Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
In Kliniken werden Suchtstationen zu Coro-
na-Stationen umgebaut, Konsumräume
und Beratungsstellen müssen schließen,
auf dem Schwarzmarkt gibt es kaum mehr
Drogen. Suchtkranke stehen vor gewalti-
gen Problemen. Tobias Fechner, 40, leitet
die Methadonambulanz der Krisenhilfe Bo-
chum und weiß, worauf es jetzt ankommt.

SZ: Herr Fechner, können Sie in Ihrer
Einrichtung noch normal arbeiten?
Tobias Fechner: Die Situation ist schwie-
rig. Wir haben verschiedene Angebote, ei-
ne Beratungsstelle, die Drogenprävention,
niedrigschwellige Angebote, eine Substitu-
tionsausgabe, einen Kontaktladen, einen
Konsumraum. Nahezu alles mussten wir
einschränken, einiges schließen, das Über-
tragungsrisiko ist einfach zu groß. Die
Substitution bleibt aber offen, wir müssen
die Leute weiterhin versorgen.

Wie schützen Sie sich, Ihre Mitarbeiter
und die Patienten vor dem Virus?
Die Ambulanz ist in größere Räume gezo-
gen, wir haben Marker auf den Boden ge-
klebt, damit die Leute Abstand halten. Ei-
ner von uns macht jetzt den Türsteher, da-
mit nicht mehr als fünf Leute reinkommen.
Wir tragen Kittel, Mundschutz, Handschu-
he, die Mitarbeiter an der Anmeldung und
bei der Methadonvergabe sitzen hinter Ple-
xiglas. Und unsere Ärzte geben allen, bei de-
nen man das vertreten kann, das Substitut
als Take-Home mit, für bis zu zwei Wochen.
Damit sie möglichst selten kommen.

Welche Möglichkeiten für die Betreuung
haben Sie aus der Distanz noch?
Wir wollen in all unseren Angeboten erreich-
bar bleiben, zumindest telefonisch. Aber vie-
le Patienten haben keinen Zugang zu Telefo-
nen oder dem Internet. Wir denken darüber
nach, einen Beratungsraum einzurichten,
mit Spritzschutz.

Von welchen Problemen berichten die
Suchtkranken Ihnen derzeit?
Dass sie kein Geld mehr machen können.
Dass sie nicht wissen, wie sie einen Antrag
auf Kurzarbeit ausfüllen sollen. Dass sie auf
den Ämtern die Leute nicht mehr erreichen.
Wir versuchen, sie medizinisch zu versor-

gen, das ist das Wichtigste. Alles andere
muss hintenanstehen.

Wie würden Sie die aktuelle Situation der
Drogenszene beschreiben?
Es spitzt sich zu. Schon jetzt gibt es in eini-
gen Städten auf der Straße kaum noch Hero-
in zu kaufen. Und für Benzodiazepine, die
häufig zusätzlich zum Drogenersatzstoff ge-
nommen werden, hat sich der Preis massiv
erhöht. Eine Tablette kostete bisher einen
Euro, wenn man zehn Stück gekauft hat,
hat man zwölf vom Dealer bekommen. Zu-
erst ist der Rabatt weggefallen, dann wur-
den die Preise angehoben, mittlerweile auf
zwei Euro pro Tablette. Man merkt, dass die
Grenzen geschlossen sind. Und die Dealer
gehen weniger raus. Das Risiko, erwischt zu
werden, ist gestiegen – es fällt jetzt einfach
auf, wenn eine Gruppe zusammensteht.
Wenn die Leute entzügig sind und mitbe-
kommen, dass einer Stoff hat, laufen die di-
rekt auf den Dealer zu und umringen den.
Für die Suchtkranken ist die Situation
schon jetzt grauenhaft. Und ich befürchte,
dass es noch ganz, ganz schlimm wird.

Nahezu täglich werden Hilfspakete be-
schlossen. WerdenDrogensüchtige dabei
vergessen?
Es gibt einfach weniger Drogenabhängige
als beispielsweise alte Leute, natürlich wird
sich da erst mal um Altersheime und Kran-
kenpflege gekümmert. Aber Drogenhilfe-
einrichtungen werden nicht mal erwähnt.
Immer noch hat ein Teil der Gesellschaft für
Suchterkrankungen kein Verständnis und
denkt, die Leute seien selbst schuld.

Immeröfterschließen nunauch Konsum-
räume, obwohl es eine Empfehlung der
Ministerien gibt, sie offen zu halten. War-
um?
Es ist immer die Frage, ob es genügend
Schutzkleidung gibt. Und wenn jemand be-
atmet werden muss, habe ich oft gar nicht
die Möglichkeit, mich zu schützen. Deswe-
gen muss das von Stadt zu Stadt überprüft
werden, ob so ein Raum offen bleiben kann.

Und wenn zugesperrt wird?
Ein Erfolg von Drogenkonsumräumen ist,
dass die Konsumenten in einem geschütz-

ten Rahmen vom risikoreichen intravenö-
sen Konsum auf den nicht so risikoreichen
inhalativen umsteigen. Auf der Straße ist es
aber einfach nicht möglich, den Rauch
schnell genug einzuatmen. Das dauert 20
bis 30 Minuten, spritzen vielleicht zehn Se-
kunden. Ich fürchte, wenn die Konsumräu-
me geschlossen werden, steigen mehr Leu-
te wieder auf Spritzen um.

Gibt es weitere drängende Probleme?
Mir graut davor, dass die Leute mit Abszes-
sen oder anderen Verletzungen daheimsit-
zen. Die kennen das ja nicht, sie wurden im-
mer versorgt. Ich bin gespannt, ob die Kran-
kenhäuser die Kapazitäten haben und die
Leute überhaupt den Weg ins Krankenhaus
schaffen. Therapievermittlung ist auch
kaum möglich. Entgiftungseinrichtungen
müssen die Betten drastisch reduzieren,
weil die Patienten nicht mehr zu zweit oder
dritt auf einem Zimmer sein können. Und
wenn es gar kein Heroin mehr zu kaufen
gibt, müssen sich die Städte darauf einstel-
len, dass es vermehrt Bedarf gibt an Substi-
tution. Dabei herrscht jetzt schon ein Man-
gel an Plätzen.

Das Gesundheitsministerium prüft die
Möglichkeit, Heroinabhängigein denam-
bulantenDrogenhilfenzubehandeln. Wä-
re das eine Lösung?
Das ist die einzige Lösung. Man kann ja
nicht sagen, man fördert den Heroin-
schmuggel. Es ist der schnellste Weg, die
Leute in Behandlung zu bekommen, dass
man sie über Apotheken oder Gesundheits-
ämter mit Ersatzstoffen versorgt.

Und wenn diese Pläne scheitern?
Ganz viele würden versuchen, auf andere
Substanzen umzusteigen, sich Benzodiaze-
pine von Ärzten verschreiben zu lassen, so-
weit die Praxen auf sind. Und viele werden
anfangen, heftig zu trinken, um den Entzug
zu überstehen. Die werden dann mit Alko-
holvergiftungen in Kliniken landen oder so-
gar sterben.

Was muss passieren, damit Suchtkranke
die Krise bestmöglich überstehen?
Es ist wichtig, dass die strengen Auflagen
heruntergefahren werden und eine niedrig-

schwellige Substitution angeboten wird. In
Holland bekommen Substituierte Chipkar-
ten. Da fährt dann ein Fahrdienst herum
und gibt Methadon aus. Wir haben alles
Mögliche geprüft: längerfristige Rezepte
für Leute, die eigentlich nicht berechtigt
sind, oder ob wir Patienten Methadon brin-
gen dürfen, die mit Corona daheim liegen.
Sie werden ohne Ersatzstoff die Quarantä-
ne nicht durchhalten, weil sie alles probie-
ren werden, um den Entzug abzumildern.

Was wissen Suchtkranke über Corona?
Viele haben den Ernst der Lage nicht ver-
standen. Sie kriegen vielleicht mit, dass sie
im Supermarkt Abstand halten müssen.
Von den Todeszahlen weltweit wissen sie
nichts, viele haben keinen Fernseher, kein
Internet. Bei denen dreht sich der Tag dar-
um, dass sie Geld beschaffen und Drogen.

Befürchten Sie, dass viele Suchtkranke
an Covid-19 sterben?
Es wird eine Katastrophe, wenn Corona in
der Szene ankommt – und das wird es.
Dann wird es sich rasant verbreiten. Unsere
Leute sind eine der Hauptrisikogruppen.
Viele sind vorerkrankt, viele haben COPD.
Dazu kommt, dass sie eine Erkrankung
nicht spüren würden, so sediert sind sie.
Das bedeutet, die kommen ins Kranken-
haus, wenn es fünf vor zwölf ist.

Und wie gehen die Suchtkranken selbst
mit der Gefahr um?
Bei vielen ist das gängige Mittel die Verdrän-
gung. Ich höre Sprüche wie: „Ich bin so hart,
Corona kann mir nichts“, oder „Ich hab so
viele Drogen intus, die töten eh alles ab“.

interview: fabian müller

Nicky Hilton Rothschild, 36, US-Hotel-
erbin, findet Händeschütteln überflüs-
sig. „Ich denke, das werden wir künftig
komplett über Bord werfen“, sagte sie
derNew York Times. Sie sei darüber
nicht traurig. „Wir sind als Gesellschaft
viel zu tätschelig geworden – das ist
nicht notwendig.“


Pink, 40, US-Sängerin, beschreibt Co-
vid-19 als „Achterbahnfahrt“. Sie und
ihr drei Jahre alter Sohn Jameson seien
beide infiziert gewesen, sagte Pink in
einem Instagram-Livechat mit der Auto-
rin Jen Pastiloff. Sie selbst habe zum
ersten Mal seit 30 Jahren mit einem
Vernebler inhalieren müssen. Ihr Sohn
sei „wirklich, wirk-
lich krank“ gewesen
und habe auch nach
drei Wochen immer
noch Fieber. „Es
wurde doch immer
versprochen, für
Kinder sei es nicht
schlimm“, sagte
Pink, „aber das ist
nicht garantiert.
Niemand ist davor
sicher.“FOTO: DPA


Tim O’Donnell, 39, US-Triathlet, hat
seiner Frau den Stecker gezogen. Laut
einem Bericht derWashington Post
strampelte die Australierin Mirinda
Carfrae, 39, ebenfalls Triathletin, sich
gerade bei einem virtuellen Ironman
auf dem Hometrainer ab und befand
sich aussichtsreich auf dem zweiten
Rang, als ihr Mann ins Zimmer stürmte,
um sie zu motivieren. Dabei stolperte er
über das Kabel des Smart Bikes, das
Rennen war beendet. Carfraes Kommen-
tar auf Instagram: „Was für ein Idiot!“


Daniela Katzenberger, 33, Privatfern-
sehgeschöpf, hat ein Frisurenproblem.
Mangels geöffnetem Friseursalon habe
sie ihren schwarzen Haaransatz selbst
nachgefärbt, schrieb die Reality-Darstel-
lerin auf Instagram – „eine völlig hirn-
amputierte Blondier-Aktion“. Jetzt sehe
sie aus „wie Boris Becker oder Prinz
Harry“. An ihre Fans appellierte sie:
„Bitte nicht nachmachen.“


von mareen linnartz

E


s gibt auch in der Krise Menschen,
die besonders gut performen. Man
hört von Japanisch-Lernern im
Selbststudium, sieht auf Facebook Leute,
die herzhaft in ihr selbstgebackenes Brot
beißen, nun, da sie Zeit dafür haben (und
die ganze Hefe hamstern); Bekannte erzäh-
len von Plänen, ihren Balkon in ein dem-
nächst blühendes Paradies zu verwandeln,
sie hätten eine gute Gärtnerei, die liefert.
Der eine oder andere scheint es sich auch
im Ohrensessel gemütlich zu machen, es
gilt, Werke der Weltliteratur abzuarbeiten.
DerGuardianjedenfalls meldet einen spür-
baren Anstieg bei Online-Bestellungen für
„Bucket List“-Bücher. Wann, wenn nicht
jetzt, ist der ideale Zeitpunkt, Thomas
Manns „Zauberberg“ zu lesen (thematisch
naheliegend) oder (noch naheliegender) in
Albert Camus’ „Die Pest“ zu schmökern?

Als sei das Wesen der Krise lediglich ei-
ne Verlagerung von einem Leben mit Öf-
fentlichkeit in eines ohne, prasseln fort-
während Angebote auf einen ein, sich dann
eben zu Hause fortzubilden oder zu stäh-
len. Lehrer stellen in Online-Plattformen
ausführliche Lehrfilme mit Fragebögen
ein, pädagogisch wertvolle Medienzeit als
Kontrastprogramm zum Smartphone-
Daddeln; Fitnessstudios bieten Online-Tu-
torials für Gymnastik im Wohnzimmer,
und das Kulturangebot, nun komplett ins
Internet gewandert, ist dermaßen ausla-
dend, dass jeder, der davon nicht wenigs-
tens ein bisschen Gebrauch macht, sofort
ein schlechtes Gewissen kriegen muss.
Schließlich fliegen da live die Herzchen
und andere Emojis nur so über den Bild-
schirm, und man wird dabei das Gefühl
nicht los, dass es vor allem um eines geht:
das Dabeisein zu dokumentieren.
Jedes einzelne ist ein gut gemeintes, oft
rührendes Angebot – durch die Fülle aber
schwingt die stille Aufforderung mit, sich
in Zeiten wie diesen gefälligst nicht hän-
gen zu lassen.
Wenn Menschen sich bedroht fühlen,
und das Coronavirus ist eine Bedrohung,
reagieren sie auf drei unterschiedliche Ar-
ten: „Freeze“ – „Flight“ – „Fight“ nennt
man das in der Psychologie. „Freeze“ ist
das Erstarren, Stehenbleiben, Verharren.
„Flight“ ist die Flucht, die auch eine ge-
dankliche sein kann, man fängt an, an Ver-
schwörungstheorien zu glauben, versucht,
sich die Situation schönzureden. Und
„Fight“? Das ist der Widerstand, das aktive
Handeln.
Dieses Handeln kann in alle Richtungen
gehen; die Optimierung des eigenen
Selbst, um nach der Krise als schlauerer,
belesenerer, fitterer Mensch wie Phönix
aus der Asche aufzutauchen, ist da nur ei-
ne Variante. Und im Prinzip wäre dagegen
nichts einzuwenden, soll doch jeder in sei-
ner Zeit machen, was er will und was er
kann, zielte dieser Aktivismus nicht so häu-
fig auf Außenwirkung und würde er dabei
nicht unmissverständliche Botschaften
senden: Nur was effizient und optimiert
ist, ist auch wertvoll, und wenn es die eige-
ne Halbquarantäne ist.
Einfach rumsitzen ist nicht. Nur wer
handelt, hat – zumindest in seinen eigenen
vier Wänden – noch alles im Griff. Ich leis-
te, also bin ich. Die Krise? Ist in dieser Lo-

gik eine Chance, die es zu nutzen gilt. Der
erzwungene Stillstand? Ist eine Phase der
Entschleunigung mit ungeahnten Möglich-
keiten der Muße.
Diese gelassene Sichtweise kann nur ha-
ben, und das macht es dann doch zum Pro-
blem, wer keine kreisenden Gedanken
kennt, keine wirtschaftlichen Nöte, keine
Sorgen um ältere Angehörige, wer nicht
nachts wach liegt und nicht tagsüber froh
ist, wenigstens über ausreichend Energie
zu verfügen, um sich grundzuversorgen.
Der Entschleunigungsromantik kann nur
anhängen, wer gerade nicht in systemrele-
vanten Berufen arbeitet oder sich nicht
hochgradig verdichtet und beschleunigt
zu Hause zwischen Home-Office und
Homeschooling wiederfindet in einem Ein-
Personen-Stück mit Rollen als Vater oder
Mutter, Lehrer oder Lehrerin, Arbeitneh-
mer oder Selbstständige. Für all jene ist die
nach außen getragene Leistungsschau an-

derer der blanke Hohn mit einem blöden
Beigeschmack, nämlich sich trotzdem ein
bisschen schlecht zu fühlen: Warum kriege
ich das nicht hin?

„Es macht mich fertig“, schrieb Max-Ja-
cob Ost, Moderator des Fußball-Podcasts
„Rasenfunk“ und alleinerziehender Vater
von Zwillingen, vor wenigen Tagen auf
Twitter, „dass ihr Dinge schafft. Ich halte
gerade so den Kopf über dem Wasser des
Alltags. Wenn ich aufgeräumte Keller, ge-
putzte Fenster oder Netflix-Marathons se-
he, fühle ich mich wie auf einem Traban-
ten zu eurem Planeten.“ Die Liste der Ant-
worten darauf zeigt, wie vielen er damit
aus der Seele gesprochen hat: „Dem kann

ich nur zustimmen“, „Ich kann kein einzi-
ges Selbstverwirklichungsprojekt mehr se-
hen“, „Solange am Ende des Tages alle ge-
sund sind, war es ein erfolgreicher Tag“.
In Wirklichkeit allerdings leben diejeni-
gen auf einem Trabanten, die nun alles auf
die Reihe kriegen – und der Rest auf dem
Planeten Erde. Auf diesem Planeten sind
die echten Performer eher nicht zu Hause
zu finden, sondern vor allem in Kliniken,
Supermärkten, Pflegeheimen. Auf diesem
Planeten laufen ganze Gesellschaften sinn-
bildlich durch einen Tunnel, von dem nie-
mand weiß, wie lange er ist und wann wie-
der Licht zu sehen ist. Wer Zeit, Muße und
Nerven hat, während dieses Laufens auch
noch sein Gehirn zu trainieren oder beson-
dere Bewegungsabläufe einzustudieren,
der kann das gerne machen. Aber er soll an-
dere damit nicht behelligen.
„Ich nenne die Phase jetzt exponentiel-
les Währenddessen. Das Davor kenne ich

schon, das Danach kenne ich noch nicht. Da-
durch, dass ich jetzt überlebe, gehe ich da-
von aus, es auch in Zukunft zu tun. Und da-
bei weiter die Heizung aufdrehen zu kön-
nen. Das ist wirklich nicht wenig“, schreibt
die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engel-
meier auf Twitter. Ein Währenddessen, ein
Stehenbleiben, ein Aushalten dieser Krise,
die erst mal eine Krise und keine Chance
ist: Vielleicht ist das für die meisten einfach
der adäquatere Zustand. Stillstehen, wenn
alles stillzustehen scheint. Zweifel zuzulas-
sen, statt Projekte anzugehen. In den weni-
gen Momenten der Ruhe aus dem Fenster
Kohlmeisen in der Freiheit zuschauen, nur
das. Den Kopf über Wasser halten.
Das ist alles nicht wenig, jetzt. Das ist
mit Sicherheit sogar besser als der Vor-
schlag, der neulich in einem Magazin zu le-
sen war: Jetzt, wo man die Zeit dazu habe,
könne man ja in Ruhe sein Testament auf-
setzen und seinen Nachlass regeln.

Als in Frankreich die Menschen ihre
Nudelvorräte verstauten und sich darauf
einstellten, ein paar Wochen lang nicht
mehr vor die Tür zu gehen, verließ Sorita
ihre Höhle. Den milden Winter hatte sie
verschlafen, es war Mitte März und Sori-
ta lief hinaus ins Aspe-Tal. Der Beginn
der Ausgangssperre fiel mit dem Ende
des Winterschlafs der Bären zusammen.
In einer idealen Welt könnten Bären
und Menschen zufrieden aneinander
vorbei leben. Soritas bisherige Erfahrun-
gen sind weniger ideal. In ihren zehn
Bärenjahren hat sie bereits eine Umsiede-
lung, einen Helikopterflug und Morddro-
hungen hinter sich gebracht. Im Oktober
2018 wurde sie auf Anordnung des fran-
zösischen Umweltministeriums über
den Pyrenäen abgeseilt. Ein 150-Kilo
Bär, der in einem kleinen Käfig in der
Luft baumelte, denn Bären-Gegner hat-
ten Lastwagen quer auf die Zufahrtsstra-
ßen zum Aspe-Tal geparkt und eine
Barrikade aus Strohballen angezündet.
In Paris fanden sie die Ansiedelung von
slowenischen Bärinnen eine prima Idee.
Im Südwesten Frankreichs war die Bä-
renskepsis groß. Es gab sogar eine Grup-
pe Vermummter, die in einem martiali-
schen Video zur Bärenjagd aufriefen.
Nicht nur Soritas Geschichte zeigt:
Das Verhältnis der Franzosen zum Bären
ist kompliziert. Einerseits löste der Regis-
seur Jean-Jacques Annaud 1988 mit
seinem Film „Der Bär“ eine große Welle
der Bärensympathie aus. Andererseits
wurde zur selben Zeit die Population
französischer Pyrenäenbären so stark
dezimiert, dass 1995 nur noch fünf Tiere
gezählt wurden. 1997 begannen die Bä-
renimporte aus Slowenien. Einer der
Ersten, die damals kamen, ist Néré. Er
zeugte einen kleinen Bären, Cannellito,
der inzwischen 14 Jahre alt ist und aktu-
ell wohl noch schläft. Néré ist hingegen
schon unterwegs. Am 17. März, kurz vor
Beginn der landesweiten Ausgangssper-
re, wurden seine Fußspuren entdeckt.
Abgesehen davon, dass Néré und
auch Sorita wach sind, weiß man nun
aber wenig über Frankreichs Bären.
Wandern ist inzwischen verboten und
die Wildhüter arbeiten im Homeoffice.
Sicher ist nur: So wenig Mensch und so
viel Bär gab es in den Pyrenäen seit Jahr-
zehnten nicht. nadia pantel


In dieser Kolumne schreiben SZ-Redakteure
täglich über die schönen, tröstlichen oder auch
kuriosen kleinen Geschichten in diesen vom
Coronavirus geplagten Zeiten. Alle Folgen
unter sz.de/allesgute


Jeder darf sich optimieren, wie
er will. Aber bitte, bitte nicht
immer andere damit behelligen!

„Die Leute steigen wieder auf Spritzen um“


Suchtkranke Menschen sind in der Corona-Krise besonders gefährdet. Tobias Fechner, Leiter einer Methadonambulanz in Bochum, befürchtet eine Katastrophe


Jetzt mal halblang

Japanisch lernen, Brot backen und dabei immer schön fit bleiben:
Warum müssen wir uns eigentlich selbst in der Krise noch optimieren?

Tobias Fechner, 40, hat
sich schon als Student in
der Drogenhilfe enga-
giert. Heute leitet er die
Methadonambulanz der
Krisenhilfe Bochum.
Davor arbeitete er sieben
Jahre in Essen in der
niedrigschwelligen Dro-
genhilfe.FOTO: OH

Die Krise als Chance – warum
eigentlich? Es kann doch eine
Krise einfach mal eine Krise sein

8 HF2 (^) PANORAMA Dienstag, 7. April 2020, Nr. 82 DEFGH
Bärige
Zeiten
ALLES GUTE
Eine drogensüchtige Frau kauert in Frankfurt vor dem Konsumraum der Drogenhilfe.
Die Ambulanz hat geöffnet, viele andere Hilfsangebote fallen weg. FOTO: ARNE DEDERT/DPA
LEUTE
Endlich Muße für Yoga auf dem Balkon – das klingt für all jene, die von der Krise so richtig durchgeschüttelt werden, wie Hohn. FOTO: AVRIELLE SULEIMAN/UNSPLASH

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