Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
von björn finke

Brüssel– Es ist der Tag der Entscheidung:
An diesem Dienstag diskutieren die EU-Fi-
nanzminister in einer Videokonferenz
über Hilfsangebote für Mitgliedstaaten,
die in der Corona-Krise in Not geraten. Auf
dem Tisch liegt ein Paket über etwa eine
halbe Billion Euro – das sind 500 000 Milli-
onen Euro. Die Frage ist, ob das Geld rei-
chen wird, um einen Streit zu beenden, der
alte Gräben zwischen Nord und Süd, zwi-
schen sparsamen und hoch verschuldeten
Ländern wieder aufgerissen hat: Gräben,
die schon die Bewältigung der Finanz- und
Staatsschuldenkrise erschwert haben.
Streitpunkt sind sogenannte Corona-
Bonds – oder „Europäische Wiederaufbau-
Bonds“, wie sie Italiens Ministerpräsident
Giuseppe Conte inzwischen lieber nennt.
Neun Regierungen, darunter neben seiner
die von Frankreich und Spanien, fordern,
dass die EU gemeinsam Anleihen herausge-
ben soll, deren Einnahmen in die Bekämp-
fung der Pandemie und der Rezession flie-
ßen. Alle Staaten würden gemeinschaft-
lich haften für die Schuldpapiere. Weil da-
durch auch finanzstarke Länder wie
Deutschland hinter den Anleihen stünden,
wäre die Risikoprämie, also der Zins, nied-
rig. Doch Regierungen wie die deutsche
und niederländische lehnen die Vergemein-
schaftung von Schulden seit jeher ab. Sie
wollen nicht mithaften für Länder mit we-
niger Haushaltsdisziplin.

Vor zwei Wochen endete daher ein EU-
Gipfel der Staats- und Regierungschefs im
Streit. Nun sollen die Finanzminister kon-
sensfähige Lösungen finden, denen dann
ein neuer Video-Gipfel zustimmen könnte.
Vorschläge für vergemeinschaftete An-
leihen kamen bereits während der Schul-
denkrise auf. Damals wäre Griechenland
fast aus der Euro-Zone ausgeschieden.
Wer damals für solche Eurobonds war, ist
heute für Corona-Anleihen. Wer dagegen
war, ist jetzt oft wieder dagegen.
Auf Seite der Unterstützer äußerten sich
am Montag die Fraktionen der Grünen und
der Sozialdemokraten im Europaparla-
ment. Der SPD-Abgeordnete Joachim
Schuster nannte Corona-Anleihen „einen
wichtigen Teil des wirtschaftlichen Wieder-
aufbau-Programms nach der Pandemie“.
Und der grüne Parlamentarier Sven Gie-
gold mahnte, es drohe ansonsten „eine tie-
fe und langfristige Spaltung Europas“. Der
CSU-Abgeordnete Markus Ferber hinge-
gen warnte davor, „immer neue kreative
Wege der Schuldenvergemeinschaftung
und Transferzahlungen“ zu entwickeln.
Wie Europaparlament und Mitgliedstaa-
ten ist auch die EU-Kommission gespal-
ten. Die französischen und italienischen
Kommissare Thierry Breton und Paolo
Gentiloni warben am Montag in einem Zei-
tungs-Gastbeitrag für einen EU-Hilfstopf,
den gemeinsame Anleihen füllen sollen.

Ziel sei „der gleichberechtigte und faire Zu-
gang jedes Mitgliedstaates“ zu neuen
Schulden. Sprich: Ihrer Meinung nach wä-
re es unfair, wenn Italien mehr Zinsen für
ein kreditfinanziertes Konjunkturpaket
zahlen muss als Deutschland.
Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen und der für den Euro zuständige
Vizepräsident Valdis Dombrovskis befürch-
ten dagegen, dass die Debatte um Corona-
Bonds die Stimmung vergiftet und abseh-
bar zu keinem Ergebnis führt. Von der Ley-
en trommelt stattdessen dafür, dass der
neue Sieben-Jahres-Haushalt der EU ein
Konjunkturprogramm enthalten soll, von
dem Länder wie Italien und Spanien beson-
ders profitieren würden.
Bislang konnten sich die Mitgliedstaa-
ten nicht auf einen EU-Finanzrahmen für
die Jahre von 2021 bis 2027 einigen. Von
der Leyen hofft, dass Regierungen wie die
deutsche und niederländische, die bisher

auf einen sparsamen Etat dringen, ihren
Widerstand aufgeben. Das Kalkül: Ein üp-
piges Brüsseler Budget und höhere Bei-
tragszahlungen könnten Berlin und Den
Haag lieber sein als die Vergemeinschaf-
tung von Schulden. Tatsächlich sicherten
Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Au-
ßenminister Heiko Maas am Montag in ei-
nem gemeinsamen Zeitungs-Beitrag Ent-
gegenkommen bei den Haushaltsgesprä-
chen zu. Daneben warben die beiden SPD-
Politiker für das Hilfspaket, das die EU-Fi-
nanzminister am Dienstag verabschieden
sollen – ohne Corona-Anleihen.
Das Paket besteht aus drei Teilen: So
soll der Euro-Rettungsschirm ESM Staa-
ten mit der Gemeinschaftswährung Kredit-
linien zur Verfügung stellen – im Wert von
bis zu zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleis-
tung. Für Italien wären das 39 Milliarden
Euro, für Spanien 28 Milliarden Euro, rech-
nen Maas und Scholz vor. Würden das alle

19 Euro-Staaten nutzen, kämen 240 Milli-
arden Euro zusammen. ESM-Darlehen
sind jedoch immer an Auflagen geknüpft,
etwa wirtschaftsfreundliche Reformen. Ita-
lien lehnt solche Vorbedingungen vehe-
ment ab. Ein Programmentwurf, welcher
derSüddeutschen Zeitungvorliegt, nennt
jetzt als einzig relevante Auflage nur noch,
dass das Geld wirklich gegen die Pandemie
genutzt wird.
Zweiter Teil des Pakets sind Bürgschaf-
ten der Europäischen Investitionsbank.
Die EU-Förderbank soll bis zu 200 Milliar-
den Euro an zusätzlichen Darlehen für Mit-
telständler ermöglichen. Drittens hat die
Kommission eine 100 Milliarden Euro
schwere Initiative für nationale Kurzarbei-
tergeld-Modelle vorgeschlagen. Steigen in
einem Land die Ausgaben für solche Pro-
gramme stark an, kann die Kommission
günstige Darlehen vergeben. Das alles sum-
miert sich auf etwa eine halbe Billion Euro.

Die Frage ist, ob dies Italien und Spani-
en genügt oder ob die Regierungen weiter
auf Corona-Bonds bestehen. Portugals Fi-
nanzminister Mário Centeno, der die Tref-
fen seiner Amtskollegen leitet, schlägt als
Kompromiss vor, die Diskussion um Anlei-
hen zu vertagen. Die Auseinandersetzung
„um gemeinsame Schulden darf nicht un-
sere Fähigkeit in Gefahr bringen, Konsens
über das Notfallpaket herzustellen“, mahn-
te er in einem Gespräch mit der SZ. Aber
diese Debatte werde fortgesetzt. Schließ-
lich würden alle Staaten aus der Corona-
Krise „mit einem viel höheren Schulden-
stand herauskommen“, und es müsse ver-
hindert werden, dass dies in manchen Län-
dern zu Problemen führe, sagte er: „Ein
Weg, um die Belastung zu mindern, wäre
die gemeinsame Ausgabe von Schulden.“
Der Streit um Corona-Anleihen wird al-
so weitergehen. Aufgeschoben ist nicht auf-
gehoben.

Berlin– Der Streit um die künftige Aus-
richtung der AfD ist vorerst entschieden.
Parteichef Jörg Meuthen habe verspro-
chen, die von ihm losgetretene Debatte
über eine mögliche Aufspaltung der Partei
in einen „sozial-patriotischen“ und einen
„freiheitlich-konservativen“ Flügel zu be-
enden, teilte der AfD-Bundesvorstand am
Montag in Berlin mit. In einem Beschluss,
den das Gremium in einer Telefonkonfe-
renz einstimmig gefällt habe, soll Meuthen
eingeräumt haben, „einen großen Fehler
begangen“ zu haben. Der Vorsitzende habe
zudem erklärt, „die Diskussion nicht wei-
terzuführen“. Der Bundesvorstand „be-
grüßt diese Klarstellung, bejaht die Ein-
heit der Partei und spricht sich gegen jegli-
che Bestrebung aus, diese zu gefährden“,
erklärte die Parteispitze.
Meuthen, der mit dem anderen Co-Vor-
sitzenden Tino Chrupalla die Doppelspitze
der AfD bildet, gilt damit intern als schwer
angeschlagen. Sein überraschender Auftei-
lungsvorschlag für die eigene Partei hatte
in der vergangenen Woche heftigen Streit
ausgelöst. Andere führende AfD-Politiker


  • unter ihnen Chrupalla und der AfD-Eh-
    renvorsitzende Alexander Gauland – hat-
    ten sich dagegengestellt und angekündigt,
    die Einheit der AfD auf jeden Fall erhalten
    zu wollen. „Es gibt nur eine AfD!“, heißt es
    in einer Erklärung, die Chrupalla zusam-
    men mit Gauland und Alice Weidel, den bei-
    den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion,
    vergangene Woche veröffentlichte. Schon
    vor Meuthens Alleingang hatte es in der
    Parteispitze Debatten über die Option ge-
    geben, die AfD in zwei Parteien aufzuspal-
    ten. Die sollten sich einerseits aus dem
    vom Verfassungsschutz als rechtsextrem
    eingestuften „Flügel“ um Björn Höcke, an-
    dererseits aus dem Rest der Partei bilden.
    Meuthen sei vor seinem Vorstoß gewarnt
    worden, heißt es. Er habe sich von seiner
    Idee aber zunächst nicht abbringen lassen.
    Der Parteichef hatte zudem gefordert, die
    AfD solle bis Ende des Jahres über seinen
    Vorschlag abstimmen.
    Nachdem Meuthen nun vom Rest der
    Parteispitze zum radikalen Abrücken von
    seinen eigenen Plänen gezwungen wurde,
    sei völlig offen, wie lange er sich noch an
    der Spitze der Partei halten könne, hieß es
    nach der Schalte in Kreisen der Partei.
    Am Sonntag war zudem bekannt gewor-
    den, dass ein weiterer Höcke-Gegner sei-
    nen Abschied aus der Partei vorbereitet.
    Der Vorsitzende der AfD-Fraktion im rhein-
    land-pfälzischen Landtag, Uwe Junge, hat
    das Ende seiner politischen Karriere ange-
    kündigt. Nach reiflicher Überlegung und
    aus gesundheitlichen Gründen werde er
    2021 nicht mehr für den Landtag kandidie-
    ren, erklärte Junge. markus balser


Neuer Streit über alten Gräben

Die EU-Finanzminister beraten über Corona-Hilfen für klamme Staaten. Doch Regierungen wie die deutsche wollen
keine gemeinsamen Anleihen ausgeben, und die Kommission ist gespalten. Ein Kompromiss? Könnte teuer werden

Meuthen verliert Streit


um AfD-Aufspaltung


Berlin– Deutschland hat seit Ausbruch
der Corona-Pandemie 198 schwerkran-
ke Patienten aus anderen EU-Staaten
zur Behandlung aufgenommen. Es gebe
noch Zusagen für 58 Behandlungsplät-
ze, die nicht in Anspruch genommen
worden seien, sagte ein Sprecher des
Auswärtigen Amtes am Montag in Ber-
lin. Es seien 130 Patienten aus Frank-
reich, 44 aus Italien und 24 aus den
Niederlanden gebracht worden. „Von
der italienischen Seite ist es im Moment
so, dass ein leichter Rückgang der Zahl
der Corona-Intensivpatienten zu beob-
achten ist.“ Daher sei aus Italien zu-
nächst kein weiterer Transfer nach
Deutschland geplant. Die Bundesländer
seien zu weiterer Hilfe bereit. Auch die
Luftwaffe beteiligte sich mit dem Air-
busA310MedEvac. dpa


Stockholm –Die schwedische Regie-
rung bemüht sich um mehr Durchgriffs-
rechte im Kampf gegen die Ausbreitung
des Coronavirus. Unter anderem geht es
um das Recht, Flughäfen oder Bahnhö-
fe ohne Zustimmung des Parlaments zu
schließen. „Wir haben gesehen, wie
rasch sich die Lage in Schweden und
Europa verändern kann, und wir brau-
chen mehr Möglichkeiten, um schnell
reagieren zu können, sollte das nötig
werden“, erklärte Gesundheitsministe-
rin Lena Hallengren. Im Gegensatz zu
den meisten europäischen Staaten hat
Schweden das öffentliche Leben wegen
der Pandemie bislang kaum einge-
schränkt. Die Schulen in dem Land sind
ebenso wie Restaurants oder Fitness-
Studios geöffnet. Die zusätzlichen Be-
fugnisse sollen zunächst für drei Mona-
te gelten. Das Parlament soll die Mög-
lichkeit erhalten, den einzelnen Maß-
nahmen so schnell wie möglich nach
deren Erlass zuzustimmen. Die Verhän-
gung des Kriegsrechts zähle nicht dazu,
hieß es. reuters


Warschau –Polens stellvertretender
Regierungschef Jarosław Gowin(FOTO: IMA-
GO)tritt im Streit über den Termin der
Präsidentenwahl in der Virus-Krise
zurück. „Ich bin der Meinung, dass die
Wahl nicht am 10. Mai abgehalten wer-
den kann“, sagte der Chef der kleineren
Koalitionspartei Porozumienie (Verstän-
digung) am Montag vor Journalisten.
Deshalb ziehe er sich zurück. Wie Go-
win hatten auch schon Oppositionelle


ein Votum genau zum erwarteten Höhe-
punkt des Virus-Ausbruchs als zu ge-
fährlich bezeichnet. Gowin betonte,
dass seine Partei am Regierungsbünd-
nis festhalte. Sein Rücktritt ist aber
dennoch die bisher größte Belastung
für die Koalition. Der führende Koaliti-
onspartner, die Partei Recht und Gerech-
tigkeit (PiS), hält an dem Wahltermin
fest. Die nationalistische PiS favorisiert
eine Briefwahl. Ohne ihren Junior-Part-
ner Porozumienie hätte die PiS-Koaliti-
on keine Mehrheit mehr. reuters


Berlin –Bundesgesundheitsminister
Jens Spahn (CDU) hat die Forderung der
FDP nach einer zumindest teilweisen
Legalisierung der Leihmutterschaft
zurückgewiesen. Durch das im Embryo-
nenschutzgesetz festgelegte Verbot
habe der Gesetzgeber im Interesse des
Kindeswohls die Eindeutigkeit der Mut-
terschaft gewährleisten wollen, heißt es
in der Antwort von Spahns Ministerium
auf eine Anfrage der FDP-Abgeordne-
ten Katrin Helling-Plahr, über die das
„Redaktions-Netzwerk Deutschland“
berichtet hatte. Bei einer Leihmutter-
schaft, bei der eine Frau das Kind für
eine andere Familie austrägt, seien
genetische und austragende Mutter
nicht identisch. „Die damit verbunde-
nen besonderen Schwierigkeiten bei
der Selbstfindung des Kindes ließen
aus Sicht des Gesetzgebers negative
Auswirkungen auf dessen Entwicklung
befürchten“, heißt es weiter. epd


Berlin –Bundespräsident Frank-Wal-
ter Steinmeier wird am Ostersamstag
eine Fernsehansprache zur aktuellen
Situation in der Corona-Pandemie hal-
ten. Das hat das Bundespräsidialamt
am Montag in Berlin mitgeteilt. Die
Ansprache werde in ARD und ZDF je-
weils im Anschluss an die Hauptnach-
richtensendungen am Abend ausge-
strahlt. Es ist das erste Mal, dass ein
Bundespräsident in dieser Form auf ein
aktuelles Ereignis eingeht, normalerwei-
se hält er solche Ansprachen nur jedes
Jahr an Weihnachten. Steinmeier hat in
den vergangenen Tagen mehrfach in
Videobotschaften die Bürger zu Zusam-
menhalt und Geduld angesichts der
verordneten Beschränkungen in der
Corona-Krise aufgerufen. dpa


Berlin– Mehr als 50 Abgeordnete der Uni-
onsfraktion haben in einem eindringli-
chen Appell EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen aufgefordert, Kinder
aus den Flüchtlingslagern auf den griechi-
schen Inseln in anderen EU-Ländern unter-
zubringen. Zu den Unterzeichnern des Ap-
pells gehören unter anderem Ex-Unions-
fraktionschef Volker Kauder, die stellver-
tretende CDU-Vorsitzende Silvia Breher,
die Staatsministerinnen Monika Grütters
und Annette Widmann-Mauz sowie Nor-
bert Röttgen und sechs der elf stellvertre-
tenden Unionsfraktionschefs.
„Die dramatische Lage in den Flücht-
lingslagern in Griechenland kann uns alle
in Europa nicht unberührt lassen“, heißt es

in dem Brief an die EU-Kommissions-
chefin, der derSüddeutschen Zeitungvor-
liegt. „Besonders die jüngsten und
schwächsten Personengruppen wie Frau-
en, Kinder und unbegleitete Jugendliche“
seien in einer äußerst schwierigen Situati-
on. Viele Kinder würden „unter Traumata
aufgrund ihrer Kriegserfahrungen und
den Zuständen in den Hotspots“ leiden.
Diese Situation sei „inakzeptabel für uns
Europäer“.
In Anbetracht der weltweit rasanten
Ausbreitung des Coronavirus sei „eine um-
gehende Aufnahme von geflüchteten Kin-
dern aus Lagern auf den griechischen In-
seln dringend geboten“. Den Schutzsuchen-
den in den Flüchtlingslagern drohe „eine

Katastrophe, sobald die Erkrankung Co-
vid-19 dort ausbricht“. Schon jetzt hätten
dort „viele nur sehr eingeschränkten Zu-
gang zu fließendem Wasser oder Seife –
von Desinfektionsmitteln oder ärztlicher
Versorgung ganz zu schweigen“.
Die Europäische Union befinde „sich an-
gesichts dieser katastrophalen Zustände
in einer ernsthaften Bewährungsprobe“,
heißt es in dem Brief. Die EU müsse jetzt
Griechenland „unterstützen und entlas-
ten“. Die Europäische Kommission sei da-
bei „in der dringenden Verantwortung, in-
itiativ zu werden“. Sie müsse es jetzt
schnell ermöglichen, dass die Kinder „zü-
gig aus den überfüllten Flüchtlingslagern
in Griechenland nach Deutschland und an-

dere bereitwillige EU-Mitgliedsstaaten zur
Betreuung und angemessenen Unterbrin-
gung gebracht werden können“. Der Brief
der Abgeordneten an von der Leyen endet
mit dem Satz: „Wir zählen dabei auch auf
Ihre persönliche Unterstützung.“ Von der
Leyen war vor ihrer Wahl zur EU-Kommis-
sionschefin zehn Jahre lang Mitglied der
Unionsfraktion.
Katja Leikert, die für Europapolitik zu-
ständige Vizechefin der Unionsfraktion,
sagte der SZ, man habe sich zu dem Brief
an von der Leyen zusammengetan, weil es
jetzt um „Handlungsfähigkeit auch in der
Krise“ gehe. Sie wolle nicht, „dass Kinder-
särge von den Inseln wegtransportiert wer-
den müssen“. robert roßmann

Berlin– Wie genervt Wolfgang Schäuble
wegen des Stillstands bei der Wahlrechtsre-
form ist, kann man ziemlich gut an seinem
jüngsten Brief an alle Fraktionsvorsitzen-
den erkennen. In dem Brief geht es aus-
schließlich darum, wie das Parlament in
der Corona-Krise seine Handlungsfähig-
keit sichern kann. Doch unter das Schrei-
ben hat der Bundestagspräsident völlig un-
vermittelt noch ein Postskriptum zu ei-
nem ganz anderen Thema gesetzt: „Cete-
rum censeo: Für die nächste Bundestags-
wahl muss dringend eine Lösung gefun-
den werden, die eine weitere Vergröße-
rung des Bundestags verhindert. Ich bin zu
jedem Gespräch bereit.“
Seit mehr als einem halben Jahrzehnt
beraten die Fraktionen nun schon über ei-
ne Wahlrechtsreform zur Verkleinerung
des Bundestags. Die Normgröße des Parla-
ments liegt bei 598 Abgeordneten, derzeit
sind es aber 709 – und nach der nächsten
Wahl könnten es sogar mehr als 800 wer-
den. Es wäre also dringend nötig, dem Auf-
wuchs Einhalt zu gebieten. Doch die Frakti-
onen haben sich noch immer nicht auf eine
Lösung verständigen können. Inzwischen
ist – wegen der Corona-Krise weitgehend
unbemerkt – ein wichtiger Termin unge-
nutzt verstrichen. Die Wahlkreis-Kandida-
ten für die nächste Bundestagswahl kön-
nen zwar erst vom 25. Juni an aufgestellt
werden – die Vertreter für die Versammlun-
gen zur Aufstellung dieser Kandidaten kön-
nen aber schon seit dem 25. März be-
stimmt werden. Deshalb galt der 25. März
als das Datum, bis zu dem spätestens die
Zahl der Bundestagswahlkreise, und da-
mit die der direkt gewählten Abgeordne-

ten, ohne Weiteres verringert werden
kann. Realistisch betrachtet sind jetzt also
nur noch Veränderungen des Wahlrechts
möglich, bei denen die Zahl der Wahlkreise
nicht reduziert wird.
Mancher in der Opposition glaubt, dass
die beiden Koalitionsfraktionen den Ter-
min gerne haben verstreichen lassen – sie
konnten sich eh nie für einen Neuzuschnitt
der Wahlkreise erwärmen. Sicher ist jeden-
falls, dass sich Union und SPD bis heute
nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag
zur Wahlrechtsreform haben verständigen
können.
Der Vorsitzende der Linksfraktion, Diet-
mar Bartsch, beklagt dieses jahrelange Un-

vermögen heftig. „Die Corona-Krise darf
nicht zum Alibi für das Aussetzen der not-
wendigen Wahlrechtsreform werden“, sagt
Bartsch. Bereits in der vergangenen Legis-
laturperiode habe die große Koalition „ei-
ne Reform verhindert, das sollte sich nicht
wiederholen“. Schließlich lägen alle nöti-
gen Informationen seit Langem auf dem
Tisch. „Ich fordere die Koalition deshalb
auf, endlich einen Vorschlag zu unterbrei-
ten, und nicht weiter auf Zeit zu spielen“,
sagt Bartsch. „Es ist unverantwortlich,
dass innerhalb der Union die CSU jede Lö-
sung blockiert“, klagt Katrin Göring-
Eckardt, die Fraktionschefin der Grünen.
Es müssten jetzt alle zusammen, also auch

die CSU, „sehr schnell zu einer Lösung bei
der Wahlrechtsreform kommen“. Dabei
müsse gelten, dass jede Stimme gleich viel
wert sei – „diesem Grundsatz folgend“ sei-
en die Grünen bereit, über „alle Vorschläge
auf der Basis des personalisierten Verhält-
niswahlrechts zu diskutieren“.
Bisher gibt es aber noch nicht einmal ei-
nen Termin für die nächste Gesprächsrun-
de der Fraktionschefs zum Wahlrecht. Uni-
onsfraktionschef Ralph Brinkhaus, er gilt
im Gegensatz zu CSU-Landesgruppenchef
Alexander Dobrindt bei der Opposition als
gesprächsbereit, will das Problem gar
nicht kaschieren. Es gebe momentan „sehr
unterschiedliche Positionen“, sagt er. Die
Wahlrechtsreform müsse aber kommen,
„wir arbeiten weiter daran, eine Lösung zu
finden“.
Und die SPD-Fraktion? „Wir haben ein
Brückenmodell vorgelegt, das kurzfristig
umsetzbar und praktikabel ist“, sagt deren
Parlamentarischer Geschäftsführer Cars-
ten Schneider. Dieser Vorschlag habe „neu-
en Schwung in die Debatte gebracht“. Und
auf dieser Basis verhandele man jetzt „mit
allen Fraktionen und natürlich auch mit
unserem Koalitionspartner“.
In dem SPD-Modell müsste die Zahl der
Wahlkreise tatsächlich nicht reduziert wer-
den – es wäre also noch umsetzbar, obwohl
der 25. März vorbei ist. Es sieht allerdings
eine Obergrenze von 690 Abgeordneten
vor. Mit diesem Modell könnte man also le-
diglich sicherstellen, dass der Bundestag
nicht noch weiter wächst – eine Verkleine-
rung wenigstens in die Nähe der Normgrö-
ße von 598 Abgeordneten würde man da-
mit aber aufgeben. robert roßmann

6 HF3 (^) POLITIK Dienstag, 7. April 2020, Nr. 82 DEFGH
Arbeiter entladen in Madrid eine Hilfslieferung mit medizinischer Ausrüstung aus China: Manche EU-Staaten klagen, es gebe zu wenig Solidarität in Europa. FOTO: DPA
Die allermeisten Abgeordneten würden ihren Sitz im Bundestag gern behalten, dar-
um ist eine Verkleinerung des Parlaments eher unbeliebt. FOTO: KAY NIETFELD/DPA
Deutsche und Niederländer
wollen nicht mithaften für Länder
mit weniger Haushaltsdisziplin
198 Patienten aufgenommen
Regierung will eingreifen
Polens Vizepremier wirft hin
Spahn gegen Leihmütter
Steinmeier spricht zum Volk
„Angesichts dieser katastrophalen Zustände“
Unions-Abgeordnete wollen Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern holen – und schicken einen Brandbrief nach Brüssel
KURZ GEMELDET
Die Schrumpfkur muss weiter warten
Der Bundestag wächst und wächst, doch Union und SPD lassen wieder einen wichtigen Termin für die Reform verstreichen

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