Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1

G


ewalt in der Familie ist kein Virus,
sondern weltweit die Folge von
Strukturen und Entscheidungen.
Umso bitterer, dass es eine weltweite
Infektionskrise mit Ausgangs- und Kon-
taktsperren braucht, damit ihre pandemi-
schen Ausmaße zum Thema werden.
Wenn Kinder hierzulande Gewalterfah-
rungen machen, so die Statistik, dann
zumeist zu Hause. In Deutschland und
Frankreich stirbt alle drei Tage eine Frau
durch die Hand ihres Partners.
Unter normalen Umständen wird alles,
was zu Hause passiert, von weiten Teilen
der Gesellschaft als Privatsache betrach-
tet. Doch in dieser unnormalen Zeit wird
Häuslichkeit politisch: UN-Generalsektre-


tär Antonio Guterres fordert wegen des
„schrecklichen Anstiegs häuslicher Ge-
walt“ nun, dass Staaten den Schutz von
Frauen in ihre Pandemiepläne auf-
nehmen.
Damit hat er recht – und könnte noch
weiter gehen. Denn das gefährliche Zuhau-
se ist kein Phänomen der Krise, sondern ei-
nes von vielen, die durch sie verstärkt wer-
den. Es wäre ein seltener positiver Neben-
effekt der Corona-Zeit, bliebe das Be-
wusstsein dafür bestehen. Die Maßnah-
men, die jetzt in vielen Ländern ergriffen
werden – Hotlines, Apotheken als Anlauf-
stellen für Opfer – sind wichtig. Das wer-
den sie auch sein, wenn die Menschen
wieder rausdürfen. meredith haaf

In Israel ist der Gesundheitsminister da-
für verantwortlich, dass Ministerpräsi-
dent Benjamin Netanjahu und Mossad-
Chef Jossi Cohen in häusliche Quarantäne
mussten. Denn Jaakov Litzman und seine
Frau Chava wurden vergangene Woche
positiv auf Corona getestet, sodass alle,
die federführend im Kampf gegen das
Virus in Israel tätig sind, nun nur noch
von zu Hause aus arbeiten können.
Für Litzman musste erst eine Internet-
verbindung organisiert werden, denn als
streng orthodoxer Jude lehnte er den Ein-
satz moderner Technologien bisher ab.
Ein Mobiltelefon nutzte er bereits, sodass
der Inlandsgeheimdienst Schin Bet für
ihn, wie bei allen Infizierten in Israel, ein
Bewegungsprofil erstellen konnte. Wer
ihm nahe gekommen war, wurde aufgefor-
dert, sich für zwei Wochen in Quarantäne
zu begeben. Das traf auch viele Glaubens-
brüder. Laut Augenzeugen ging Litzman
auch dann noch zum Beten in die Synago-
ge, als das von ihm geführte Ministerium
wegen Ansteckungsgefahr dies längst ver-
boten hatte. Als einziger Politiker hatte er
bei der Vereidigung der Knesset vor drei
Wochen die Fiebermessung verweigert.
Der 71-Jährige ist Angehöriger der chas-
sidischen Bewegung Ger. Er führt die Par-
tei Vereinigtes Tora-Judentum, die sich
für einen stärkeren Einfluss der Tora und
der jüdischen Gesetzgebung einsetzt. Ge-
boren ist Litzman 1948 in Deutschland in
einem Lager fürdisplaced persons, seine
Eltern waren Holocaust-Überlebende aus
Polen. Als er zwei Jahre alt war, emigrierte
die Familie in die USA. Dort wuchs Litz-
man im New Yorker Viertel Borough Park
auf – einem Zentrum streng religiöser Ju-
den. Mit 17 Jahren ging er wegen des Reli-
gionsstudiums nach Israel.

In die Politik stieg er 1999 als Knesset-
Abgeordneter ein, nachdem ihn sein Rab-
biner darum gebeten hatte. 2015 wurde er
zum Gesundheitsminister ernannt. Seine
belgische Kollegin Laurette Onkelinx reg-
te sich öffentlich auf, dass er ihr den Hand-
schlag verweigert hatte.
In seiner Heimat sieht sich Litzman
nun mit Rücktrittsforderungen konfron-
tiert. 66 Prozent der Israelis sind mit sei-
ner Arbeit in der Corona-Krise unzufrie-
den. Viele machen ihn persönlich dafür
verantwortlich, dass sich das Virus in den
ultraorthodoxen Gemeinden rasant aus-
breiten konnte. Als im ganzen Land die

Schulen zusperren mussten, blieben die
Synagogen noch eine Woche offen. Litz-
man setzte diese Ausnahme gegen den
Rat der Experten im eigenen Ministerium
durch – und der Regierungschef fügte
sich, wie so häufig, wenn die ultraorthodo-
xen Minister etwas verlangen. Obwohl im
ganzen Land rasch rigorose Maßnahmen
und Versammlungsverbote verhängt wur-
den, griff die Polizei bei Verstößen von
streng religiösen Juden nicht ein. Die Fol-
ge: Fast die Hälfte der etwa 8700 Infizier-
ten sind Ultraorthodoxe, ihr Anteil an der
Bevölkerung macht dagegen nur zwölf
Prozent aus.
Weil sich die Gemeinschaft von der Au-
ßenwelt abschottet und nur in Ausnahme-
fällen moderne Technologien genutzt wer-
den dürfen, waren manche nicht infor-
miert, denn nicht alle Rabbiner gaben die
neuen Regeln weiter. Ein Teil der Ultraor-
thodoxen weigert sich jedoch, den Staat Is-
rael anzuerkennen, und ignoriert Regie-
rungsentscheidungen. Im Jerusalemer
Stadtteil Mea Schearim wurden Polizis-
ten und medizinisches Personal, die Coro-
na-Tests vornehmen wollten, attackiert.
Inzwischen setzt die Regierung mit Hil-
fe von Polizei und Armee die Maßnahmen
auch in den ultraorthodoxen Gemein-
schaften um. Die Stadt Bnei Brak mit
200000 Einwohnern wurde von der Au-
ßenwelt abgeriegelt, für acht weitere Or-
te, die vorwiegend von Ultraorthodoxen
bewohnt sind, wird diese Maßnahme zur
Eindämmung des Virus erwogen.
Der fünffache Familienvater Litzman
empfiehlt weiter Beten als Mittel im
Kampf gegen das Virus. „Wir beten und
hoffen. Der Messias wird kommen und
uns von allen Problemen dieser Welt erlö-
sen.“ alexandra föderl-schmid

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Detlef Esslinger (komm.)
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
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REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:René Hofmann;
Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
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von daniel brössler

M


it so brutaler Wucht und in so ra-
sender Geschwindigkeit hat ei-
ne neue Wirklichkeit in Europa
Einzug gehalten, dass es schwer gewor-
den ist, sich eine andere Wirklichkeit
noch vorzustellen. Dennoch sollte ein Ge-
dankenexperiment erlaubt sein. Was wä-
re gewesen, wenn die Staaten der Euro-
päischen Union die Gefahr durch das
neue Coronavirus frühzeitig erkannt und
gemeinsam Gegenmaßnahmen ergriffen
hätten? Was, wenn das öffentliche Leben
unionsweit anhand gemeinsamer Leitli-
nien heruntergefahren worden wäre? In
so einem Szenario hätte sich die faktische
Schließung zahlreicher Binnengrenzen
erübrigt. Europa wäre vereint gewesen
im Kampf gegen das Virus.
Aus heutiger Sicht mag das illusorisch
wirken. In Zeiten der Pandemie erlebt der
Nationalstaat eine Renaissance als
scheinbar einzig verlässliche Größe zum
Schutz der Gesundheit der Bürger. Dazu
passt die Vorstellung, diese Gesundheit
könne und müsse vor allem auch an den
Landesgrenzen verteidigt werden. Im Ein-
zelfall mag das stimmen. Zum effektiven
Kampf gegen die Pandemie gehört selbst-
verständlich auch, Einreisen aus Risiko-
gebieten zu verhindern. Weniger ein-
leuchtend ist, warum zwischen Ländern
mit ähnlichen Schutzmaßnahmen und
vergleichbarer Corona-Ausbreitung Han-
del und Pendlerverkehr erschwert wer-
den müssen. In einem gemeinsam agie-
renden Europa wäre das überflüssig.
Vermieden werden könnten in so ei-
nem Europa jene Neben- und Nachwir-
kungen der nun zeitweise geltenden
Grenzkontrollen, mit denen die EU noch
lange zu kämpfen haben wird. Das gilt
für die Behinderungen, denen nun Pend-
ler unterworfen sind. Arbeitskräfte, die
jetzt verloren gehen, werden womöglich
nicht wiederkommen. Auch ein Teil des

Schadens, den der Binnenmark gerade
nimmt, wäre vermeidbar. Industrie und
Handel stehen schon jetzt vor den Trüm-
mern eines kaum noch gemeinsamen
Wirtschaftsraumes.
Die Grenzen werden sich nach der Co-
rona-Krise wohl nicht so einfach wieder
öffnen lassen. Und selbst wenn die Schlag-
bäume sich heben, werden Brüche, die in
jahrzehntelang zusammengewachsenen
Grenzregionen in kürzester Zeit wieder
entstanden sind, nicht ohne Weiteres ver-
schwinden. Erfreulich ist insofern, dass
die von Deutschland bisher für fünf Bin-
nengrenzen verfügten Kontrollen nun
vorerst doch nicht auf weitere Grenzen
ausgeweitet werden sollen.

Ob es geboten ist, wie nun von Bundes-
innenminister Horst Seehofer ange-
strebt, alle Einreisenden aus dem Aus-
land einer häuslichen Quarantänepflicht
zu unterwerfen, ist eine Frage an die Wis-
senschaft. Dasnational distancing,die
nationale Abschottung, sollte jedenfalls
unter demselben Begründungsdruck ste-
hen wie dassocial distancing,die räumli-
chen Distanzierung, der die Menschen
im Alltag unterworfen sind.
Das im Schengener Vertrag verankerte
und seit 25 Jahren verwirklichte grenzen-
lose Reisen, Handeln und Arbeiten ist die
große Errungenschaft der EU. Alles ande-
re leitet sich von ihr ab. Diese Errungen-
schaft stand schon vor der weltweiten Co-
rona-Krise unter Druck, etwa im Streit
um die Migration. Sie darf dem Virus nun
nicht zum Opfer fallen. Die Europäer müs-
sen gegen die Pandemie kämpfen, zu-
gleich aber auch um ihre Union. Wie gut
das gelingt, wird schon bald an den Bin-
nengrenzen zu sehen sein.

von meike schreiber

L


ange hat es nicht gedauert, bis die
Bundesregierung den Wünschen
der Wirtschafts- und Bankenverbän-
de nachgekommen ist: Der Staat geht jetzt
in Vorleistung, um die Corona-Krise abzu-
mildern, und zwar wie wohl noch nie seit
dem Zweiten Weltkrieg. Der Bund will
nun auch Kredite für kleine und mittlere
Unternehmen, die von Corona betroffen
sind, zu 100 Prozent absichern. Die Ban-
ken seien angeblich zu zögerlich gewesen,
die Hilfskredite auch tatsächlich auszurei-
chen, klagt Wirtschaftsminister Peter Alt-
maier. Über das Wochenende musste da-
her offenbar eiligst die Forderung der
Wirtschaftsverbände nach Vollbürgschaf-
ten erfüllt werden. Insgesamt könnte der
Staat Garantien von bis zu 300 Milliarden
Euro übernehmen. Unternehmen mit ma-
ximal 250 Mitarbeitern können bis zu
800 000 Euro Kredit erhalten. Das birgt
für den Staat große Risiken.
Es ist natürlich völlig richtig, dass der
Bund nun alle jene Unternehmen mit Zu-
schüssen und Krediten unterstützt, die
durch die Corona-Krise unverschuldet
über Wochen und vielleicht Monate einen
Großteil oder fast alle Einnahmen verlie-
ren. Man will den Zusammenbruch der
Wirtschaft verhindern. Bedenklich aber
ist, dass der Staat die kreditgebenden Ban-
ken nun plötzlich weitgehend aus dem Ri-
siko entlässt.
Eigentlich sollten die Geldhäuser zu-
mindest zehn bis 20 Prozent des Kreditri-
sikos tragen, während die bundeseigene
Förderbank KfW den Großteil überneh-
men sollte. Das wäre kein ganz schlechtes
Geschäft für die Banken gewesen: Zwar
werden viele Kredite ausfallen, immerhin
aber kassieren die Institute dafür Zinsen.
Zugleich hätten sie beweisen können,
dass sie auch in schwerer Zeit an der Seite
ihrer Kunden stehen. Gerade die Sparkas-
sen tragen es wie eine Monstranz vor sich

her, „gut“ zu sein für Deutschland. Es wä-
re eine prima Gelegenheit gewesen, dies
zu untermauern. Und tatsächlich sahen
viele Banken in der Krise auch eine Chan-
ce, ihren seit der Finanzkrise ramponier-
ten Ruf aufzufrischen: Bis Donnerstag hat-
ten Firmen etwa 3200 Anträge bei der
KfW gestellt, wovon bereits etwa 2700 ge-
nehmigt wurden. Die Sache hat also nicht
so schlecht funktioniert.

Nun aber geht man dennoch in die Vol-
len: Die Banken sollen die Kredite sogar
ohne die übliche Risikoprüfung ausrei-
chen. Das Risiko für den Bund erhöht sich
dadurch immens, auch wenn Finanzminis-
ter Olaf Scholz die Wahrscheinlichkeit für
gering hält, „dass die Kredite am Ende
nicht zurückgezahlt werden“. Daran wird
er sich messen lassen müssen. Denn nun
wird der Bund auch unzählige schwache
Unternehmen mit staatlichen Krediten
subventionieren, welche die Banken wahr-
scheinlich gleich aussortiert hätten.
Die Politik hatte eigentlich gerade die
Kapitalvorschriften für Banken in Windes-
eile gelockert, damit sie die Kraft haben,
für viele Milliarden Kredite zu vergeben
und Risiko zu tragen. Sollte sich nun zei-
gen, dass die Banken bei der krisenbeding-
ten Kreditvergabe doch keine große Rolle
spielen oder gar nur Zinsen kassieren und
dem Bund das Risiko lassen, sollten die
Aufseher die Lockerung zurücknehmen.
Auch in Italien und Spanien wird man
verfolgen, wie großzügig Deutschland
den eigenen Mittelstand stützt, während
sich die Bundesregierung selbst in der
größten Not nicht zu gemeinsamen krisen-
bedingten Euro-Staatsanleihen durchrin-
gen kann. Das alles wird sich rächen; wahr-
scheinlich eher früher als später.

V


errückte Ideen reifen in verrückten
Zeiten. Eine hat Heinz-Peter Meidin-
ger, Präsident des Deutschen Lehrer-
verbandes, soeben lanciert. Schlechte
Schüler, so lautet sein Vorschlag, sollten
„ernsthaft“ prüfen, ob sie das aktuelle, von
der Corona-Krise massiv beeinträchtigte
Schuljahr nicht lieber freiwillig wiederho-
len. Das sei womöglich besser, „als mit
massiven Wissenslücken aufzurücken“.
Klingt erst einmal logisch: Viele Lehrer
und Schüler mühen sich derzeit redlich,
um beim Homeschooling auch das „Schoo-
ling“ großzuschreiben. Aber echten Unter-
richt kann es nicht ersetzen. Schüler, die
auf der Kippe stehen, dürfen deshalb im
Zeugnis mit viel Nachsicht rechnen, der


Aufschrei wäre ansonsten gewiss. So man-
cher Schüler, hier hat Meidinger recht,
wird also erhebliche Corona-Lücken mit
ins nächste Schuljahr nehmen.
Was spricht da gegen eine freiwillige
Ehrenrunde? Nichts, wenn ein Schüler
das für die beste Idee hält. Alles, wenn der
Chef des Deutschen Lehrerverbandes sie
ihm aufdrängt. Aufgabe der Schulen ist
es, Lösungen zu finden, um die entstehen-
den Wissenslücken klein zu halten und
irgendwann wieder zu schließen – so
schwierig das aktuell ist. Die schwächsten
Schüler aber allein die Zeche der Krise
zahlen zu lassen, ist ein Vorschlag, den
Meidinger noch einmal ernsthaft überprü-
fen sollte. paul munzinger

I


n diesen düsteren Corona-Zeiten wird
gern nach einem Licht am Ende des
Tunnels Ausschau gehalten. Bislang
ist das nirgends zu sehen. Doch immerhin
hat die Regierung Österreichs nun ein
paar Kerzlein aufgestellt in der Finsternis,
indem sie für den Handel erste Lockerun-
gen nach Ostern ankündigte. Der Tunnel
selbst aber wurde gleich noch einmal ver-
längert: Die Ausgangsbeschränkungen
gelten nun bis Ende April, bis Ende Juni
bleiben Veranstaltungen verboten, min-
destens.
Natürlich ist es erfreulich, dass nach
vier Wochen des vom Kanzler ausgerufe-
nen „Minimalbetriebs“ der Versuch star-
ten soll, schrittweise Teile des Wirtschafts-


lebens wieder anzukurbeln. Die rigiden
Maßnahmen haben gegriffen, die Infekti-
onszahlen wurden stabilisiert. Die Regie-
rung hat also Grund, sich selbst und auch
die disziplinierte Bevölkerung zu loben.
Doch gewonnen ist damit noch nichts.
Mit diesem ersten Plan für die Zeit da-
nach ist Österreich den anderen europäi-
schen Ländern lediglich um einen Schritt
voraus. Deshalb wirkt es deplatziert, dass
Kanzler Kurz das Eigenlob, wie üblich,
mit dem Verweis auf andere Länder gar-
niert, die weniger gut durch diese Krise
kommen. Er muss gewiss sein Licht nicht
unter den Scheffel stellen, doch mit
solchem eitlen Blendwerk ist niemandem
geholfen. peter münch

E


s gibt bei einigen Politikern die
Neigung, den Kampf gegen das
Coronavirus zum „Krieg“ zu er-
klären. In Europa macht Frank-
reichs Präsident Emmanuel Ma-
cron das zuweilen, ganz besonders martia-
lisch aber geht es bei Donald Trumps tägli-
chen Pressekonferenzen zu. Der amerika-
nische Präsident bezeichnet das Virus als
„Feind“, über den ein „totaler Sieg“ errun-
gen werden müsse. Die Ärzte, die sich um
die Infizierten kümmern, nennt er „Krie-
ger“ und „Helden“, die „an der Front“ stün-
den. Insofern ist es wohl auch folgerichtig,
dass Trump sich selbst inzwischen als
„Kriegspräsidenten“ sieht.
Nun ist diese Kriegsanalogie einerseits
durchaus verständlich. Das Virus tötet
sehr schnell sehr viele Menschen. Dage-
gen müssen sich Staaten und Gesellschaf-
ten verteidigen. Es findet also eine Art An-
griff statt, auf den man mit Abwehr re-
agiert – rhetorisch ist der Schritt zum
Krieg da nicht mehr groß. Und vielleicht
beinhaltet der Begriff ja auch jene Dring-
lichkeit und Dramatik, die nötig ist, um
Menschen davon zu überzeugen, dass sie
von einem auf den anderen Moment ihr ge-
samtes Leben umkrempeln müssen, um
überhaupt am Leben zu bleiben.


Andererseits jedoch ist das Gerede vom
Krieg irreführend. Nach dem gängigen
Verständnis ist ein Krieg eine gewaltsame
Auseinandersetzung zwischen zwei Akteu-
ren, die unterschiedliche Ziele verfolgen –
und zwar nicht nur militärische, sondern
vor allem politische. Der preußische Offi-
zier Carl von Clausewitz hat das 1832 in
die klassische Definition gefasst, Krieg sei
„eine Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln“. Das Ziel von Krieg sei, so Clause-
witz, den Gegner mit Gewalt „zur Erfül-
lung unseres Willens zu zwingen“.
Wer vom Krieg gegen das Coronavirus
spricht, erweckt den Eindruck – oder die
Hoffnung –, man müsse dem Krankheits-
erreger nur mutig und entschlossen ge-
nug gegenübertreten, dann werde der sei-
ne Unterlegenheit schon einsehen und auf-
geben. Als sei das Virus eine feindliche Ar-
mee, die man zurückschlagen oder durch
harte Gegenwehr beeindrucken könne.
Das erinnert an die Appelle nach Terroran-
schlägen, man dürfe sich nicht einschüch-
tern lassen, man solle weiter in Konzerte
und auf Weihnachtsmärkte gehen. Tat-
sächlich gab es in New York noch vor Kur-
zem Politiker, die den Bürgern diese Art
des Widerstands empfahlen. Inzwischen
hat dort das große Sterben begonnen.


Denn abgesehen davon, dass Mut und
Entschlossenheit selbst in echten Kriegen
oft nicht reichen, um zu gewinnen, sind
diese Eigenschaften im Kampf gegen ein
Virus irrelevant. Sars-CoV-2 hat keinen
Willen, den man gewaltsam ändern könn-
te, und schon gar kein politisches Ziel. Das
Virus lässt sich nicht beeindrucken oder
überzeugen. Es existiert einfach. Es greift
Zellen an, zerstört sie und vermehrt sich.
Es kann, zumindest nach jetzigem Stand,
weder zum Rückzug noch zur Kapitulati-
on gezwungen werden.
Das mag sich ändern, sobald ein Medi-
kament oder ein Impfstoff entwickelt wor-
den ist. Das könnte man dann vielleicht ei-
nen Sieg nennen. Aber im Augenblick gibt
es nur eine wirksame Verteidigung gegen
das Virus, und die ist dezidiert nicht krie-
gerisch oder aggressiv: Um eine Infektion
zu vermeiden, muss man anderen Men-
schen ausweichen und sich selbst hinter
Masken verstecken.
Der einzige Zusammenhang, in dem
die Kriegsanalogie Sinn ergibt, ist die Mo-
bilisierung aller gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Kräfte, um Menschen
vor einer Infektion zu schützen und denen
zu helfen, die infiziert und krank sind. Das
Ziel im Kampf gegen das Coronavirus ist,
möglichst viele Menschenleben zu retten,
nicht – wie in den meisten Kriegen –, Men-
schenleben möglichst effektiv zu vernich-
ten. Krieg gegen das Virus bedeutet in die-
ser Hinsicht: Eine Regierung tut alles, da-
mit ihre Bürger einigermaßen unbescha-
det durch die Krise kommen. Das fängt da-
mit an, dass es genügend Schutzkleidung
für Ärzte gibt und eine ausreichende An-
zahl an Beatmungsgeräten. Und es hört
im besten Fall damit auf, dass diejenigen
aufgefangen werden, die durch die Krise
ihre Existenzgrundlage verlieren.
Genau bei diesen Aufgaben hat die US-
Regierung bisher allerdings auf erschüt-
ternde Weise versagt. Bis heute mangelt
es in amerikanischen Kliniken an profes-
sioneller Schutzausrüstung. Und deswe-
gen klingt auch das Loblied auf das Hel-
dentum der Ärzte, Sanitäter und Kranken-
schwestern, das der Präsident täglich an-
stimmt, hohl und falsch. Niemand bezwei-
felt, dass viele Mediziner in diesen Tagen
großartige Dinge tun, dass sie Leben ret-
ten oder dort, wo das nicht möglich ist,
das Sterben erleichtern. Aber zu Helden,
zu Menschen, die eine Infektion mit dem
Virus und damit ihr eigenes Leben riskie-
ren, um anderen Menschen zu helfen, wer-
den die Ärzte zwangsweise – weil ihre Re-
gierung sie im Stich gelassen hat. Weil
Trump lieber Golf gespielt hat, anstatt
sich darum zu kümmern, dass genügend
Schutzmasken in den Lagern liegen.
Kriegspräsident? Im Falle von Donald
Trump ist das nur ein billiges Etikett.

Der Ausdruck mag altmo-
disch und militärisch klin-
gen, dennoch wird er heute
noch oft und gern verwen-
det; so oft und so gern, dass
er fast schon wieder neumodisch ist. Stän-
dig ist irgendwer irgendwo ein Vorreiter:
ein Vorreiter der Sharing Economy, des
Umweltschutzes, des skandinavischen
Designs, der Videokonferenz. Synonym
könnte man heute natürlich auch Pio-
nier, Wegbereiterin, Vordenker, Revoluti-
onärin oder Influencer verwenden, aber
nur dem Vorreiter wohnt der Ritt inne.
Dem Grimm’schen Wörterbuch zufolge
wird damit ein vorausgeschickter Reiter
bezeichnet, der zu militärischen Zwecken
die Lage sondierte und etwaige Gefahren
erspähte. Des Weiteren übernahm er
auch die Funktion des Boten beziehungs-
weise des Anmelders, oder ritt einem
Wagen „zur Prachtentfaltung“ voraus.
Bei der Parforcejagd mit Hundemeute
und Pferden, die vor allem im 17. und 18.
Jahrhundert an europäischen Fürsten-
häusern beliebt war, wurde der Vorreiter
auch Piqueur genannt. Nun, da ein Virus
gejagt wird, reiten die einen Länder den
anderen gewissermaßen voraus, allein
schon zeitlich. Ob Österreich, das allen
voran angekündigt hat, seine früh einge-
führten Ausgangsbeschränkungen nach
Ostern schrittweise zu lockern, seine
Vorreiter-Rolle erfüllt, wird erst das Vor-
anschreiten der Zeit zeigen. fzg

4 HF3 (^) MEINUNG Dienstag, 7. April 2020, Nr. 82 DEFGH
FOTO: ARIEL SCHALIT/AP/DPA
EUROPA


Grenzerfahrung


KREDITE FÜR DEN MITTELSTAND

In die Vollen


SCHULEN

Die Zeche der Krise


ÖSTERREICH

Kerzlein im Tunnel


HÄUSLICHE GEWALT

Hilfe auf Dauer


sz-zeichnung: sinisa pismestrovic

CORONA


Etikettenschwindel


von hubert wetzel


AKTUELLES LEXIKON


Vorreiter


PROFIL


Jaakov


Litzman


Minister, der
das Virus ins
Kabinett brachte

Der Schengener Vertrag
darf dem Virus
nicht zum Opfer fallen

Es ist bedenklich, wie der
der Staat die Geldhäuser
aus dem Risiko entlässt

Mit dem Gerede vom „Krieg“


lenkt Präsident Trump


von eigenen Versäumnissen ab

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