Süddeutsche Zeitung - 07.04.2020

(やまだぃちぅ) #1
Mehr als 70 Hörbücher hat der Schauspie-
ler Axel Milberg eingesprochen, im vergan-
genen Jahr veröffentlichte er seinen ers-
ten, autobiografischen Roman „Düstern-
brook“, Millionen Fernsehzuschauer fol-
gen ihm als „Tatort“-Kommissar an Sonn-
tagabenden bei seinen Ermittlungen. Er
ist ein Virtuose des gehobenen Zeitver-
treibs. Und so haben sich er und dieSüd-
deutsche Zeitunggemeinsam einen Pod-
cast ausgedacht, für die Tage „dieses blö-
den, notwendigen Stubenarrests“, wie Mil-
berg es nennt. Unter dem Titel: „Milbergs
literarischer Balkon“ startet geht er an
diesem Dienstag. Täglich wird es eine neue
Folge geben.
Die Mischung ist bunt, Prosa und Lyrik,
Erzählungen und Passagen aus Romanen,
hohe Literatur und Trash, Nachdenkliches
und Thriller. Jeder Morgen soll eine Überra-
schung liefern. Die Auswahl hat Axel Mil-
berg ganz persönlich getroffen, „ohne di-
rekten Bezug auf die gegenwärtige Pande-
mie“, sagt er. Indirekte Bezüge erschließen
sich jedoch sehr wohl – und lägen sie nur
im Motiv des Aufbruchs in komplizierten
Zeiten. Milberg leitet jeden Text kurz ein
und schildert, was ihn daran begeistert.
Mit manchen der Autorinnen und Autoren
verbinden ihn eine innige Freundschaft
wie mit Henning Mankell, mit anderen en-
ge berufliche Aspekte wie mit Brecht und
Schiller oder die reine Leidenschaftlich-
keit wie mit Patricia Highsmith oder
Charles Bukowski. Noch eins haben die
Texte gemeinsam: Milberg genügte ein
Griff in die Regale seines Zuhauses, um sie
zu finden und neu zu entdecken.

Die Fülle wäre nicht abbildbar, wenn
nicht so viele Verlage und Lizenzabteilun-
gen, Autoren und Übersetzer die Rechte
freigestellt hätten für diesen „literarischen
Balkon“, auf dem Milberg nun täglich, stets
heiter und manchmal melancholisch, le-
sen wird. Ihnen allen gebührt Dank. Denn
wie der gesamte Kulturbereich ist auch die
Literatur massiv betroffen von der aktuel-
len Krise. Axel Milberg verzichtet dafür
komplett auf seine Gage. Stattdessen ru-
fen dieSüddeutsche Zeitungund er zu Spen-
den auf für Künstler, die unter der aktuel-
len Situation besonders leiden und denen
unter anderem durch das Veranstaltungs-
verbot jede wirtschaftliche Grundlage ge-
nommen worden ist. Eine Institution, die
sich zu ihrer Unterstützung gegründet hat
ist http://www.kulturretter.de.
Den ersten Auftritt auf seinem literari-
schen Balkon hat Axel Milberg einem sei-
ner früheren Kollegen gewidmet: dem gro-
ßen italienischen Schauspieler Marcello
Mastroianni. Der hat in seinen Memoiren,
„Ja, ich erinnere mich“ heiter und melan-
cholisch die Welt beschrieben. Aber nicht
nur wie sie war zwischen seiner Eidechsen-
jagd als kleiner Junge, seiner ersten Liebes-
nacht und Gary Cooper, der im weißen
Smoking im „Chez Maxim“ in Paris er-
schien. Er blickt auch auf das, was kom-
men mag, als „die Sehnsucht nach Zu-
kunft“, wie er das erste Kapitel über-
schreibt. her  sz.de/milberg-podcast

In diesen Tagen sollte ein blauer Band der
Edition Suhrkamp in die Buchläden kom-
men, ein Essay des Politikwissenschaftlers
Philip Manow. Notgedrungen hat der Ver-
lag die Auslieferung auf Mitte Juni verscho-
ben, wenn die Ausgangsbeschränkungen
möglicherweise gelockert sein werden und
der Alltag wieder mehr dem Gewohnten
ähnelt. Als E-Book aber ist der Band jetzt
schon erhältlich (Philip Manow: (Ent-)De-
mokratisierung der Demokratie. Suhr-
kamp-Verlag, Berlin 2020. 160 Seiten,
16 Euro), und es wäre gut, wenn er rasch
viele Leser fände in einer Lage, in der so
viele ihre gegenwartsdiagnostischen La-
denhüter mit Corona-Pandemie-Dringlich-
keitsschleife versehen.
Hunderte Bücher haben in den vergan-
genen Jahren den Demokratien den Puls
gefühlt, ihre Schwächen beklagt, Erosion
diagnostiziert und ihren Tod ausgemalt.
Mal erlag sie „den Neoliberalen“, mal popu-
listischen Politikern. Vieles schien dafür zu
sprechen, dass die Demokratie ihre besten
Tage hinter sich habe und es mit ihr zu
Ende gehen könnte, wenn nicht rasch eine
Antwort auf die populistische Herausforde-
rung gefunden werde. 2018 veröffentlichte
Manow eine „Politische Ökonomie des
Populismus“, die er als „Protest gegen die
Globalisierung“ verstanden wissen wollte.
Die einen protestieren mehr gegen „die
grenzüberschreitende Bewegung von Gü-
tern und Kapital“, die anderen mehr gegen
„die grenzüberschreitende Bewegung von
Personen“.
Aber warum erschüttern diese Proteste
die Demokratien so stark und warum tun
sie es jetzt? Weil, so Manows Antwort, wir
ein widersprüchliches Zugleich von Demo-


kratisierung und Entdemokratisierung
erleben, das in der Tat das Funktionieren
der repräsentativen Demokratie gefähr-
det, aber auf eine etwas andere Weise, als
meist behauptet.
Demokratie galt die längste Zeit als „ei-
ne Verfallsform politischer Herrschaft“, sie
bedrohte das Gemeinwesen, weil sie es den
Wünschen einer Mehrheit auslieferte, von
der nicht gewiss war, ob sie das Richtige
wünschte und nicht morgen schon das
Gegenteil verlangen würde. Demokratie er-
schien als „die unberechenbare Herrschaft
derer, die sich nicht beherrschen können“.
Deshalb verstanden sich amerikanische
und französische Revolutionäre eher als
Republikaner denn als Demokraten, des-
wegen sollten Repräsentanten im Auftrag
und Namen des Volkes regieren, nicht die-
ses selbst. Der französische Schriftsteller
Antoine de Rivarol, der 1801 als Emigrant
in Berlin starb, sprach von zwei Wahr-
heiten, die man nie voneinander trennen
dürfe: Die Souveränität liege beim Volk, es
dürfe die Souveränität nie ausüben.

Die repräsentative Demokratie, so Ma-
now, diente dem Ausschluss des Pöbels, sie
war verbunden mit der Hoffnung auf ihre
Läuterung dank der Praktiken von Aus-
wahl und Wahl. Die Geschichte der Demo-
kratie ist zugleich eine der Inklusion vor-
mals Ausgeschlossener, der Ausweitung
von Partizipationsmöglichkeiten. Dies
habe zu einer „Krise der Repräsentation“

geführt. Populisten attackieren Manow zu-
folge nicht die Demokratie, sondern die
vielfältigen Mechanismen und Institutio-
nen des Ausschlusses, der Vermittlung, die
auch der Disziplinierung der Menge dien-
ten. Mit den Populisten kehrt ein Schreck-
bild des 19. Jahrhunderts zurück, der „gro-
ße Lümmel“, eine nicht zu kontrollierende
und sich selbst nicht zähmende Masse, die,
so der Vorwurf, „wenig Wert auf demo-
kratische Regeln, Verfahrensrationalität
und zivilisierten Austausch legt“.
Manow beschreibt, ohne zu suggerie-
ren, dass mehr Demokratie notwendig bes-
ser sei. Am Beispiel der Parteien und der Öf-
fentlichkeit schildert er, welche Folgen die
Explosion der Möglichkeiten hatte, sich po-
litisch zu organisieren und zu kommunizie-
ren. Parteien verbinden Öffentlichkeit, Par-
lamentsmehrheit und Exekutive: von der
Listenerstellung über die Orchestrierung
des Abstimmungsverhaltens, die Formulie-
rung von Gesetzesentwürfen bis hin zur
„Markenpflege“. Sie repräsentieren und
sie regieren und koordinieren beides so,
dass sie Mehrheiten gewinnen können.
Bedenkt man diese Funktion, verlieren
pseudo-kritische Klischees ihre Triftig-
keit, etwa das von der furchtbaren Ochsen-
tour durch Parteigremien, die für eine
politische Karriere erforderlich ist. Die
Ochsentour schult Organisationsvermö-
gen, Aufmerksamkeit für politische Stim-
mungen, Kompromissbereitschaft. Auch
die Klage über programmatische Ununter-
scheidbarkeit der Parteien zielt am Wesent-
lichen vorbei, setzt man voraus, dass Par-
teien Mehrheiten gewinnen müssen. Am
Beispiel von Corbyn, Trump und Macron
entfaltet Manow überzeugend seine These

vom Kontrollverlust der Parteien und den
wachsenden Erfolgsaussichten extremer
politischer Positionen. Wenn die Auswahl
des politischen Personals vor allem wun-
derbar demokratisch erfolgt, basisnah,
also von kurzfristiger Mobilisierung ge-
prägt, dann erleichtert es jenen den Auf-
stieg, die Polarisierung zu ihrem Geschäfts-
modell erhoben haben. Individualisierung
und Entinstitutionalisierung in den Partei-
en, aber auch im öffentlichen Diskurs, sind
Symptome der Demokratisierung, sie erhö-
hen Unsicherheit, befördern Instabilität.

Die Krise der Demokratie ist eine Folge
ihrer Triumphe. Erklärt der Erfolg die
Destabilisierung? Im zweiten, der Ent-
demokratisierung gewidmeten Teil seines
Essays skizziert Manow, was daraus folgt,
dass Demokratien, anders als im Kalten
Krieg, nicht mehr aus der Abgrenzung ge-
genüber Faschismus und Kommunismus
Stabilität und Selbstgewissheit gewinnen
können. Die Unterscheidung demokra-
tisch / antidemokratisch spielt in den de-
mokratischen Arenen wieder eine entschei-
dende Rolle. Die Parteiungen und Lager
werfen einander vor, Antidemokraten zu
sein, was den demokratischen Wettbe-
werb ad absurdum führt, weil damit der
Kern dessen, was Demokratie ist, ausge-
schlossen wird: der durch Wahlen herbei-
geführte, nach Regeln vollzogene Macht-
wechsel. Statt Gegner stehen sich dann
Feinde gegenüber, die im Sieg des anderen

Lagers den Tod der Demokratie erblicken.
Das habe, so Manow, einen angenehmen
Nebeneffekt, man könne den eigenen
Standpunkt zum „verfassungspolitischen
Nachkriegskonsens des Westens aufwer-
ten“, man schließe so „die eigene Position
mit der Demokratie selber kurz“, was nicht
demokratisch ist.
Mit Sarkasmus blickt Manow auf jene,
die mit großem Pathos die Mobilisierung
der vielen beschwören, ohne sich um das
reale, und das heißt im Kern von 1989 bis
heute, nationalstaatlich eingehegte Funkti-
onieren von Demokratie zu kümmern.
Ihnen scheine die Welt bloß „die Menge an
Episoden, die man anekdotisch aufrufen
kann, um sich zu empören“, während sie
Politik als „die Menge an staatlichen Maß-
nahmen“ verstehen, denen sich Unzuläng-
lichkeit attestieren lasse. Der Populismus
präsentiere auch die Rechnung dafür, dass
etwa in der Euro- und der Flüchtlingskrise
wesentliche Entscheidungen der demokra-
tischen Korrektur enthoben waren.
Manows Fazit: Die Gegenwart kennt
kein anderes Prinzip als die Demokratie,
zugleich werden die „Voraussetzungen sei-
ner Geltung“ durch Verrechtlichung und
Delegierung an transnationale Institutio-
nen beschränkt. In diesem Essay gibt es
keine Wunschlisten und Rezepte. Wer aber
glaubt, dass auch in und nach Seuchenzei-
ten Gesellschaften ihre Konflikte am bes-
ten nach Regeln austragen, die ein freies
Mit- und Gegeneinander garantieren und
Minderheiten vor dem Mehrheitswillen
schützen, der bekommt hier etwas Selte-
nes: Eine so genaue wie dichte Beschrei-
bung der demokratisch entdemokratisier-
ten Gegenwart. jens bisky

Das Filmfest München, nach der Berlinale
Deutschlands größtes Publikumsfestival
fürs Kino, findet dieses Jahr nicht statt.
Wie Festivalleiterin Diana Iljine am Mon-
tag bekanntgab, wurden alle denkbaren
Reaktionen auf die Coronakrise – Verklei-
nerung, Verschiebung, Verlagerung ins
Netz – diskutiert und verworfen. „Alle an-
deren Szenarien sind nicht verantwor-
tungsvoll oder schlicht nicht realisierbar“,
sagte Iljine. sz  Lokales

von susan vahabzadeh

E


igentlich liegt es auf der Hand, dass
der Ausnahmezustand, den das Coro-
navirus hinaufbeschworen hat, für
Männer und Frauen nicht dasselbe ist –
denn die Pandemie ist eine Krise des öffent-
lichen Raums. Und der war noch nie ge-
recht unter den Geschlechtern aufgeteilt.
Die Bedeutung des öffentlichen Raums
ist für Frauen eine andere als für Männer,
weil er ihnen nicht offenkundig gehört. In
den meisten Kulturen, von Europa bis Sau-
di-Arabien, ist der Frauen zugeschriebene
Ort genau jener, in den jetzt alle verbannt
wurden – Heim und Herd. Die Eroberung
des öffentlichen Raums ist einer der
Grundpfeiler der Gleichberechtigung an
sich. Zum frühen Feminismus gehörte es,
dass Frauenrechtlerinnen in den USA im



  1. Jahrhundert verlangten, auch ohne
    männliche Begleitung bedient zu werden,
    deswegen wurden Frauenparkplätze er-
    stritten, deswegen gibt es heute noch
    Diskussionen darüber, wie man den öffent-
    lichen Raum für Frauen wenigstens an-
    nähernd so sicher gestalten kann wie für
    Männer – die sich eben nicht vor sexuellen
    Übergriffen fürchten müssen.
    „Die Lektion, dass man unschwer aus
    öffentlichen Räumen verdrängt werden
    kann, ist für Mädchen nicht nur unmittel-
    bar schädlich. Ihr Rückzug in passives,
    marginalisiertes Verhalten, unterstützt
    von Eltern, die vor Gefahren warnen, und
    einer Infrastruktur, die ihre Existenz nicht
    vorsieht, ihre Wünsche nicht berück-
    sichtigt und sie den Regeln des Dschungels
    überlässt, hat eine stark negative Erzie-
    hungswirkung“ schrieben die Sozialwis-
    senschaftlerinnen Cheryl Benard und Edit
    Schlaffer 1997 in „Verspielte Chancen“.
    Nur wer sich frei bewegen kann, partizi-
    piert an der Macht.


Auch im italienischen Fernsehen wer-
den derzeit Virologen befragt, und einer
der wichtigsten Wissenschaftler ist dort
eine Frau – und eine bekennende Feminis-
tin. Ilaria Capua lehrt eigentlich in Florida,
aber in dieser Krise hat sie sich vor allem
um ihre italienische Heimat bemüht. Bei
einem Auftritt in einer Talkshow hat sie
dann ein wenig provoziert, die Frage nach
der Bedeutung des öffentlichen Raums hat
wohl auch sie beschäftigt. Covid-19 ver-
läuft den meisten Statistiken zufolge für
Männer wesentlich häufiger tödlich als für
Frauen, dort ist der Unterschied zwischen
den Geschlechtern höher als zwischen den
Infektionszahlen. Frauen könnten also,
fand Capua, vielleicht öfter und früher als
„rote Ampeln“ in der Gesellschaft fun-
gieren – Menschen, die sich schon frei
bewegen dürfen, weil sie die Erkrankung
bereits überstanden haben und vorerst im-
mun sind gegen eine weitere Ansteckung.
Und vielleicht, scherzte Capua, würden
dann nach der Krise „manche Männer ihre
Stühle besetzt vorfinden“.
Gearbeitet haben Frauen schon immer,
Unabhängigkeit aber kann ihnen nur
Präsenz in der Arbeitswelt verschaffen, in
der tatsächlich Löhne gezahlt werden, und
Sichtbarkeit in der Politik. Dass Männer
öffentlichen Raum mehr beanspruchen,
schafft Hierarchie – so gesehen ist Capuas
Gedanke nicht ganz abwegig.
Ist es aber vorstellbar, dass es auch so
kommt? Während der Quarantäne sieht es
schon mal nicht so aus. Es gibt ganz prakti-
sche Erwägungen. Zu den Berufen, die nun
als systemrelevant gelten, gehören einige,
die mehrheitlich von Frauen ausgeübt
werden, im Supermarkt und in der Pflege
beispielsweise sind Frauen in der Mehr-
heit. Da drängt sich übrigens die Frage auf,
warum ausgerechnet diese Tätigkeiten,
ohne die wir alle offensichtlich gar nicht


überleben können, so schlecht bezahlt
werden. Christoph Butterwegge, Armuts-
forscher und bis 2016 Professor an der Uni
Köln, befasst sich schon lange mit den
Mechanismen der Ungleichheit, zuletzt in
seinem Buch „Die zerrissene Republik“
(Beltz-Verlag). Butterwegge hätte auch vor
der Krise um das Coronavirus gern ge-
wusst, warum in diesen Berufen der Ver-
dienst so niedrig ist: „Im Einzelhandel mit
Nahrungsmitteln beträgt der Frauenanteil
72,9 Prozent, soziale Dienste: 73 Prozent,
Krankenhäuser: 76 Prozent“, sagt er: „Auf
die sind wir jetzt in erster Linie angewie-
sen, nicht auf Banker.“
Wird das etwas nützen? Er hofft es.
„Aber auch nach der Krise von 2008 waren
die Lehren, die man aus ihr und dem
kläglichen Scheitern des Neoliberalismus
hätte ziehen sollen, schnell vergessen.“

Ob die Maßnahmen des Bundes und der
Länder geschlechtergerecht greifen, ist
offen. „Kurzarbeitergeld ist auch mit Ein-
schränkungen im Lebensstandard ver-
bunden – aber was ist erst mit den Mini-
jobbern, die in einem Betrieb arbeiten, der
jetzt zusperrt? Von denen gibt es 7,5 Millio-
nen, und das sind mehrheitlich Frauen“,
sagt Butterwegge. Einfach kündigen kann
man Minijobber zwar auch aufgrund der
Coronakrise nicht, aber Anspruch auf
Kurzarbeitergeld haben sie auch nicht,
und sie sind – im Moment ist ja noch
unklar, wann zugesperrte Betriebe wieder
öffnen – leichter und schneller kündbar.
Mehr als zwei Millionen Frauen in
Deutschland gehen einem Minijob als
einziger Beschäftigung nach. Außerdem
gebe es „über eine Million alter Menschen,
die einen Minijob haben, weil ihre Rente

nicht reicht“, so Butterwegge. Und die sich
nun schlechter versorgen können: Die
Tafeln sind zu, im Supermarkt viele Regale
leer gekauft, der entfernte günstigere
Supermarkt ist ohne Auto schwer zu er-
reichen. „Da wären ein zeitlich befristeter
Ernährungszuschlag oder zusätzliche
Lebensmittelgutscheine die richtige Lö-
sung.“
Auch für jene, die schon Hartz IV be-
ziehen – mehr als jeder dritte Alleinerzie-
hende bekommt Arbeitslosengeld II, das
sind ebenfalls mehrheitlich Frauen. Schon
jetzt, so Butterwegge, gingen „alle Wohl-
fahrtsverbände davon aus, dass die regulä-
ren Bedarfssätze nicht reichen, ein Kind
adäquat zu ernähren und zu kleiden.“ Und
selbst wenn eine alleinerziehende Mutter
einen Job hat: „Wie soll eigentlich eine
Alleinerziehende den zusätzlichen Betreu-

ungs- und Versorgungsbedarf für ihre Kin-
der finanzieren, der entsteht, weil Kitas
und Schulen zu sind?“
Häusliche Gewalt trifft Frauen prozentu-
al ebenfalls wesentlich härter, nur in etwa
zwanzig Prozent der Fälle geht sie vom
weiblichen Partner aus. Auch in Deutsch-
land gibt es schon stichprobenartig Mel-
dungen über einen Anstieg häuslicher Ge-
walt. Am Sonntag hat UN-Generalsekretär
António Guterres sogar vor einer „schreck-
lichen Zunahme“ häuslicher Gewalt durch
die weltweiten Ausgangssperren gewarnt.
Nach einer Meldung aus China haben sich
während der Ausgangssperre die Fälle ver-
dreifacht. In einigen Ländern habe sich die
Zahl der Hilferufe verdoppelt, so Guterres.
In der Präfektur Paris beispielsweise, so
die französische Gleichstellungsminis-
terin Marlène Schiappa, mussten die
Ordnungskräfte seit dem 16. März – am


  1. März trat die Ausgangssperre in Kraft –
    um 36 Prozent häufiger wegen gewalttäti-
    ger Auseinandersetzungen in der Familie
    ausrücken. In Lyon können sich Frauen,
    die Opfer von Gewalt geworden sind, seit
    ein paar Tagen an Apotheker wenden – die
    üblichen Wege, sich vertraulich Hilfe zu
    suchen, sind erschwert.
    Anekdoten der französischen Polizei, es
    habe Anfragen gegeben, ob der Gatte trotz-
    dem zu seiner Geliebten fahren dürfe, sind
    nur bedingt komisch: Eine Frau, die eine
    solche Frage stellt, will vielleicht aus Angst
    dafür sorgen, die Spannung in der Quaran-
    täne ein wenig herunterzufahren. Das Zu-
    hause wird umso gefährlicher, je kleiner es
    ist – sich aus dem Weg zu gehen ist schwer.


Nach der Quarantäne kommt wohl
unweigerlich die Rezession. Und auch die
benachteiligt meist Frauen, besonders
nach Epidemien. Die African Development
Bank Group beispielsweise hat 2016 eine
Studie herausgebracht, wie sich Ebola auf
die Gleichstellung ausgewirkt hat. Hier wa-
ren Frauen auch von der Krankheit direkt
härter betroffen, weil sie ihr stärker ausge-
setzt waren – nicht nur der Berufe wegen,
sondern weil auch die häusliche Pflege
ihnen oblag. Generell aber wurden jene
Gruppen härter getroffen, die auch vorher
schon wirtschaftlich benachteiligt waren –
und in denen sind Frauen eben in der Mehr-
heit. Selbst wenn die Ungleichheit im rei-
chen Europa nicht so krass ist wie in Libe-
ria oder Sierra Leone – selbst Deutschland
hat zwischen Männern und Frauen bis heu-
te ein Gehaltsgefälle von 20 Prozent.
Sollte es aber vielleicht am Ende eine
Aufwertung mancher Berufe geben, weil
man sie besser wertzuschätzen weiß,
werden Krankenpflege, die Arbeit im Su-
permarkt und all die zu etwa 90 Prozent
weiblichen Menschen, die sonst Kinder
belehren, erziehen und versorgen, dann
besser bezahlt, weil klargeworden ist, wie
sehr man sie braucht? Vielleicht.
Es kann aber auch anders kommen.
„Prognosen sind schwierig, besonders,
wenn sie die Zukunft betreffen“, zitiert
Butterwegge Karl Valentin. Die Pandemie
könne sich nämlich auch als Rückschlag
für die Gleichberechtigung erweisen. Viel-
leicht geht ein Teil der emanzipatorischen
Fortschritte wieder verloren, welche die
Frauen lange vor der Coronakrise er-
kämpft hatten: „Wenn die momentane
Deprofessionalisierung und Rückverlage-
rung der Kinderbetreuung in die Privat-
haushalte anhält“, so Butterwegge, „kann
das bei den sogenannten Doppelverdiener-
Paaren zu einer Wiederbelebung traditio-
neller Rollenmuster führen, weil sich die
Frauen um die Kinder kümmern müssen.“
Das wäre eine Renaissance der Haus-
frauenehe. Und von der Welt da draußen
würde wieder ein Stückchen mehr den
Männern gehören.

DEFGH Nr. 82, Dienstag, 7. April 2020 9


Gearbeitet haben Frauen schon


immer. Aber unabhängig werden


sie nur durch anständige Löhne


Werden nach der Krise alte
Rollenbilder wiederbelebt?
Homeschooling lässt Böses ahnen

Feuilleton
Künstler beantragen Hartz IV – die
versprochenen unbürokratischen
Hilfen greifen nicht immer 11

Literatur
„Zwischen den Kriegen“
opulent – Peter Rühmkorfs
Zeitschrift als Faksimile 12

Wissen
Auch ohne direkten Kontakt
zu Infizierten kann man sich mit
dem Coronavirus anstecken 14

 http://www.sz.de/kultur

Wenn der große Lümmel die Politik aufmischt


Vor der Corona-Krise geschrieben, dennoch das Buch zur Stunde: Philip Manows Essay „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“


Das Ochsentour-Bashing
übersieht die Vorzüge einer
konsequenten Parteikarriere

Münchner Filmfest


findet nicht statt


Axel Milberg


liest


Der „literarische Balkon“ des
Schauspielers im SZ-Podcast

Es ist sehr beliebt, die eigene
Position mit der Demokratie
selber kurzzuschließen

Alles auf Anfang?


Nur wer sich frei bewegen kann, hat Anteil an der Macht:


Warum Ausgangsbeschränkungen Frauen härter treffen als Männer


FEUILLETON


Der öffentliche Raum gehört Frauen nicht, sie müssen ihn immer erst
erobern – und das ist meist ein weiter Weg: Frauen demonstrieren in München 1975
gegen den Paragrafen 218 und für die Fristenlösung.FOTO: JÜRGEN SCHNECK

HEUTE

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