser hart. Die pri-
vaten Medien seien Teil der Demokratie
und des Austausches der Gesellschaft,
sagte die Ministerin. „Sie sind beson-
ders wichtig für viele lokale Gemein-
schaften.“ kai strittmatter

Die russische Staatsduma wirft mehreren
Medien vor, Falschnachrichten in Zusam-
menhang mit der Coronakrise in Russland
zu verbreiten, darunter der Deutschen Wel-
le. Die zuständige Untersuchungskommis-
sion des Unterhauses bezieht sich dabei of-
fenbar ausgerechnet auf einen Beitrag, in
dem das Gesetz gegen„Fake News“ thema-
tisiert wird. Die russische Regierung hat
dieses Gesetz erst kürzlich verschärft.
Der Sender habe „die Meinung von Men-
schenrechtlern der als unerwünscht gelten-
den Organisation Open Russia“ zitiert, so
der Vorwurf des Kommissionsleiters Was-
silij Piskarjow. Im Bericht sei die russische
Verfolgung von Falschnachrichten als Ein-
schränkung der Meinungsfreiheit bezeich-
net worden. „Diese Information entspricht
nicht der Wahrheit“, so Piskarjow. Der Be-
richt werde nun überprüft.
Den konkreten Beitrag nannte er nicht.
Vermutlich handelt es sich um ein russisch-
sprachiges Stück der Deutschen Welle von
vergangenem Samstag. Darin geht es um
ein Strafverfahren wegen angeblicher
Falschmeldungen über das Coronavirus in
Sankt Petersburg. Der Sender hatte den An-
walt der Frau zitiert, gegen die sich nun die
Ermittlungen richten. „Das ist ganz regulä-
re Berichterstattung“, schreibt ein DW-
Sprecher in einer Stellungnahme. Dass Me-
dien „im Zusammenhang mit den Auswir-
kungen der Corona-Pandemie in Russland
unter Beobachtung gestellt werden könn-
ten, ist besorgniserregend“, erklärte er.
Das russische „Fake News“-Gesetz gilt
seit Frühjahr 2019. Wer Informationen ver-
breitet, die die russische Generalstaatsan-
waltschaft als falsch und damit als Gefahr

für die öffentliche Sicherheit und Ordnung
einordnet, macht sich strafbar. Die Medien-
aufsichtsbehörde kann betroffene Nach-
richtenseiten blockieren, außerdem dro-
hen Geldstrafen. Mit Hinweis auf die Coro-
na-Pandemie hat das Parlament vergange-
ne Woche die Strafen erhöht: Falschinfor-
mationen können nun je nach Schwere mit
bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
Vergangenes Jahr warf die Duma der
Deutschen Welle bereits vor, über Twitter
zur Teilnahme an Protesten in Moskau auf-
gerufen zu haben. Auch damals wies der
Sender die Vorwürfe zurück, seine Korre-
spondenten in Russland drohten dennoch
ihre Arbeitserlaubnis zu verlieren. Die er-
neute Kritik kam nun nach einer Äuße-
rung von Bundesaußenminister Heiko
Maas: Die EU müsse sich mit vorsätzlich
verbreiteten Desinformationen „auch aus
der russischen Sphäre“ auseinanderset-
zen, sagte der in Bezug auf die Corona-Pan-
demie. silke bigalke

Der Streik dauerte fast drei Monate. Vom



  1. August 1978 an mussten die Stadt New
    York und der davon abhängige Erdkreis oh-
    ne dieNew York Timesauskommen. Keine
    schwerfällige Berichterstattung über die
    Salt-Verhandlungen, den Finanzmarkt
    oder einen Großautor, der wieder einen Ro-
    man geschrieben hatte, der dem vorigen
    glich wie ein Buch dem anderen. Niemand
    erfuhr, dass nach Paul VI. auch sein Nach-
    folger Johannes Paul gestorben war, dass
    Menachem Begin und Anwar al-Sadat, an-
    geleitet von US-Präsident Jimmy Carter, in
    Camp David einen Friedensvertrag zwi-
    schen Israel und Ägypten verabredet hat-
    ten, oder dass es in Teheran schwere Unru-
    hen gab, die in der Folge zum Sturz des
    Schahs führen sollten. Keine bräsigen
    Kommentare zur Weltlage, keine Sprach-
    kritik von William Safire, keine Gastro-Ko-
    lumne Craig Claiborne und – was die Abon-
    nenten am meisten geschmerzt haben
    wird – natürlich kein Kreuzworträtsel.
    Am 23. Oktober 1978, der Streik ging all-
    mählich dem Ende zu, gab es die Zeitung
    plötzlich wieder. Sie lag in bewährter Sta-
    pelform an den Kiosken und U-Bahn-Ein-
    gängen aus und informierte im ebenfalls
    bewährten trockenen Ton über die neu-
    esten Ereignisse. Der linken Aufmacher-
    spalte konnten die Leser entnehmen, dass
    ein Teil der Queensboro Bridge unter dem
    Gewicht des Marathons am Tag davor „tra-
    gisch eingebrochen“ war. Der Veranstalter
    führte bittere Klage und wurde wie folgt zi-
    tiert: „In meinem ganzen Leben habe ich
    noch nicht so viele fette Menschen gese-
    hen.“ Über fünftausend Teilnehmer besä-
    ßen einen Abschluss: „Die hocken Jahre in


einem College herum, trinken Bier und er-
nähren sich von Obstkuchen, und dann se-
hen sie aus wie Schweine.“
Im Ernst? Der Kopf der Zeitung war an
diesem Tag um ein Wort erweitert worden,
sie hießNot The New York Times, und auch
das Motto war, damit nur ja keiner in die Ir-
re geführt werde, um die Negation erwei-
tert worden: „All the News Not Fit to Print“
(Alle Nachrichten, die nicht zum Druck ge-
eignet sind).
Diese Zeitung, vom Nachrichtenstil bis
zur Titelei, von den Anzeigen bis zu den Le-
serbriefen dem Original nachgestaltet, er-
schien nur ein einziges Mal. Erst jetzt hat
ein Reporter derNew York Timesrecher-

chieren können, wer an dieser Sondernum-
mer, die in einem hochkonspirativen Zir-
kel um den Schriftsteller George Plimpton
entstand, beteiligt war. Jetzt, wo nieman-
dem mehr mit Kündigung zu drohen ist, ha-
ben sich auch etliche Mitarbeiter der ech-
tenTimesdazu bekannt. Zu den Beiträgern
gehörte der Watergate-Aufklärer Carl
Bernstein, seine damalige Frau Nora
Ephron, später die Drehbuchautorin von
Harry und Sally, und der Humorist Terry
Southern, der bereits bei der Atomkriegssa-
tireDr. Seltsammitgewirkt hatte. Bei gu-
tem Essen und nicht wenig Champagner
spielten sich die Autoren Ideen zu und
dachten sich höheren Blödsinn aus. Zum

Beispiel, dass Rudolf Hess, der letzte Gefan-
gene in Spandau, aus Protest gegen die
Haftbedingungen „sich selber als Geisel ge-
nommen“ habe.
Ein Autor namens „Rich Miser“ (reicher
Pfennigfuchser) weiß von einem Team von
35 Reportern, das, unterstützt von Karto-
graphen und Faktenprüfern, in monatelan-
ger Recherche herausgefunden hat, dass ei-
ne Droge namens „Kokain“ nicht bloß po-
pulär sei, sondern vorwiegend durch die
Nase aufgenommen werde. 1978 war das
Drei-Päpste-Jahr, und die Parodisten er-
laubten sich den Scherz, gleich noch einen,
den sie John Paul John Paul nannten, nach
bereits 19 Minuten im Amt sterben zu las-
sen. Die Schweizer Garde wurde zur Grenz-
sicherung ins Westjordanland abgeordnet.
Die Anzeigen wurden nicht weniger lie-
bevoll entworfen, boten fürs mitleidige
Herz teures Porzellan mit aufgebranntem
hungernden Kind oder offerierten den „An-
nie-Hall-Look“, mit dem Diane Keaton in
Woody Allens FilmDer Stadtneurotiker
auffiel, als letzten Schrei für Männer: „Die
Flanellhosen mit Bügelfalten extra baggy.“
In zwei Punkten erwiesen sich die Parodis-
ten geradezu als Hellseher: Bereits vor 41
Jahren war von „Me too“ die Rede, aller-
dings ging es um einen Tarifabschluss der
Feuerwehrleute, dem sich auch andere
(„me too“) anschlossen. Weiter hinten fin-
det sich ein Rezept für „Chauve-souris“, zu
Deutsch: die Corona-verdächtige Fleder-
maus, die, wie der Kenner wissen lässt,
„lange als ungenießbar galt, aber neuer-
dings wieder die kulinarische Wertschät-
zung erlangt, die sie im dunklen Mittelal-
ter genoss“. Bon appétit! willi winkler

Schräglage

Nie waren Nachrichtenportale, Zeitungen und Magazine so gefragt wie


in diesen Tagen. Dennoch bringt die Corona-Krise auch sie in Bedrängnis


Italien Großbritannien Frankreich Österreich


Keine Kurzarbeit in


Redaktionen, hieß es kürzlich


noch bei Springer. Und jetzt?


Dänemark Ungarn


WIE ES UM EUROPAS PRESSE IN ZEITEN DER PANDEMIE STEHT


Streit um Zitat


Fake News? Russland beschuldigt Deutsche Welle


„Not The New York Times“ entstand 1978 unter Mitwirkung des Watergate-Aufklä-
rers Bernstein, seiner Frau Nora Ephron und mit viel Champagner. FOTO: PARIS REVIEW

Die Stadtneurotiker


Die „New York Times“ enthüllt, wie sie einmal stilgerecht parodiert wurde


Wie heftig der Nachrichtensturm
gerade durchs Land fegt, zeigt
die enorme Zahl an Eilmeldungen

DEFGH Nr. 82, Dienstag, 7. April 2020 (^) MEDIEN HF2 27
COLLAGE: SZ
Sein Sender wehrt sich: Peter Limbourg,
Intendant der Deutschen Welle. FOTO: DPA

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