Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1

W


enn es um die besten Strategien
geht, das Coronavirus zu bekämp-
fen, wird oft Südkorea genannt.
Das Land hat den Anstieg der Infektions-
zahlen gebändigt, relativ wenige Todesfäl-
le zu verzeichnen – und das alles ohne
strengen Lockdown. Einer der wichtigsten
Gründe für den Erfolg ist Früherkennung:
Bis zu 15 000 Tests täglich werden vorge-
nommen, auch an Patienten ohne Sympto-
me. Dieses Programm funktioniert, weil
die Gesellschaft in Südkorea so durch-
digitalisiert ist wie kaum eine andere. Und
weil sich die Bürger auf staatliche Über-
wachung einlassen, die in anderen demo-
kratischen Ländern als Bruch der Privat-
sphäre gedeutet würde.


Daten aus Kreditkarten und aus Mobil-
telefonen helfen bei der Suche nach Men-
schen, die mit Infizierten Kontakt hatten.
Nirgends auf der Welt wird so viel bargeld-
los bezahlt, die Bewegungen von Kredit-
kartenbesitzern werden aufgezeichnet.
Auch die Mobiltelefondichte ist beispiel-
los. Dank 860 000 4G- oder 5G-Funkmas-
ten gibt jedes Mobiltelefon fast rund um
die Uhr den Aufenthaltsort des Besitzers
preis. Dazu kommt eine hohe Dichte an
Überwachungskameras in Südkorea, jeder
Mensch wird im öffentlichen Raum täglich
mehrere Male gefilmt.
So können Gesundheitsbehörden nicht
nur Kontaktpersonen von Infizierten aus-
findig machen. Sie können auch nachverfol-
gen, wer wen angesteckt haben könnte, wie
verbreitet das Virus wirklich ist. Auf den In-
ternetseiten lokaler Verwaltungen oder via
App kann jeder sehen, wo die neuesten In-
fektionen aufgetreten sind. Für jeden, der
wissen will, wo er in Zeiten der Pandemie
besser nicht hingehen sollte, ist das gut.
Für Datenschützer ist Südkoreas schö-
ne neue Welt hingegen eher ein Albtraum:
Bewegungsprofile, angereichert mit Bil-
dern von Überwachungskameras, dazu In-
formationen zum Konsumverhalten – zum
gläsernen Bürger fehlt da nicht mehr viel.
Manche Länder gehen sogar einen Schritt
weiter. Sie wollen nicht nur wissen, wo sich
das Smartphone eines Bürgers befindet,
sondern auch, was darauf gespeichert ist.
In der Hightech-Nation Israel etwa hat
die von Benjamin Netanjahu geführte Über-
gangsregierung per Notstandsverordnung
die Bürgerüberwachung durch Handyda-
ten in die Hände des Inlandsgeheimdiens-
tes gelegt und zunächst nicht einmal das
Parlament eingebunden. Der Schin Bet
darf nun Technologien einsetzen, die bis-
her nur im Antiterrorkampf gestattet wa-
ren. Jeder positive Corona-Test löst beim
Schin Bet eine Kette an Datenabfragen
aus: Mit wem war der Patient in den vergan-
genen zwei Wochen in Kontakt und wie lan-
ge? Wo war die Person unterwegs?
Neben GPS-Daten werden 14 Sensoren
der Smartphone ausgewertet, die etwa Be-
wegung, Beschleunigung oder die Lichtver-
hältnisse messen, Auskünfte, welches


Wlan-Netz oder Gerät mit Bluetooth sich
in der Nähe befunden hat. Das ermöglicht
dem Geheimdienst tiefe Einblicke in die
Privatsphäre von jedem, der sich in Israel
aufhält – weit über Standortabfragen bei
Smartphones hinaus. „Man kann richtig in
die Inhalte hinein, in die sozialen Netzwer-
ke desjenigen und in seine E-Mails“, sagt
Cybersecurity-Spezialist Isaac Ben-Israel
im israelischen Armeeradio.
Dass der Geheimdienst die Erkenntnis-
se mit bereits vorhandenen Daten für ande-
re Ziele abgleicht oder dass er sie nach dem
Ende der Krise nicht wieder löscht – diese
Sorgen treiben vor allem Datenschützer
um. Der Großteil der Bevölkerung hält die
Überwachung bisher für richtig. Schließ-
lich ermöglicht sie, dass Personen, die Infi-
zierten zu nahe kamen, automatisch eine
SMS mit der Aufforderung bekommen,
sich in Quarantäne zu begeben.
Freiwillig nutzen bereits 1,6 der 6,5 Milli-
onen Smartphone-Besitzer in Israel die
App „HaMagen“, hebräisch für „Das
Schutzschild“. Durch den Abgleich der Han-
dydaten zeigt sie Usern an, ob sie in der Nä-

he eines Verdachtsfalls waren. Verteidi-
gungsminister Naftali Bennett will nun
noch ein System aufbauen, das die Bewe-
gungen Infizierter in Echtzeit überwacht –
unter Beteiligung umstrittener Dienstleis-
tern für Spionagesoftware wie der Firma
NSO. Bisher legt das Justizministerium ein
Veto ein, Bürgerdaten sollten nicht Privat-
firmen überlassen werden. Bennett hinge-
gen sagt: „Wir befinden uns im Krieg. Ich
will nicht auf ein Werkzeug verzichten, das
den israelischen Bürgern helfen könnte.“
In der Europäischen Union mit ihren ver-
gleichbar strengen Datenschutz-Richtli-
nien wären solche weitgehenden Maßnah-
men hingegen undenkbar. „Selbst in so ei-
ner Ausnahmesituation müssen die Grund-
sätze des Datenschutzes respektiert wer-
den“, sagte EU-Kommissarin Věra Jouro-
vá. Die Datenschutzgrundverordnung
sieht strenge Regeln vor allem für Anwen-
dungen vor, bei denen persönliche Daten
der Nutzer gespeichert werden. Laut Jouro-
vá sollten solche Apps darum mindestens
zwei Bedingungen erfüllen: „Erstens müs-
sen die Leute informiert werden und ihr

Einverständnis erklären. Und zweitens dür-
fen die Daten nur für eine kurze, klar be-
grenzte Zeit gespeichert werden.“
Gerade eruiert die EU-Kommission, ob
es möglich wäre, sich mit den Mitgliedern
auf gemeinsame Standards für Anwendun-
gen zu einigen – dann könnten die Apps
möglicherweise Teil einer abgestimmten
Exitstrategie für die Lockerung von Be-
schränkungen sein, heißt es aus der Kom-
mission. Dafür wäre es hilfreich, wenn die
Apps aus benachbarten Ländern miteinan-
der kommunizieren könnten – damit etwa
ein Grenzgänger nicht „verloren“ geht,
wenn er im Nachbarland seiner Arbeit
nachgeht. Die Bundesregierung dringe auf
die Anwendung nur einer App in ganz Euro-
pa, sagte am Montag ihr Sprecher Steffen
Seibert. Das Schlimmste wäre, wenn viele
verschiedene benutzt würden.
Die bereits in Europa eingesetzten Apps
sind bisher vergleichsweise zurückhal-
tend: Tschechien etwa hat mit seinem Pro-
jekt „FreMen contra Covid“ eine Anwen-
dung entwickelt, die „nichts vorschreibt,
nichts verbietet, niemanden verfolgt und

keine persönlichen Daten sammelt“, so die
Entwickler von der Technischen Hochschu-
le in Prag. Das Programm will Menschenan-
sammlungen verhindern, indem es Pro-
gnosen aufgrund von Bewegungsdaten
trifft – und rät dann etwa, später einkau-
fen zu gehen. Die Slowakei geht einen hal-
ben Schritt weiter: Die App „Bleib gesund“
verfolgt die Aufenthaltsorte der Nutzer, je-
doch anonymisiert: Statt mit Namen oder
Telefonnummern werden die Anwender
mit einem Code gespeichert, wer sich Infi-
zierten auf 50 Meter nähert, bekommt eine
Warnung aufs Handy. Gleichzeitig kann
die App überwachen, ob sich Infizierte an
die Quarantäne halten. Das per Handy-
tracking zu überprüfen, hat sich die Regie-
rung mit ihrer „Lex Korona“ gestattet.
Die Anwendungen dieser Apps sind bis-
her freiwillig. Als in Österreich ein einfluss-
reicher Politiker der regierenden Volkspar-
tei andeutete, er könne sich eine verpflich-
tende App als Begleitmaßnahme zur Locke-
rung von Ausgangsbeschränkungen vor-
stellen, war die Kritik heftig. Bislang hat
nur Polen diesen Schritt gewagt: Seit


  1. März ist dort die App „Kwarantanna Do-
    mowa“ (Hausquarantäne) im Einsatz, da
    die Polizei bei mittlerweile 300 000Perso-
    nen in Quarantäne nicht mehr in der Lage
    ist, die Kontrollen offline durchzuführen.
    Wer sie auf sein Telefon lädt, erhält zu
    wechselnden Zeiten eine SMS. Danach hat
    der Nutzer 20 Minuten, um ein Foto aufzu-
    nehmen und abzuschicken. Die Polizei soll
    so mit den GPS-Daten des Telefons sehen
    können, ob die Person in ihrer Wohnung
    ist. Die Nutzung der App war erst freiwillig,
    seit 1. April ist sie verpflichtend. Nur
    scheint sie theoretisch besser zu funktio-
    nieren als in der Praxis: Tausende Nutzer
    berichten von Funktionsstörungen.
    Auch wegen der technischen Schwierig-
    keiten überlegt man in Polen, bald auf eine
    gesamteuropäische Lösung umzusteigen:
    130 europäische Wissenschaftler und IT-
    Experten entwickeln derzeit eine Basissoft-
    ware für Corona-Apps, die gleichzeitig
    Datenaustausch unter den Staaten und Da-
    tenschutz ermöglichen soll. Sie trägt den
    sperrigen Titel „Pan-European Privacy-
    Preserving Proximity Tracing“, kurz Pepp-
    PT. Die Idee hinter der Initiative hingegen
    ist einfach: „Wir brauchen nicht noch eine
    App, wir brauchen einen einheitlichen Rah-


men“, sagt IT-Unternehmer Chris Boos,
der das Projekt koordiniert.
Die Plattform ist ein Software-Gerüst,
auf dem App-Entwickler aufsetzen kön-
nen. An der deutschen Umsetzung sind das
Robert-Koch-Institut (RKI) und das Hein-
rich-Hertz-Institut (HHI) beteiligt. Die App
basiert auf der Bluetooth-Funktechnik
und soll komplett anonym funktionieren.
Jedes Handy, auf dem die Software läuft,
erhält eine zufällige Identifikationsnum-
mer, die sich regelmäßig ändert. Andere
Geräte, die sich für einen bestimmte Zeit-
raum in der kritischen Reichweite von we-
niger als zwei Metern befinden, werden lo-
kal und verschlüsselt gespeichert – aber
nur die pseudonyme Identität, die keinen
Rückschluss auf den Nutzer zulässt.
Nach einer positiven Diagnose über-
trägt der Erkrankte die Liste der IDs einem
zentralen Server. Dann werden Kontakt-
personen per Push-Nachricht aufgefor-
dert, sich testen zu lassen. Nie werden per-
sönliche Informationen, Standortdaten
oder andere Merkmale gespeichert, die er-
möglichen, Infizierte oder ihre Kontakte
zu identifizieren. An der Entwicklung sind
der Bundesdatenschutzbeauftragte und
das Bundesamt für Sicherheit in der Infor-
mationstechnik beteiligt. Und: Keiner wird
gezwungen, die App zu installieren. Aus
der Freiwilligkeit folgt die große Herausfor-
derung: Die Wissenschaftler hoffen, dass
60 Prozent der Bevölkerung die App nut-
zen – in Deutschland wären das 50 Millio-
nen Menschen. Vor allem ältere Leute, die
besonders gefährdet sind, besitzen oft kein
Smartphone. Deshalb denken die Forscher
daran, auch Bluetooth-Armbänder oder an-
dere tragbare Geräte zu verteilen. Die Pepp-
PT-Plattform soll im Lauf dieser Woche fer-
tig sein. Die App für deutsche Nutzer soll
nach Ostern veröffentlicht werden.

New York– Am Wochenende gab es erst-
mals seit Wochen so etwas wie gute Nach-
richten aus New York: Die Zahl der Men-
schen, die an einem Tag an den Folgen des
Coronavirus gestorben sind, ist gesunken.
Während es am Samstag 630 Tote gab, wa-
ren es am Sonntag 594. Gouverneur An-
drew Cuomo warnte davor, diese Zahlen
überzuinterpretieren, sagte aber zugleich,
dass es sein könne, dass New York ein Pla-
teau erreicht habe, sprich: dass die Zahlen
nun stabil blieben und nicht wie zuletzt
von Tag zu Tag sprunghaft stiegen. „Das
wäre eine gute Nachricht“, sagte er.
Landesweit ist die Zahl der offiziell regis-
trierten Fälle auf mehr als 330 000 gestie-
gen, die Vereinigten Staaten sind damit
mit großem Abstand das Land mit den
meisten Corona-Fällen weltweit. Dem Im-
munologen Anthony Fauci zufolge, der das
Corona-Krisenmanagement im Weißen
Haus koordiniert, gibt es allerdings eine
enorme Dunkelziffer. Bis zu 50 Prozent der
Infizierten könnten keinerlei Symptome
zeigen, sagte er. Sie könnten das Virus aber
dennoch übertragen. Deshalb wird in den
USA nun geraten, Schutzmasken zu tra-
gen. Es müsse sich dabei nicht um medizi-
nische Masken handeln, es reiche, sich ei-
nen Schal vors Gesicht zu binden.

Präsident Donald Trump sagte, es stehe
den Bürgern frei, Masken zu tragen. Er
selbst werde das nicht tun. Er begründete
das unter anderem damit, dass er „Präsi-
denten, Premierminister, Diktatoren, Köni-
ge und Königinnen“ treffe. Tatsächlich
trifft der amerikanische Präsident derzeit
niemanden, auf den diese Beschreibungen
zuträfen. Die Zahl seiner Kontakte ist stark
eingeschränkt, die meisten Mitarbeiter
des Weißen Hauses arbeiten von zu Hause
aus. Wer dem Präsidenten persönlich be-
gegnet, wird zuvor auf das Virus getestet.
Mit Anthony Fauci liegt Trump über-
kreuz, weil der Präsident davon überzeugt
ist, dass das Malariamittel Chloroquin ge-
gen das Virus helfe. Wiederholt hat er zu-
letzt bei seinen täglichen Pressekonferen-
zen im Weißen Haus gesagt, dass er glau-
be, man solle das Medikament einsetzen.
Er verlasse sich dabei auf sein Bauchge-
fühl, sagte der Präsident. „Was weiß ich?
Ich bin kein Arzt“, stellte Trump fest, schob

aber hinterher, dass es eine Schande wäre,
es nicht versucht zu haben, falls es tatsäch-
lich wirke. Chloroquin wird gegenwärtig
bei der Behandlung von Covid-19-Patien-
ten getestet; Bayer will den Stoff auch in
Europa produzieren.
Als Reporter den Immunologen Fauci
fragten, wie er die Sache sehe, ging Trump
dazwischen. „Er hat diese Frage bereits 15
Mal beantwortet“, blaffte der Präsident.
Fauci hat in der Tat mehrmals seine Skep-
sis bezüglich der Wirksamkeit von Chloro-
quin kundgetan. Er sagte, es müsse erst
eingehend getestet werden, ob das Medika-
ment tatsächlich eingesetzt werden könn-
te. Aufs Trumps Drängen hin hat die Regie-
rung 29 Millionen Dosen gelagert. Ob Chlo-
roquin entgegen dem Rat von medizini-
schen Beratern im Weißen Haus zum Ein-
satz kommt, ist derzeit offen.
Annähernd 10 000 Menschen sind in
den USA nach letztem Stand an den Folgen
des Virus gestorben. Das Weiße Haus
stimmte die Amerikaner daher auf eine
Woche „des Todes und der Traurigkeit“
ein. Während die Zahlen in New York even-
tuell nicht mehr so stark steigen, nimmt
die Krise in anderen Teilen des Landes erst
richtig Fahrt auf. In Louisiana häufen sich
die Fälle derart, dass das benachbarte Te-
xas Kontrollpunkte an der Staatsgrenze er-
richtet hat. Wer aus Louisiana einreist, soll
sich zwei Wochen in Quarantäne begeben.
Florida kontrolliert ebenfalls Fahrzeuge
aus Louisiana sowie aus New York. In dem
südlichen Bundesstaat gibt es schon län-
ger die Klage, dass das Virus von New Yor-
kern eingeschleppt werde, die Ferienhäu-
ser besitzen. Als wahrscheinlicher gilt hin-
gegen, dass Florida so stark betroffen ist,
weil es seine Strände lange nicht sperrte
und erlaubte, dass Zehntausende Studen-
ten aus dem ganzen Land ihre Frühlingsfe-
rien im Bundesstaat exzessiv feierten.
In der Bronx, im Norden New York Citys
gelegen, befindet sich der größte Zoo der
Stadt. Dieser meldet die ersten Corona-Fäl-
le. Nadia, ein vier Jahre alter Tiger, wurde
positiv getestet. Mehrere Löwen und weite-
re Tiger zeigten ebenfalls Symptome. Das
führt zu zwei Fragen. Erstens: Wenn es für
die Menschen in New York so schwierig ist,
getestet zu werden, wieso wird dann ein Ti-
ger getestet? Und zweitens: Wenn Großkat-
zen sich mit dem Virus infizieren können,
was ist dann mit den laut Schätzung des na-
tionalen Haustierverbandes 95 Millionen
Hauskatzen, die in den USA leben?
christian zaschke

Schöne neue Welt

Die Analyse von Handy- und Verbraucherdaten kann helfen, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen.
Privatsphäre und Gemeinwohl, Zwang und Freiwilligkeit – Staaten müssen nun schwierige Abwägungen treffen

Tokio –Die Kreuzung von Shibuya ist wie
verwandelt. Wenn die Ampel auf Grün
schaltet, eilen hier normalerweise Tausen-
de Menschen gleichzeitig über die Zebra-
streifen zwischen Bahnhof und Einkaufs-
meile. Die Scramble Kousaten ist einer der
lebendigsten Orte Tokios, ein Anziehungs-
punkt für Fremde und Einheimische. Aber
jetzt? Nur vereinzelt spazieren Leute über
die sich kreuzenden Straßen. Drüben steht
kaum beachtet das Denkmal des treuen
Hundes Hachiko, um den sich sonst die fo-
tografierende Masse drängt. Auf dem Bild-
schirm einer Hochhausfront erscheint zwi-
schen Werbespots und J-Pop-Einspielun-
gen die mahnende Gouverneurin Yuriko
Koike mit dem Gebot der Coronaviruszeit:
Abstand halten. Das Übliche.
Und so wird es erst mal bleiben. Denn
zehn Tage nachdem Gouverneurin Koike
ihre Bürger dazu aufgerufen hat, wegen
deutlich steigender Infektionszahlen am
Wochenende zu Hause zu bleiben, hat nun
auch der Premierminister reagiert. Shinzo
Abe hat am Montag erklärt, er wolle für sie-
ben Präfekturen den Notstand ausrufen:
für Kanagawa, Saitama, Chiba, Osaka, Hyo-
go, Fukuoka und eben für Tokio. Grundla-
ge ist ein Gesetz, das Abe kürzlich eigens
für den Kampf gegen das neuartige Corona-
virus durch das Parlament gebracht hat.
„Die Erklärung soll etwa einen Monat gel-
ten“, sagte Abe, sie solle die medizinische
Versorgung sichern und bewirken, dass
„die Öffentlichkeit noch mehr dabei hilft,
soziale Kontakte zu vermeiden und Infekti-
onen so weit wie möglich zu reduzieren“.
Eine Überraschung ist Abes Vorstoß
nicht mehr gewesen. Trotzdem ist er der
vorläufige Höhepunkt einer japanischen
Coronavirus-Geschichte, die seltsam wech-
selhaft wirkt. Diese Geschichte begann
nicht sehr lange nach dem Ausbruch des Vi-
rus’ in der chinesischen Stadt Wuhan. Ja-
pan und China pflegen rege Kontakte, viele
chinesische Touristen kommen ins Land.
Und sie kamen auch noch, nachdem Ja-
pans Regierung zunächst nur eine Einreise-
beschränkung für Menschen aus Wuhan
und der Provinz Hubei verhängt hatte.
Kritischen Medizinern kamen die japa-
nischen Infektionszahlen deshalb schon
früh zu niedrig vor. Sie kritisierten die we-
nigen Tests der Behörden. Aber vom Ge-
schehen im Inselstaat lenkte der Umstand
ab, dass Japans Gesundheitsministerium
das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess
mit anfangs 3700 Menschen in Yokohama
unter Quarantäne gesetzt hatte und dabei

die Ausbreitung des Virus’ an Bord nicht
verhindern konnte.
Während Südkorea, ebenfalls ein Nach-
bar Chinas, mit einem mächtigen Testpro-
gramm die Tiefen der Gesundheitskrise
auslotete, schien Japan eher an der Oberflä-
che zu bleiben. Früh setzten erste Vor-
sichtsmaßnahmen ein, Absagen von Groß-
veranstaltungen, Schließungen. Zwischen-
durch verzeichnete die Präfektur Hokkai-
do steil ansteigende Fallzahlen, aber nach

drei Wochen der Selbstbeschränkung durf-
ten die Menschen wieder auf die Straße.
Abe wiederum legte der Nation Schulschlie-
ßungen nahe, welche dann auch fast alle
Präfekturen bewerkstelligten. Gleichzeitig
warb der rechtskonservative Premier mit
eisernem Optimismus und trotz Athleten-
protesten für die Olympischen Spiele, die
im Sommer in Tokio stattfinden sollten.
Aber am 23. März stand die Verlegung
der Spiele wegen der Pandemie fest. Und
als habe diese Nachricht das Coronavirus
in Japan geweckt, stiegen plötzlich die In-
fektionszahlen, vor allem in Tokio – auch
durch Einreisende aus Europa und Ameri-

ka, wie es von Seiten der Behörden hieß. Yu-
riko Koike hatte ihre Auftritte. Geschäfte
veränderten ihre Öffnungszeiten. Parks
für Kirschblütenbetrachter wurden ge-
sperrt. Es wurde ruhiger denn je in Tokio.
Satoshi Kamayachi, Vorstandsmitglied
des Japanischen Medizinerverbandes und
Mitglied eines Berater-Gremiums, sagte:
„Ich persönlich habe das Gefühl, es wird
Zeit für eine Notstandserklärung.“
Und jetzt ist sie also da. Abe legt Wert
darauf, dass ein japanischer Coronavirus-
Notstand nicht zu einem strengen Lock-
down führe wie in einigen amerikanischen
und europäischen Städten. Die Bitte, zu
Hause zu bleiben, hat jetzt mehr Nach-
druck. Gouverneure können die Schließun-
gen von Schulen, Läden oder Kinos nahele-
gen. Aber vieles war zuletzt ohnehin schon
zu. Die Leute folgten den Ansagen. Ein gro-
ßer Unterschied ist nicht zu erwarten.
Dafür ist der Ehrgeiz der Regierung in
der Coronavirus-Bekämpfung neu. Am


  1. März stand Japan noch bei 1299 bestä-
    tigten Infektionen mit 44 Todesfällen bei
    23 521 Tests insgesamt. Am Montagabend
    zählte Japan 4041 Infektionen sowie 108
    Todesfälle. Und Shinzo Abe gab bekannt,
    dass von nun an nicht mehr nur an der
    Oberfläche nach Covid-19-Patienten ge-
    schürft werde. 20 000 Tests sind geplant,
    pro Tag. thomas hahn


Woche der Traurigkeit


Das Virus kommt in vielen Teilen der USA erst richtig in Fahrt


Vor allem ältere Leute besitzen oft
kein Smartphone – sie könnten
Bluetooth-Armbänder bekommen

Eine seltsam wechselhafte Geschichte: Japans Regierungschef Abe – hier auf einem
Plakat – hat lange mit Maßnahmen gezögert. FOTO: TOMOHIRO OHSUMI/GETTY IMAGES

Eine nachdrückliche Bitte


Japans Premier Abe will in sieben Präfekturen den Notstand ausrufen


München– Der Mörder des slowakischen
Journalisten Ján Kuciak muss für 23 Jahre
ins Gefängnis. Zu diesem Urteil kam am
Montag der Spezialstrafgerichtshof Pezi-
nok nahe der Hauptstadt Bratislava. „Kalt-
blütigkeit und Heimtücke“, hätten das Han-
deln des 37 Jahre alten Täters bestimmt, be-
gründete Richterin Ružena Sábová den
Spruch des Gerichts. „Die Opfer hatten kei-
ne Chance, sich zu wehren.“ Im Februar
2018 waren der 27-jährige Investigativjour-
nalist Ján Kuciak und seine gleichaltrige
Verlobte in ihrem Haus erschossen wor-
den. Kuciak hatte über illegale Geschäfte
des Unternehmers Marian Kočner ge-
schrieben, sowie über dessen Verbindun-
gen zur damaligen Regierungspartei Smer
SD. Deren Vorsitzender, der damalige Pre-
mier Robert Fico, soll zudem Verbindun-
gen zur italienischen Mafia haben. Auch
darüber schrieb Kuciak. Kočner hatte Kuci-
ak bedroht und ist angeklagt, den Mord in
Auftrag gegeben zu haben. Die Verhand-
lung gegen ihn und zwei weitere mutmaßli-
che Mittäter dauert an und soll Mitte April
fortgesetzt werden.
Der nun verurteilte Täter hatte in der
Haft gestanden und im Januar vor Gericht
umfassend ausgesagt. Dabei wurde auch
deutlich, dass die Verlobte Kuciaks ein Zu-
fallsopfer war – der Täter hatte nicht da-
mit gerechnet, sie anzutreffen. Er wurde
zugleich eines weiteren Mordes im Dezem-
ber 2016 für schuldig befunden. Das Straf-
maß von 23 Jahren ist für slowakische Ver-
hältnisse gering. Mit mindestens 25 Jah-
ren war gerechnet worden. Die Höchststra-
fe wäre lebenslang – was auch bis ans Le-
bensende bedeutet. „Das Gericht sendet
damit das Signal, dass es Sinn hat, zu geste-
hen und mit den staatlichen Organen zu-
sammen zu arbeiten“, erklärte Richterin
Sábová. Ein weiterer geständiger Mittäter,
der den Auftrag vermittelt hatte, war im De-
zember zu 15 Jahren Haft verurteilt wor-
den. Marian Kočner muss ebenfalls mit 25
Jahren Gefängnis rechnen. Er wurde Ende
Februar zudem für schuldig befunden,
Wechsel gefälscht zu haben, allein dafür
muss er 19 Jahre in Haft.
Nach dem Mord an Kuciak hatten Zehn-
tausende Menschen in der Slowakei wo-
chenlang gegen die Regierung demons-
triert. Am 29. Februar wurden neue Partei-
en an die Macht gewählt – sie versprechen,
gegen die Korruption zu kämpfen. vgr


In Südkorea ist Überwachung per Smartphone selbstverständlich. In Israel nimmt der Inlandsgeheimdienst tiefe Einblicke in private Handys, und die Polizei kontrolliert
das Einhalten von Distanzregeln. Israelische App, die Ansteckungsrisiken erkennt (v. li. oben). FOTOS: HEO HAN/REUTERS, AMMAR AWAD/REUTERS, JACK GUEZ/AFP, STEFAN WERMUTH/BLOOMBERG

DEFGH Nr. 82, Dienstag, 7. April 2020 (^) POLITIK HF2 7
23 Jahre Haft für
Journalisten-Mord
Slowakisches Gericht spricht
Urteil im Fall von Ján Kuciak
von moritz baumstieger,
karoline meta beisel, alexandra
föderl-schmid, viktoria
großmann, thomas hahn,
florian hassel und simon hurtz
Donald Trump ist überzeugt,
das Malariamittel Chloroquin
könne helfen
Ein strenger Lockdown wie
in Europa oder den USA
soll es nicht werden

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