Handelsblatt - 07.04.2020

(Elle) #1
Votum

Christian Harmsen
ist Partner der
internationalen Anwaltskanzlei
Bird & Bird LLP.

Projekt


überdenken


S


eit Jahrzehnten träumt die
Politik von einem EU-Pa-
tent und einem EU-Pa-
tentgericht. Man wähnte sich
2013 mit dem Übereinkommen
der Mitgliedstaaten über ein
einheitliches Patentgericht end-
lich am Ziel. Doch das Bundes-
verfassungsgericht hat dessen
Ratifizierungsgesetz nun für ver-
fassungswidrig und nichtig er-
klärt (Az. 2 BvR 739/17). Die Be-
gründung ist deutlich. Mit dem
Gesetz solle „ein nicht unerheb-
licher Ausschnitt“ deutscher
Rechtsprechungsbefugnisse
„von erheblicher ökonomischer
Relevanz“ unter „Verdrängung
deutscher Gerichte“ auf das
neue zentrale Patentgericht
übertragen werden. Dies sei ei-
ne Verfassungsänderung. Der
deutsche Gesetzgeber habe die
gemäß Grundgesetz hierfür er-
forderliche Voraussetzung einer
Zweidrittelmehrheit jedoch
nicht erfüllt.
Das tief getroffene Justizmi-
nisterium hat zwar sofort ange-
kündigt, die formellen Versäum-
nisse alsbald nachzuholen.
Doch sollte man das Projekt
besser noch einmal überden-
ken. Denn wir haben viel zu ver-
lieren. Die deutschen Patentge-
richte sind weltberühmt. Die
größten Unternehmen der Welt
ziehen bei uns in die Schlacht.
Weit mehr als die Hälfte aller
europäischen Patentprozesse
werden vor deutschen Patentge-
richten ausgetragen. Nach Ein-
führung des zentralen EU-Pa-
tentgerichts würden die deut-
schen Patentgerichte ausbluten
und der Einfluss der fundierten
deutschen Rechtsprechung sin-
ken. Ohnehin ist Spanien bei
der geplanten Gerichtsbarkeit
nicht dabei. Und das Vereinigte
Königreich hat sich mit dem
Brexit verabschiedet.
Lohnt es sich also wirklich,
das Projekt weiterzuverfolgen,
die deutschen Patentgerichte zu
schwächen und hierfür zu guter
Letzt auch noch die Verfassung
zu ändern? Dies erscheint sehr
fraglich. Vielmehr sollte man
nun neu ansetzen. Wenn über-
haupt, sollte man sich bei der
Europäisierung des Patent-
rechts am verwandten Marken-
recht orientieren. Dort gibt es
seit Langem einheitliche EU-
Schutzrechte. Doch die Ge-
richtsbarkeit liegt weiter bei den
nationalen Gerichten.

An dieser Stelle kommentieren
Rechtsexperten jeden Dienstag
wichtige Justiztrends.

Bird & Bird LLP

Steuerthema der Woche

Korrektur von Steuerdaten


M


it Inkrafttreten der Daten-
schutz-Grundverordnung
(DSGVO) und mit der Ein-
führung von Sanktionen für Daten-
missbrauch ist der Datenschutz im Be-
wusstsein von Bürgern, Unternehmen
und Behörden angekommen. Die
DSGVO setzt den Schutz des Grund-
rechts auf informationelle Selbstbe-
stimmung um. Hierzu zählt das Recht
auf Auskunft über die gespeicherten
personenbezogenen Daten ebenso wie
das Recht auf Korrektur gespeicherter
Daten. Wie ein Urteil des Finanzge-
richts (FG) Köln zeigt, scheint dieser
Anspruch nicht allumfassend zu gelten
(Az.: 2 K 312/19).

Im Fall einer auf den niederländi-
schen Antillen registrierten Gesell-
schaft war streitig, wo die geschäftli-
che Leitung der Klägerin ansässig
war. In einem Klageverfahren ver-
ständigten sich die Beteiligten da-
rauf, dass bis 2008 von einem inlän-
dischen Sitz der Geschäftsleitung
und ab 2009 von einem Sitz in der
Karibik auszugehen sei. Im An-
schluss an das Klageverfahren bean-
tragte die Klägerin die Änderung der
bei der Informationszentrale für
steuerliche Auslandsbeziehungen
(IZA) gespeicherten Daten. Das FG
Köln kam unter Berufung auf eine
Entscheidung des Bundesverfas-

sungsgerichts aus dem Jahr 2008
zum alten Bundesdatenschutzgesetz
zu dem Schluss, dass die Klägerin
keinen Anspruch auf Änderung der
sie betreffenden Daten in der IZA-
Datenbank habe.
Unter dem Hinweis, dass der Da-
tenschutz gerade in einer digitali-
sierten Welt immer mehr an Bedeu-
tung gewinnt, könnte inzwischen
aber fraglich sein, ob diese Recht-
sprechung nach der gravierenden
Veränderung der Rechtsgrundlagen
weiterhin gültig ist. Über diese Frage
wird demnächst der Bundesfinanz-
hof zu befinden haben (Az. II R
43/19).

Heike Anger Berlin

I


n der Coronakrise gerät die
deutsche Wirtschaft ins Wan-
ken. Immer länger wird die
Liste der Unternehmen in
Schwierigkeiten. So will der
Warenhauskonzern Galeria Karstadt
Kaufhof mit seinen rund 28 000 Mitar-
beitern unter einem Schutzschirmver-
fahren seine Sanierung fortsetzen.
Gleiches gilt für mehrere deutsche
Tochtergesellschaften des Modekon-
zerns Esprit. Die Restaurantketten Va-
piano und Maredo meldeten Insolvenz
an. Laut einer Umfrage des Deutschen
Industrie- und Handelskammertages
(DIHK) sehen sich in der Reisebranche
und im Gastgewerbe 40 Prozent der
Betriebe akut von Insolvenz bedroht.
Die Regierung hat zwar die Insol-
venzantragspflicht für von der Corona-
krise betroffene Firmen bis zum 30.
September ausgesetzt – bei möglicher
Verlängerung der Maßnahme bis zum


  1. März 2021. Demnach gilt ein Unter-
    nehmen als von der Krise betroffen,
    wenn es am 31. Dezember 2019 noch
    zahlungsfähig war.
    Doch nun warnt der Vorsitzende
    der Arbeitsgemeinschaft Insolvenz-
    recht und Sanierung im Deutschen
    Anwaltverein (DAV), Jörn Weitzmann,
    vor einer zu langen Aussetzung. „Das
    kann einen Vertrauensverlust in der
    Wirtschaft bewirken“, sagte Weitz-
    mann dem Handelsblatt. Ein Lieferant
    werde auf Vorkasse umsteigen, wenn
    er sich nicht mehr sicher sein könne,
    dass sein Auftraggeber die Ware auch
    bezahle, weil er vielleicht schon längst
    überschuldet und zahlungsunfähig sei.
    In der Folge wäre die Produktivität
    erheblich belastet, weil Zahlungsein-
    gänge überprüft werden müssten.
    Lieferketten könnten reißen und die
    Just-in-time-Produktion stoppen. „Die
    Rezession würde sich verschärfen“,
    warnt Weitzmann. Zugleich würden
    „Super-Zombies“ herangezüchtet, al-
    so Unternehmen, die nicht nur for-
    mal überschuldet und zahlungsunfä-
    hig seien, sondern nur noch mithilfe
    von Neuschulden am Leben gehalten
    würden.
    Der DAV-Experte verweist auf den
    legendären Essay „The Market for Le-
    mons“ von Wirtschaftsnobelpreisträ-
    ger George Akerlof. Dort sei ausführ-


lich beschrieben, was passiere, wenn
der Markt kein Vertrauen mehr in die
Marktfunktionen habe, Transparenz
fehle und Betrüger nicht aus dem
Wirtschaftsgeschehen entfernt wür-
den: Der Markt breche zusammen.
Der Insolvenzexperte fordert da-
rum eine Klarstellung des Gesetzge-
bers: „Es muss deutlich gemacht
werden, dass trotz der Aussetzung
der Insolvenzantragspflicht der Ein-
gehungsbetrug weiterhin strafbar
ist.“ Wer also im Moment nicht zah-
len kann und erkennt, dass er die
Verpflichtungen auch zum Zeitpunkt
ihrer Fälligkeit nicht wird erfüllen
können, der wird wegen eines betrü-
gerischen Vertragsabschlusses be-
straft.
„Die Aussetzung der Insolvenzan-
tragspflicht ist kein Freibrief für Mo-
ral Hazard und betrügerisches Han-
deln“, bekräftigte Weitzmann. Dazu
müssten sich auch die rechtspoliti-
schen Sprecher der Bundestagsfrak-
tionen ausdrücklich bekennen.

Dass nun zahlreiche Unternehmen
Insolvenz anmelden oder das Schutz-
schirmverfahren beantragen, statt
Staatshilfen anzustreben, ist aus Sicht
des DAV-Experten der vorteilhaftere
Weg. Handelsunternehmen funktio-
nierten nach dem Grundsatz „Waren
gegen Geld“. Sie seien daher von der
Vertrauenskrise durch einen befürch-
teten Zahlungsausfall – der auf der
Aussetzung der Insolvenzantrags-
pflichten beruhe – nach dem Shut-
down nicht so stark betroffen. „Es
kann daher ein intelligenter Schritt
sein, die derzeit entstehenden Ver-
bindlichkeiten im Rahmen eines Insol-
venzverfahrens einzufrieren“, meint
Weitzmann. So könne der Karstadt-
Kaufhof-Konzern mit seinem vollen
Lager nach der Beendigung des Shut-
downs seine Einnahmen nutzen, um
frische Waren zu bestellen und zu be-
zahlen. Das lasse sich jedoch nicht
übertragen auf Produktions- oder
Dienstleistungsunternehmen, bei de-
nen eine Leistung auf Ziel erfolge.

Coronakrise


Großer Vertrauensverlust


Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wird Konsequenzen haben.


Sixten Abeling ist
verantwortlicher
Redakteur für
Steuerrecht.
http://www.der-betrieb.de

Das ist kein


Freibrief


für Moral


Hazard und


betrüger isches


Handeln.


Jörn Weitzmann
Deutscher Anwaltverein

Galeria Karstadt Kaufhof:
Der Warenhauskonzern will die be-
gonnene Sanierung mit einem
Schutzschirmverfahren fortsetzen.

AFP

Recht & Steuern
DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
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Mittelstandsinitiative

Unternehmer mobilisieren sich selbst


Aufruf für die Herstellung von
Schutzmasken,
Abstrichspateln und
Beatmungsgeräten gestartet.

Anja Müller Düsseldorf

E


s war eine Anzeige, die auf-
rüttelte. Am Samstagmorgen
gegen sieben Uhr gingen bei
Arndt Rolfs, Gründer des Biotechun-
ternehmens Centogene in Rostock,
bereits die ersten Mails auf seinen
Aufruf an Unternehmen ein.
Die Anzeige, die er gemeinsam
mit anderen Unternehmern wie Pa-
trick Adenauer vom Bauunterneh-
men Bauwens und Lutz Goebel vom
Maschinenhersteller Henkelhausen
unterzeichnet und finanziert hatte,
war zuerst in der „Süddeutschen“,
dann auch in „FAZ“ und Handels-
blatt zu sehen. Sie ruft Unternehmer
auf, in die Produktion von Abstrich -
spateln für Coronatests, Schutzmas-
ken, Chemikalien für Tests und Beat-
mungsgeräten einzusteigen. „Es
musste schnell gehen“, begründet
Rolfs den ungewöhnlichen Weg.
Denn er sieht, dass die Zeit läuft,
ohne dass ein klares Konzept auf
dem Tisch liegt. Vor zwölf Jahren
hatte er Centogene gegründet, heute
hat das Unternehmen 500 Mitarbei-
ter. Es bietet genetische Diagnostik
für angeborene seltene Krankheiten
an. „Die technologische Plattform ist
die gleiche wie bei der Virusanaly-
se“, sagt Rolfs. Vor vier Wochen hat-
te er sich dazu entschieden, dass die
Hälfte seiner Entwicklungsmitarbei-
ter – 25 sind es – sich künftig nur
noch mit Covid-19 beschäftigt.
Da der Weltmarkt für die fertigen
Corona-Testkits leer gefegt ist, bauen
seine Mitarbeiter seitdem aus einzel-
nen Komponenten selbst entspre-
chende Tests zusammen. Doch auch
die dafür notwendigen Zulieferun-
gen aus dem Ausland werden inzwi-
schen knapp. Die Analyse erfolgt
derzeit bei Centogene selbst, dort
liegt die Kapazität derzeit bei 10 000
Tests täglich.
Den Beweis, dass man hierzulan-
de Test recht einfach schnell und
vielfach herstellen kann, den habe
er angetreten, sagt Rolfs. „Wir müs-
sen diejenigen, die noch arbeiten
müssen, Pflegekräfte, Polizei, Ärzte,
Kassiererinnen und die Risikogrup-
pen in den Krankenhäusern und
Pflegeeinrichtungen, schützen.“
Konkret heißt das: regelmäßig testen
und schnelle Ergebnisse liefern.
Am Sitz von Centogene in Rostock
traf Rolfs auf einen innovationsfreu-
digen Bürgermeister. Claus Ruhe-
Madsen, selbst Unternehmer, ließ ei-
nen Feldversuch mit den Tests zu.
So werden einmal pro Woche in
Krankenhäusern, bei der Feuerwehr
und der Polizei die Mitarbeiter und
Betroffenen getestet. „Das war für
uns die Blaupause für Deutschland.“
Rolfs wandte sich in den vergange-
nen drei Wochen auch an verschie-
dene politische Entscheidungsträger
auf Landes- und Bundesebene. Doch
die Kommunikation geht nur schlep-
pend voran, sagt der Unternehmer
und Mediziner.
Die typische mittelständische Un-
geduld packte ihn, verbunden mit
der Sorge, wichtige Zeit im Kampf
gegen das Virus zu verlieren. „Wäh-
rend die öffentlichen Verantwor-
tungsträger immer von der Verknap-

pung der Ressourcen sprechen, ha-
ben wir doch gezeigt, dass es geht.“
Zugleich sieht auch Rolfs, dass der
Mittelstand leidet und teilweise freie
Kapazitäten und Expertise hat.
Die Antworten auf seinen Aufruf
in den Medien geben ihm recht:
„Mehr als 300 Firmen haben sich
sofort gemeldet“, sagt er. Die meis-
ten Angebote der Unternehmen be-
ziehen sich auf Abstrichspatel und
Masken, die auch die Träger schüt-
zen, sogenannte FFP-2-Schutzmas-
ken, weniger Angebote gibt es bis-
lang für Beatmungsgeräte und die
Testchemikalien, konstatiert Rolfs.
Was er und seine Mitstreiter jetzt
wollen: dass die Bundesregierung
strukturiert, dass die für den Kampf
gegen die Covid-19-Infektion erfor-
derlichen und in Deutschland pro-

duzierten Produkte auch zentral ab-
genommen werden. Viel Zeit bleibt
nicht, die Zahl der Infizierten steigt,
während hierzulande immer noch
mit rund 35 000 Tests pro Tag, wie
Rolfs feststellt, viel zu wenige Men-
schen getestet werden. Naturgemäß
müssen solche Tests und Masken
und alles, was darum herum pro -
duziert wird, zunächst zertifiziert
werden. Das geht nicht so schnell.
Drei Wochen wartet Rolfs schon
darauf. Von der Güte seiner selbst
entwickelten Tests, die den Anfor -
derungen der WHO und der Berliner
Charité entsprächen, jedenfalls ist er
überzeugt: „Die Tests reagieren
bereits bei ein bis zwei Virusparti-
keln und nicht erst bei fünf wie bei
den häufig benutzten Tests“, sagt
Rolfs.

Die Idee, dass die Firmen zusam-
menarbeiten, um das Land wieder aus
der Coronastarre zu holen, überzeugte
Mitunterzeichner Adenauer sofort. „Es
ist wichtig, dass wir die Testhäufigkei-
ten erhöhen, damit wir beim Hochfah-
ren der Wirtschaft wieder sagen kön-
nen, wer arbeiten kann und wer nicht.“
Man könne nicht warten. Adenauer
selbst ist an einem Unternehmen betei-
ligt, das Masken für die Industrie her-
stellt und selbst FFP-2-Masken aus Chi-
na importiert. Lutz Goebel leuchtet es
ebenfalls sehr ein, „dass wir nur über
ein großräumiges Testen die Chance
bekommen, den Lockdown schnell zu
beenden.“ Initiator Rolfs will beweisen,
dass es „nicht nur eine Hypothese ist,
dass wir auch hierzulande so viele Tes-
tungen machen können wie zum Bei-
spiel in Taiwan“.

10 000


TESTS
kann das
Unternehmen
Centogene derzeit
täglich selbst
durchführen.

Quelle:
Firmenangaben

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Wirtschaft & Politik
DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
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