Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
von peter burghardt

Zarrentin am Schaalsee– Sie könnte jetzt
in ihrem kleinen Haus in Mecklenburg-Vor-
pommern sein, in ihrem großen Garten,
mit ihrem Hund. Frühlingswetter, Oster-
woche, frische Luft, wenig Menschen, viel
Abstand, kaum Gefahr.
Der Zweitwohnsitz auf dem Land wäre
in diesen Zeiten des Virus deutlich sicherer
als ihr Erstwohnsitz in Hamburg für Helga
Hauchler, 78 Jahre alt, Raucherin, Hochrisi-
kogruppe. Deshalb fuhr sie bereits am



  1. März wieder nach Zarrentin am Schaal-
    see, in den abgelegenen Ortsteil Neuhof,
    wo sie seit 20 Jahren ihr Refugium hat.
    Doch statt in dem Dorf mit ein paar Hun-
    dert Einwohnern ist Helga Hauchler seit
    Anfang vergangener Woche wieder in ihrer
    Wohnung im zweiten Stock mitten in der
    Hansestadt, zwischen 1,8 Millionen Men-
    schen – das sind mehr, als in ganz Mecklen-
    burg-Vorpommern leben. Das Bundesland
    im Nordosten hat die Hamburgerin ausge-
    wiesen. Wegen Corona.


Sie bekam vom Amt Zarrentin im Land-
kreis Ludwigslust-Parchim den Hinweis,
dass Zweitwohnungsbesitzer ohne Erst-
wohnsitz oder berufliche Verpflichtung in
der Region abzureisen hätten. Andernfalls
seien Geldstrafen, ja sogar Freiheitsstra-
fen möglich. Die Verwaltung bezog sich auf
die landesweiten Maßnahmen von Meck-
lenburg-Vorpommern „zur Bekämpfung
der Ausbreitung des neuartigen Coronavi-
rus SARS-CoV-2“. Eine Tochter von Helga
Hauchler, Ärztin in Düsseldorf, schrieb
den zuständigen Behörden: Es sei doch völ-
lig unsinnig, ihre Mutter auf die Straße
nach Hamburg zu schicken. Helga Hauch-
ler bat per Mail ebenfalls um eine Ausnah-
megenehmigung: Sie wäre ja komplett un-
gefährlich, sie war seit dreieinhalb Wo-
chen in Neuhof. Umgekehrt würde sie sich
durch einen Rückzug in die gut 70 Kilome-
ter entfernte Großstadt selbst gefährden.
Die Antwort: nein, sie müsse gehen. „Dann
bin ich auch gegangen“, sagt Helga Hauch-
ler am Telefon. „Schweren Herzens.“
Andere Bundesländer sind ähnlich
streng, um das gleich klarzustellen. Auch
Schleswig-Holstein und einige Landkreise
in Niedersachsen warfen Eigentümer und
Bewohner von Ferienhäusern oder Zweit-
wohnungen aus der Fremde fürs Erste hin-
aus. Für Touristen ist der Norden ohnehin
bis auf weiteres tabu. Das Argument: Die
Pandemie soll eingedämmt werden, und
mit Urlaubern könnten die Krankenhäuser
der Gegend überfordert sein. Wobei die
Kieler Landesregierung das Verbot nach ei-


ner Beschwerde des Hamburger Senats ein-
schränkte: Auch auswärtige Immobilien-
eigner dürfen in Schleswig-Holstein blei-
ben, wenn sie schon dort sind. Das beru-
higt zum Beispiel Hamburger Villenbesit-
zer auf Sylt, sofern sie nicht abgereist wa-
ren; hinfahren darf man ohne Sonderge-
nehmigung nicht mehr. Schwerins Maß-
nahmen seien „eben flächendeckend“, wie
Helga Hauchler gelernt hat.

Ihr Fall zeigt, wie bizarr gut gemeinte
Verordnungen auf dem gegenwärtigen Co-
rona-Fleckenteppich Deutschland zuwei-
len ausfallen. Nach der Wende hat sich Hel-
ga Hauchler dieses Grundstück nordöst-
lich von Hamburg mit dem vormaligen
„Haus des Gärtners“ darauf gekauft, es
liegt wunderbar am Rande von Neuhof,
das zu Zarrentin am Schaalsee gehört.
Preiswert, still und viel Natur. Seit Frau

Hauchler als Lehrerin in Rente ging, wohnt
sie immer mehr in diesem Idyll.
Den schönen Schaalsee mit seinen
Bootshäusern und seinem Wald am Ufer
durchzog früher die innerdeutsche Gren-
ze, inzwischen ist es die Trennlinie von
Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vor-
pommern. „Hier waren Deutschland und
Europa bis zum 18. November 1989 um
16 Uhr geteilt“, steht auf einer Gedenktafel

an der Landstraße. An einem Corona-Tag
im April 2020 heißt es auf einem Schild da-
hinter: „Für touristische Verkehre im Land
gesperrt!“ Und wer durch die Gegend fuhr,
den sprang vergangene Woche die Schlag-
zeile einer Boulevardzeitung an: „Einhei-
mische schwärzen Fremde an!“
Die Polizei weist ungebetene Besucher
ab, auch von anonymen Hinweisen ist die
Rede. Ein Hamburger soll von Beamten

den Auftrag bekommen haben, sein Domi-
zil am Schaalsee binnen drei Stunden zu
verlassen, sonst drohe „Schutzhaft“. „Es
ist entsetzlich, was sich hier für eine Wut
entlädt“, klagt eine Frau aus der Gegend.
Dabei würden viele Erstwohnbesitzer stän-
dig zur Arbeit nach Hamburg pendeln und
eher das Virus mitbringen. „Ist das die Ein-
heit?“, stand über einem Leserbrief im
Hamburger Abendblatt, in dem von „De-
nunziantentum, Ausgrenzung von ,Wessis‘
und Neid auf angeblich stinkreiche
(Zweit-)Immobilienbesitzer auf dem ehe-
maligen Staatsgebiet der DDR“ die Rede
war. Skurrile Episoden werden allerdings
auch aus anderen Teilen des Corona-zer-
stückelten Bundesgebiets gemeldet. Helga
Hauchler weiß von einem Hamburger
Nachbarn, der seinen Besitz an der Schlei
in Schleswig-Holstein nur mit einer Art Ta-
gesvisum betreten durfte, um die Heizung
abzustellen. Es gibt auch vereinzelte Ge-
richtsentscheidungen für den Zweitwoh-
nungsbann oder dagegen, wie kürzlich in
Brandenburg. Und das rot-schwarz regier-
te Mecklenburg-Vorpommern schließt sei-
ne Inseln und Küsten über Ostern selbst
für die eigene Bevölkerung. Wer hätte ge-
dacht, dass man im Reiseland Meck-
Pomm mal lesen würde, dass die Polizei lee-
re Strände und Promenaden preist?

Helga Hauchler hat von Bekannten von
zwei Kontrollen in Techin bei Neuhof ge-
hört, die Polizisten seien aber sehr freund-
lich gewesen. Sie verließ ihren Landsitz der-
weil freiwillig, verunsichert und wütend.
Jetzt nimmt sie es hin, Hamburg sei ja kein
Kriegsgebiet, „wir jammern auf recht ho-
hem Niveau“. Verstehen kann sie ihre Aus-
weisung trotzdem nicht, „das ist hilfloser
Aktionismus“. Klar, auf einer Insel wie Use-
dom könnte es bei großem Andrang der-
zeit Probleme geben, die großen Kliniken
sind da recht weit weg. Aber Zarrentin am
Schaalsee an der Naht von West und Ost,
von wo man in einer Stunde in Hamburg
und in 45 Minuten in Schwerin ist?
Stand Dienstag zählt Mecklenburg-Vor-
pommern laut Robert-Koch-Institut 528
und der Landkreis Ludwigslust-Parchim
54 Fälle von Covid-19. In Hamburg sind es
2993, die Quote pro 100 000 Einwohner ist
fünfmal so hoch. Manche vertriebenen Fe-
rienwohnungsbesitzer wollen fürs Erste zu-
mindest ihre Zweitwohnungsteuer nicht
mehr bezahlen, der Streit geht weiter. Vor
ihrer Vertreibung kam sich Helga Hauchler
kurz vor wie „Asylbewerber, die auf ihre Ab-
schiebung warten“. Aber nein, sagt sie,
kein Vergleich, „mir geht’s gut“, sie führt ih-
ren Hund jetzt in Hamburg aus.

Berlin –Schüler mit schlechten Leistun-
gen sollten wegen der Corona-Krise nach
Ansicht des Deutschen Lehrerverbands
freiwillig die Klasse wiederholen, statt mit
großem Rückstand die nächste Klassenstu-
fe zu beginnen. Wenn die bisherigen Leis-
tungen sehr schlecht waren, sollte ernst-
haft geprüft werden, „ob nicht ein freiwilli-
ges Wiederholen sinnvoller ist, als mit mas-
siven Wissenslücken aufzurücken“, sagte
Verbandspräsident Heinz-Peter Meidin-
ger – zugleich Schulleiter des Comenius-
Gymnasiums in Deggendorf – der Tages-
zeitungBildvom Montag.
Seine Empfehlung gelte aber nur für
Schüler, bei denen es bereits vor der Coro-
na-Epidemie Leistungsdefizite gegeben
habe, die ein Erreichen des Klassenziels
„unwahrscheinlich“ erscheinen ließen.
„Das freiwillige Wiederholen hat in vielen
Bundesländern auch den Vorteil, dass es
nicht als Pflichtwiederholung gewertet


wird, was ein nochmaliges Wiederholen ei-
ner Jahrgangsstufe ausschließen kann“,
sagte Meidinger.
Er forderte zugleich entgegenkommen-
de Versetzungsregelungen. Als Möglichkei-
ten nannte Meidinger ein „großzügiges
Vorrücken auf Probe, gegebenenfalls so-
gar für alle, die nach bisherigem Stand sit-
zengeblieben wären“.

Obwohl die Schulen in Deutschland seit
dem 16. März geschlossen sind, sollen alle
Schüler am Ende des Jahres ein Zeugnis er-
halten; auch Sitzenbleiben ist möglich. Aus
den Bundesländern ist aber zu hören, dass
die außergewöhnlichen Umstände bei ver-
setzungsgefährdeten Schülern selbstver-

ständlich in die Entscheidung einfließen
würden – insbesondere, wenn die Schul-
schließungen über den 19. April hinaus an-
dauern. Das Bildungsministerium in
Rheinland-Pfalz hat einem Bericht der
Rheinpfalzzufolge festgelegt, dass kein
Schüler sitzenbleibt, sollten die Schulen
über den 4. Mai hinaus geschlossen blei-
ben. Das habe Bildungsministerin Stefanie
Hubig (SPD), die derzeit auch Präsidentin
der Kultusministerkonferenz ist, den
Schulleitungen in einem Brief mitgeteilt.
Meidinger forderte, in allen Bundeslän-
dern müssten die Schulen nun überlegen,
„wie wir im nächsten Schuljahr durch zu-
sätzliche Förderkurse, eigene Wiederho-
lungsphasen und vielleicht auch vorüber-
gehende Kürzung eventuell verzichtbarer
Lehrplaninhalte und Konzentration auf
das Grundwissen wieder in die Normal-
spur der Lehrplanerfüllung einschwenken
können“. dpa, pamu  Seite 4

Münster– Stefan Kubel hat einen andert-
halb Meter langen Bambusstock mitge-
bracht. Damit will er im Zweifel nachwei-
sen, dass der behördlich angeordnete Si-
cherheitsabstand zwischen den Demons-
tranten eingehalten wird, die sich an die-
sem sonnigen Montagvormittag am Alfred-
Krupp-Weg in Münster aufgestellt haben.
Etwa 30 Menschen mit Atemschutzmas-
ken und „Urantransporte stoppen!“-Ban-
nern warten hier auf einen Güterzug.
Der Zug transportiert Uranhexafluorid
aus der Anreicherungsanlage im westfäli-
schen Gronau nach Amsterdam. Von dort
soll die Fracht, die offiziell als Wertstoff
gilt, per Schiff zur russischen Atomfabrik
Novouralsk verfrachtet werden. Gegner
der Transporte durch das Urananreiche-
rungsunternehmen Urenco, darunter die
nordrhein-westfälischen Grünen, kritisie-
ren sie als gefährlichen Atommüllexport,
der in Corona-Zeiten besonders unverant-
wortlich sei. Auch die Stadt Münster hatte
Urenco kurzfristig und erfolglos um eine
Verschiebung des Transportes gebeten.
Stefan Kubel, Mitglied der Initiative „So-
fortiger Atomausstieg Münster“ (kurz „So-
fa“), hat nach eigner Aussage schon einige
Protestdemonstrationen an dieser Strecke
organisiert. Die Züge mit der radioaktiven
Fracht kommen immer durch die westfäli-
sche Universitätsstadt, weil dies die einzi-
ge Strecke für Güterverkehr ist, die aus Gro-
nau herausführt. Aber unter Pandemie-
Bedingungen sind Anbahnung und Umset-
zung einer solchen Versammlung auch für
den 51-jährigen Juristen eine sehr unge-
wohnte Erfahrung.
Bis Sonntagnachmittag war nicht klar,
ob die Anti-Atom-Demonstration über-
haupt würde stattfinden können. Kubel


hatte im März einen Antrag auf Genehmi-
gung einer Mahnwache gestellt. Diese lehn-
te die Stadt Münster, derzeit aufgrund der
Corona-Schutzverordnung zuständige Ver-
sammlungsbehörde, am 1. April ab. „Ich be-
kam eine Ordnungsverfügung, der zufolge
Versammlungen derzeit generell unter-
sagt seien“, erzählt Kubel: „Die Schutzver-
ordnung sieht aber ausdrücklich eine Aus-
nahme für Versammlungen vor, die dem In-
fektionsschutzgesetz entsprechen. Das
Verbot widersprach im Übrigen auch dem
Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.“
Erst ein Eilantrag beim Verwaltungsge-
richt führte dazu, dass das Ordnungsamt
einlenkte und dem Antrag stattgab.

Die Auflagen für die Demonstration be-
sagen, dass maximal 15 Personen teilneh-
men können, die mindestens anderthalb
Meter Sicherheitsabstand voneinander hal-
ten und zur Verringerung des Ansteckungs-
risikos Gesichtsmasken tragen müssen.
„Das ist wahrscheinlich die erste Versamm-
lung mit Vermummungsgebot“, vermutet
Kubel. Die Absperrung der schmalen Stra-
ße, die parallel zu den Gleisen verläuft,
funktioniert zunächst nicht richtig. Immer
wieder quetschen sich Laster durch, die
den nahen Supermarkt beliefern. Zudem
haben sich etwa doppelt so viele Demons-
tranten eingefunden wie erlaubt, was zu ei-
nigem Hin und Her mit den Vertretern des
Ordnungsamtes führt. Schließlich kommt
man zu einer pragmatischen Lösung: Die
Höchstteilnehmerzahl wird auf 45 erhöht.
Hinzu kommen noch einmal so viele Re-
porter, Kameraleute und Fotografen. Be-
sonders viele derartige Außentermine gibt
es derzeit ja nicht – für Journalisten genau-
so wenig wie für Polizisten, die sonst öffent-
liche Veranstaltungen sichern. „Seit zwei
Wochen ist das die erste“, sagt Polizeiober-
rat Ulrich Wloch. Versammlungsleiter Ku-
bel bittet die Teilnehmer noch, keine Flug-
blätter zu verteilen („Das hier ist eine statio-
näre Veranstaltung, kein Umzug.“) und
mahnt, nicht zu nah ans Gleis zu gehen.
Oben kreist ein Hubschrauber.
Die Durchfahrt des Transports gestaltet
sich dann recht unspektakulär: Fünfzehn
mit roten Planen bespannte Waggons rol-
len gemächlich an den Demonstranten vor-
bei. Die trommeln auf Blechfässer, pfeifen
und rufen: „Hopp, hopp, hopp, Atomtrans-
porte stopp!“ Der Transport stoppt nicht,
sondern fährt weiter Richtung Holland.
alexander menden

DEFGH Nr. 82, Dienstag, 7. April 2020 (^) POLITIK HF2 5
Die Klappbrücke, die bei Wolgast über den Peenestrom auf die Ostsee-Insel Usedom führt, haben sie noch nicht dauerhaft hochgeklappt. Aber wer hier nicht seinen
Erstwohnsitz angemeldet hat, ist in Mecklenburg-Vorpommern derzeit nicht willkommen. FOTO: STEFAN SAUER/DPA


Ein Land macht dicht

Hinaus aufs Dorf, um dem Virus zu entfliehen? Verboten. Wer ein Wochenendhaus oder eine Zweitwohnung hat,
darf vielerorts nicht mehr hin. Mecklenburg-Vorpommern greift gegen Stadtflüchtige besonders rigoros durch

Das Ziel fürs nächste
Schuljahr: die „Normalspur der
Lehrplanerfüllung“

Inseln und Küsten sind
über Ostern gesperrt, die Polizei
preist die leeren Strände

Wo früher die deutsch-deutsche


Grenze verlief, steht heute


ein Sperrschild an der Landstraße


Aufruf zur Ehrenrunde


Lehrerverbandspräsident rät schlechten Schülern, die Klasse freiwillig zu wiederholen


Nicht zu nah am Gleis: vermummter
Atomgegner in Münster. FOTO: MENDEN

Vermummungsgebot


Demonstrieren in Zeiten von Corona: In Münster geht das – auf Abstand und mit Maske


Marietta Slomka, heute journal


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