Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1

E


in Lächeln noch,dann schließen
sie die Augen und vergessen für
einen Moment die Welt, die sie zu
retten versuchen. Sonst stehen
sie um diese Zeit auf der Straße,
heute sind sie ein Haufen kleiner Köpfe, sau-
ber voneinander getrennt in kleinen Recht-
ecken auf einem Computerbildschirm. Ein
paar haben die Kameras ausgemacht,
wollen kurz für sich sein. Es ist ein Freitag
Ende März, aber „Fridays for Future“ ist
weit weg. Und mit jedem Atemzug rückt die
Klimaschutzbewegung weiter weg.
„Ich bitte euch zu schauen, ob ihr dieses
Lächeln in euch nachklingen lassen
könnt“, sagt der Workshopleiter. „Ob ihr
fühlen könnt, wie sich der Brustkorb hebt
und senkt. Ob ihr dieses Lächeln in den
Mundwinkeln spürt. Vielleicht auch in den
Augenwinkeln. Dann vielleicht sogar in
den Herzwinkeln.“
Keiner der jungen Klimaaktivisten hier
lächelt, weil Deutschland wegen des Coro-
navirus wohl doch noch seine Klimaziele
für 2020 erreichen wird. Sie lächeln, weil
sie entspannen wollen, es ist eine Reaktion
auf die Last der Zukunft. Die meisten hier
befürchten, dass die Menschen, sobald die
Beschränkungen wieder aufgehoben wer-
den,business as usualmachen werden. Un-
gefähr so, wie Menschen auf Diät sich nach
Essen sehnen – um hinterher mehr zu wie-
gen als zuvor. Dabei wären die kommen-
den Jahre entscheidend für einen Umbau
der Wirtschaft, sonst überschreitet der
Klimawandel kritische Kipppunkte und ist
anschließend nicht mehr zu stoppen.
Aber die Protestpause bietet für die Akti-
visten auch Raum zur Neubesinnung nach
über einem Jahr Schulstreiks. Zeit, sich um
sich selbst zu kümmern. Zeit, ein paar
grundsätzliche Fragen zu stellen.
„In die Herzwinkel lächeln. Süß!“ Pauli-
ne Daemgen lächelt, ohne die Augen zu
öffnen. Sie hat ihr Mikrofon ausgeschaltet,
keiner in der Videokonferenz kann sie hö-
ren. Sie kennt den Workshopleiter, einen
jungen Berliner Psychotherapeuten mit
kurzen, schwarzen Haaren und einer beru-
higenden Stimme. Für Daemgen war er lan-
ge Zeit nur der „Seifenblasenmann“, der
bei Demos die großen Seifenblasen mach-
te. Erst später erfuhr sie, dass er einer der
bundesweit etwa vierhundert aktiven Psy-
chologists for Future ist, dass er Kurse zu
Burnout-Prävention und „Nachhaltigem
Aktivismus“ anbietet. Solche Kurse finden
seit vergangenem Herbst statt, als die Be-
wegung kurz hintereinander zwei globale
Klimastreiks organisierte und in den roten
Bereich mit ihrer Arbeitsbelastung kam.


Im Winter machte sich dann Erschöp-
fung breit. Die Teilnehmerzahlen bei den
Freitagsstreiks sanken. Die Bewegung such-
te nach neuen Protestformen, neuen Zie-
len. Im Januar fand eine Aktion gegen die
Hauptversammlung von Siemens statt, we-
gen dessen Beteiligung an einem Kohleför-
derprojekt in Australien. Es war der letzte
größere Protest von Fridays for Future vor
der Corona-Krise. Von der lustigen „Wer
nicht hüpft, der ist für Kohle“-Stimmung
vom Anfang der Bewegung vor einem Jahr
war da nicht mehr viel übrig. Die Aktivisten
legten vor der Münchner Olympiahalle, in
der Siemens tagte, eine Schweigeminute
ein, während Feuerstrahler um eine Erdku-
gel abbrannten. Das Programm endete mit
dem Gedicht einer jungen Aktivistin, die


sagte, die „Atlasaufgabe“, die Welt zu ret-
ten, habe ihr die Kindheit genommen.
Aber, sagte sie, vielleicht sei sie gar nicht
Atlas, der Titan, der nach griechischer Sage
die Welt auf seinen Schultern trägt, „viel-
leicht bin ich eher Sisyphus, der Tag für Tag
den Stein hochrollen muss“.
Pauline Daemgen sitzt auf der Couch in
der Wohnung in Berlin-Kreuzberg, in der
sie mit ihrer Mutter wohnt. Auf dem Lap-
top läuft noch der Online-Workshop. Drau-
ßen geht gerade die Sonne unter. Bei der
Vorstellungsrunde am Anfang sagte sie:
„Ich heiße Pauline, ich komme aus Berlin.
Ich bin 17, gehe noch zur Schule, und ich
war lange eine der Hauptorganisatorinnen
von Fridays for Future in Berlin.“ Zusam-
men mit der Schule habe sie zwei Vollzeit-
jobs gehabt, sagt sie, „beide unbezahlt“.
Irgendwann wurde das zu viel. Kurz
bevor die Corona-Krise alles noch kompli-
zierter machte, zog sie sich weitestgehend
aus der Bewegung zurück. Um die Prüfun-
gen für ihr Fachabitur zu schreiben und
sich um sich selbst zu kümmern. Es ging
einfach nicht mehr.
Sie hat blond gefärbte Haare, trägt
schlabberige Jeans und Ringe vom Floh-
markt an den Fingern. Und sie hatte einen
Terminplan, der wahrscheinlich viele Top-
manager in kürzester Zeit in die Knie ge-
zwungen hätte. In wie vielen Organisati-
onsgruppen auf Whatsapp sie gleichzeitig
war, weiß sie nicht, sie habe am Ende nicht
mehr gezählt, „irgendwas zwischen drei-
ßig und sechzig“. Jeden Tag habe sie
Hunderte Nachrichten gelesen. Auch viele
unwichtige, aber das weiß man ja nicht, bis
man sie gelesen hat.
Sie hatte Schlafstörungen, schlief meist
nur wenige Stunden pro Nacht, für mehr
war keine Zeit. An manchen Abenden kam
sie heim, musste nach einem endlosen Tag
in der Schule noch Hausaufgaben machen,
Termine für die Bewegung organisieren,
E-Mails und Nachrichten bearbeiten, noch
etwas bei Facebook posten, mit dem Ac-
count der Berliner Ortsgruppe, den sie be-
treute. Dort schwappte dann der ganze
Hass über sie herein, von Leuten, die sie
gar nicht kannten. Eine Heuchlerin sei sie,
wahrscheinlich mit dem SUV von Mutti
nach der Demo abgeholt. Wohlstandsver-
wahrlost. Egoistisch. Dumm.
An manchen Abenden lag sie auf dem
Bett und starrte nur noch an die Decke, um
nichts mehr sehen und denken zu müssen.
Manchmal weinte sie dann, nicht aus Trau-
rigkeit, sondern vor Erschöpfung. Manch-
mal weinte sie nicht.
Still werden. Atmen. Das Herz öffnen.
Gefühle zulassen. Darum geht es bei die-
sem Workshop. Gucken, was kommt, was
vielleicht verdrängt wurde – und jetzt raus
darf, wo endlich einmal Platz ist. Auch
wegen der Corona-Krise. „Nachhaltiger
Aktivismus in Zeiten von Corona“, lautet
der Veranstaltungstitel. Darin lernen die
Aktivisten, mit ihren Sorgen umzugehen:
Nutzen Lobbyisten nun das Virus als Ar-
gument, um klimapolitische Versprechen
wieder aufzuweichen, während Fridays for

Future nicht raus auf die Straße darf, um
zu protestieren? Wollen die Menschen sich
nach der Krise „erst mal gönnen“, wie es
Pauline Daemgen formuliert?
Der Seifenblasenmann empfiehlt Acht-
samkeit, meditative Versenkung im Alltag.
Das Ziel sei, „vom Kopf in das Herz zu kom-
men“. Er erklärt, wie man eine gesündere
Struktur in seinen Tag bekommt, wie man
regelmäßig isst, schläft, Sport treibt,
Freunde trifft, schöne Dinge tut. Es sind
Grundregeln, wie man lebt, ohne durchzu-
drehen. „Klare Grenzen zwischen Arbeit &
Freizeit & Schlaf ziehen“, steht auf seinem
digitalen Handout. Oder: „Besonders zu
berücksichtigen: Zeit in der Natur.“

Die Aktivisten nicken, machen die Übun-
gen, die man ihnen gibt. Viel mehr können
sie gerade ohnehin nicht tun. Als das Semi-
nar zu Ende geht, erzählen einige Teilneh-
mer, wie gut es tue, sich mal zu entspan-
nen, im Garten zu liegen. Dazu wedeln
andere mit den Händen, bei den Plena der
Bewegung ist es das Zeichen für Zustim-
mung. Diesmal gibt es nichts abzustim-
men, die Handgeste bedeutet heute „Ken-
ne ich, geht mir genauso“. Man verabschie-
det sich mit der Hausaufgabe, in den jewei-
ligen Ortsgruppen Strukturen für „gegen-
seitiges Coaching“ zu schaffen.
Schon beim Sommerkongress von Fri-
days for Future vergangenen August in
Dortmund war „Nachhaltiger Aktivismus“
Thema eines Vortrags. Je mehr sich die
Bewegung professionalisierte, desto mehr
stieg auch das Arbeitspensum. Pauline Da-
emgen hat das alles erlebt: Die Angst, den
Jubel, die große Mobilisierung, Millionen
auf der Straße. Dann Merkel, die sagt, Poli-
tik sei „das, was möglich ist“.
Daemgen klappt den Laptop zu, steht
vom Sofa auf, streckt sich und stellt mit ver-
strubbelten Haaren fest: „Hach, stehen ist
halt schon ganz schön geil.“ Aus der Küche
holt sie Studentenfutter in einer leeren
Milchflasche und beginnt zu knabbern. Sie
tut alles mit einer Spur von vergnügtem
Unernst, als sei sie im Urlaub, dabei hat sie
einen Schultag voll Prüfungsvorbereitung
hinter sich. Als sie im Februar vor einem
Jahr das erste Mal bei einem Schulstreik
vorbeischaute, hatte sie so gut wie keine
Ahnung von politischen Prozessen. Auf
dem Boden malten sie noch schnell das
Banner für den Streik, sie froren erbärm-
lich. Daemgen hinterließ ihre Telefonnum-
mer, schon war sie in ihrer ersten Whats-
app-Gruppe. Sie blieb dabei. Journalisten
berichteten über die jungen Klimaschüt-
zer. Die Welt interessierte tatsächlich,
warum sie freitags nicht mehr in die Schu-
le gingen. Daemgen wurde Mitglied der
„AG Faktenvermittlung“. „Wir waren vier
Jugendliche und hatten keine Ahnung von
den Fakten“, sagt sie.

Das änderte sich, als sie freitags die Vor-
träge der Scientists for Future zu besuchen
begann, die im Naturkundemuseum statt-
fanden, direkt neben dem Invalidenpark,
wo sie streikten. Die wissenschaftlichen
Fakten zur Klimakrise, das war die all-
wöchentliche Angstinjektion. „Klima-
angst“ sei keine pathologische Angststö-
rung, darauf wiesen die Psychologists for
Future zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit
hin, sondern eine leider begründete Angst.
Allerdings müsse man lernen, damit um-
zugehen. Sie durch Arbeit in Schach zu
halten, war Daemgens Strategie. Diese
Strategie funktioniert jetzt nicht mehr.
Sehr schnell anstrengend wurde auch
die Frage, wer bei einer basisdemokrati-
schen Bewegung eigentlich was entschei-
den darf. Weil es keine Hierarchien geben
sollte, versuchte man, sich durch Arbeit
für Entscheidungskompetenzen zu legiti-
mieren. „Du giltst nur wirklich als cool, du
hast mehr Entscheidungsmacht, wenn du
dich kaputtarbeitest. Das ist natürlich tota-
ler Bullshit, aber dieser Gedanke ist immer
noch bei vielen im Kopf.“ Sie selbst nimmt
sich da nicht aus. Zuletzt sei endlos über
banalste Fragen diskutiert worden, etwa,
ob sechstausend oder siebentausend Flyer
gedruckt werden sollen. Jeder habe überall
seine Meinung unterbringen müssen. „Al-
len ist bewusst, dass das eigentlich nervt,
trotzdem wird es nicht geändert, weil wir
halt alle durch sind.“ Wenn man sowieso
fertig und überarbeitet sei, erscheine
einem alles total wichtig, man habe das
Gefühl, man müsse überall involviert sein.
Weil die Ruhe fehlt, die Dinge einfach lau-
fen zu lassen und abgeben zu können.
Das Coronavirus hat aus ihrer freiwilli-
gen eine unfreiwillige Ruhepause ge-
macht. „Alle erzählen jetzt, wie gut die Luft
ist und wie sauber die Kanäle in Venedig“,
sagt sie. „Aber wenn man mal überlegt, wie
die Konzerne später zurückkommen müs-
sen!“ Dann werde es wieder heißen, für das
Klima sei leider kein Geld mehr da. Dabei
habe die Bundesregierung schon beim Kli-
mapaket mit der schwarzen Null argumen-

tiert, als sei es nicht möglich, angesichts
einer existenziellen Krise davon abzuwei-
chen. „Von wegen, man kann nicht so viel
Geld ausgeben. Jetzt geht es doch, bei einer
Krise, die natürlich eine Krise ist. Das will
ich gar nicht kleinreden. Aber die Klimakri-
se wird alle nachfolgenden Generationen
betreffen. Alle!“
Ihr Zimmer ist bunt und aufgeräumt,
Tücher hängen an den Wänden, Ketten,
viel Krimskrams, am Bücherregal festge-
knotet schwebt ein herzförmiger Luftbal-
lon. Ein Megafon hängt neben dem Bett.
Früher, sagt sie, waren hier überall Berge
von Fridays-Material: Banner, Flyer, Far-
ben, Pinsel, Sprühkreide, Stickerpaletten.
Früher, das klingt, als sei es ewig her. Als
seien Freitage jetzt wieder ganz normale
Tage, von denen viele kommen werden, bis
es zu spät sein wird. Und dann? Atmen und
in den Herzwinkel lächeln?
Daemgen hat zu Weihnachten von ihren
Großeltern ein Buch geschenkt bekom-
men, sie hatte es sich gewünscht. In „Poli-
tisch aktiv sein und bleiben“, dem „Hand-
buch Nachhaltiger Aktivismus“, stellt der
Autor Timo Luthmann fest, dass in den so-
zialen Bewegungen der vergangenen Jahr-
zehnte eine Personengruppe so gut wie
nicht vorkomme: ältere Menschen. Junge
Menschen brächten sich ein, wollten die
ganze Welt auf einmal retten, bis sie nicht
mehr können, zu zanken beginnen und ir-
gendwann wegbrechen, um frustrierte Alt-
linke zu werden. Er stellt fest: „Genau hier
liegt aber auch eine große Chance. Wenn es
uns gelingt, aus der Geschichte und unse-
ren Fehlern zu lernen, mehr auf unsere Be-
dürfnisse zu achten und Grenzen zu zie-
hen, haben wir ein entscheidendes Rezept
für mehr soziale Veränderung.“
Das Buch ist 2018 erschienen, nur weni-
ge Monate, bevor sich Greta Thunberg vor
das schwedische Reichstagsgebäude in
Stockholm setzte und in den Schulstreik
für das Klima trat. Sie wirkte durch ihr As-
perger-Syndrom für viele erst unnahbar.
Kritiker verspotteten sie als eine Art Öko-
Cyborg. Inzwischen hat sie in ihrer öffentli-
chen Darstellung den Schritt „vom Kopf
ins Herz“ gemacht, von dem der Seifen-
blasenmann gesprochen hat.
Am Freitag vor dem Workshop war
Thunberg zu Gast bei einer Online-Ge-
sprächsrunde. Ins Bild ragte eine Hunde-
schnauze, Thunberg kraulte die Schnauze,
während sie über das Virus und das Klima
sprach, und warum aus ihrer Sicht jetzt das
Virus Priorität hat. Die Krise als „ein
kleines Licht am Horizont“ zu sehen, regte
Luisa Neubauer an, denn nun zeige sich ja,
dass es möglich sei, Krisen als Krisen zu
behandeln. Davon wollte Thunberg nichts
wissen. Hört auf die Wissenschaftler, sagte
sie: Flatten the curve. Alles andere zähle
erst mal nicht. Dann sprach sie darüber,
wie es ihr zu Hause geht. Sie habe begon-
nen, Tagebuch zu schreiben. Außerdem
habe sie angefangen zu stricken.
Ein paar Tage später gab Thunberg auf
Instagram bekannt, dass sie die vergange-
nen zwei Wochen in Quarantäne in einem

gemieteten Apartment verbracht habe.
Nach einer Reise durch Mitteleuropa habe
sie gefröstelt, einen trockenen Hals und
Husten gehabt. #StayAtHome.
Samstag ist der Tag nach Freitag. Für
Pauline Daemgen war der Samstag bis vor
Kurzem ein Arbeitstag, so wie jeder Tag.
Im Grunde endete der Freitag nie. Jetzt ist
er der erste Tag des Wochenendes, sie ent-
deckt ihn gerade neu. Geht oft spazieren,
raus aufs Tempelhofer Feld. Die Weite dort
entschädigt die Ostberliner für die fehlen-
de Natur. Hinter den Kulissen der Bewe-
gung werde gerade viel umgebaut, sagt
Pauline Daemgen. Eine neue Struktur für
Entscheidungsprozesse soll her, hierar-
chiearm und trotzdem effizient. In jeder
Gruppe soll künftig eine Person darauf
achten, dass sich keiner überarbeitet. Die
„Awareness AG“ kümmert sich.
Na klar wolle sie wieder einsteigen.
Eigentlich zum Großstreik am 24. April,
wobei der wegen Corona wahrscheinlich
im Internet stattfinden muss. Dabei wer-
den Pauline Daemgens Fähigkeiten wohl
weniger gebraucht als sonst. Sie war im-
mer vorne am Frontbanner, die Frau mit
dem Megafon und dem Glitzer im Gesicht.
Wer am Frontbanner steht, muss alles
geben, der muss singen, jubeln, begeistert
aussehen, es könnten ja in jedem Augen-
blick Kameras auf einen gerichtet sein.
Aber der Widerstand muss weiter-
gehen. Weil sie auf einem Planeten leben
will, auf dem sie guten Gewissens Kinder
bekommen kann. Einem Planeten, auf
dem die Menschen das große Ganze sehen.
Auch wenn andere, akute Sorgen gerade
viel drängender erscheinen.

Vielleicht werde sie irgendwann andere
Aufgaben übernehmen, sagt Daemgen. Es
braucht ja nicht nur die Kämpfer am Front-
banner, sondern auch Helfer und Unter-
stützer. Menschen, die weniger Zeit und
Energie haben. Obwohl sie eigentlich gera-
de Pause macht, bastelt Pauline Daemgen
schon mit Freunden an einer digitalen
Plattform herum, um das zu erleichtern.
Menschen sollen dort eintragen können,
wie sie die Bewegung niederschwellig
unterstützen wollen. Zum Beispiel, indem
man Aktivisten ein Lastenfahrrad leiht.
Oder mit einer Massage, wenn der Rücken
wehtut. Arbeitstitel: „Help for Future“.
Sobald die Ausgangsregelungen und
der gesunde Menschenverstand es gestat-
ten, wollen die Schüler wieder auf der Stra-
ße stehen. Möglicherweise werden neue
Aktionsformen dazukommen, das ist noch
nicht klar, die Streiks sollen aber weiter ein
festes Standbein der Bewegung bleiben.
Man werde mit neuer Kraft zurückkom-
men. „Das hier ist kein Sprint, sondern ein
Marathon“, sagte Greta Thunberg in der
Videokonferenz.
Die Sonne wärmt ihr Gesicht, während
Pauline Daemgen über das ehemalige Roll-
feld des Tempelhofer Flughafens geht. Der
Himmel ist fast unwirklich blau, kein Kon-
densstreifen nirgendwo. Das kannte man
ja gar nicht mehr. Sie setzt sich auf eine
Bank, schließt die Augen, sagt plötzlich,
ihr seien Geräusche merkwürdig laut und
schrill vorgekommen, als sie noch voll da-
bei war. Jeder Teller, der klapperte, habe
sie verrückt gemacht. Es war immer laut,
selbst wenn es leise war.
Jetzt ist es still in Berlin. Die Vögel zwit-
schern. Ein Herzwinkellächeln. Atmen.

Pauline Daemgen organisierte Proteste.
Dann kamen die Schlafstörungen – und
dann der Hass aus dem Netz. FOTO: PHBO

Genau genommen hatte sie zwei


Vollzeitjobs. Schule und


Klima schützen. Beide unbezahlt


Die Fakten zur Klimakrise waren
wie Angstinjektionen. Leider
ja eine sehr begründete Angst

Der Himmel ist unwirklich blau,
kein Kondensstreifen zu sehen.
Das kannte man gar nicht mehr

DEFGH Nr. 82, Dienstag, 7. April 2020 (^) DIE SEITE DREI 3


Gleich geht’s weiter


Monatelang waren die Aktivisten von Fridays for Future auf der Straße, um die Welt zu retten.


Dann machte sich Erschöpfung breit. Und dann kam Corona. Ein Zwischenbericht


von philipp bovermann


Ein Protest von Fridays for Future Anfang März vor dem Reichstag: So sieht das wohl aus in Zeiten von Corona – mit Sicherheitsabstand und in zulässiger Personenzahl. FOTO: STEFAN BONESS / IMAGO
Free download pdf