Handelsblatt - 07.04.2020

(Elle) #1
„Wir wissen, dass Ausgangssperren und
Quarantäne entscheidend sind, um
Covid-19 zu bekämpfen. Aber Frauen
können dadurch auch mit übergriffigen
Partnern in einer Wohnung eingesperrt sein.“
Antonio Guterres, UN-Generalsekretär, hat vor einer
„schrecklichen Zunahme“ häuslicher Gewalt während der
Corona-Pandemie gewarnt.

Worte des Tages


Spanien


Grenzen der


Quarantäne


D


ie spanischen Behörden ha-
ben die Gefahr des Corona-
virus erst unterschätzt und
dann eine der härtesten Ausgangs-
sperren verhängt, die es gibt: Aus
dem Haus darf man nur allein und
nur, um einkaufen zu gehen. Polizei
und Drohnen überwachen die Ein-
haltung. Diese Sperre ist ein tief
greifender Eingriff in die Freiheits-
rechte und stellt eine enorme psy-
chische Belastung dar.
Über drei Wochen sind Familien
mit Kindern nun zum Teil auf engs-
tem Raum in ihren Wohnungen ein-
gesperrt, während andere Länder
wie Deutschland oder Frankreich
Spaziergänge oder Radfahren im
Freien erlauben – und zwar zu
zweit oder mit der ganzen Familie.
Die kommenden Monate werden
zeigen, wie sehr das Eingeschlos-
sensein der spanischen Psyche zu-
gesetzt hat. Gerade für ein Volk, das
viel mehr als das deutsche ein Le-
ben in der Gruppe zelebriert, ist die
Sperre hart.
Wahrscheinlich gab es anfangs
keine Alternative zu diesen drasti-
schen Maßnahmen. Für massenhaf-
te Tests fehlte schlicht das Material.
Das Gesundheitssystem stand vor
dem Kollaps, täglich starben Hun-
derte Menschen. Wahrscheinlich
war es auch zu spät, mit Appellen
an die Vernunft oder einem Trial-
and-Error-Ansatz die exponentielle
Ausbreitung des Virus unter Kon-
trolle zu bringen.
Jetzt aber, wo die Einschnitte grei-
fen – die Zahl der Infektionen steigt
inzwischen um weniger als fünf
Prozent täglich –, brauchen die Spa-
nier dringend ein Signal der Hoff-
nung. Ein Signal, dass auf absehba-
re Zeit so etwas wie ein normales
Leben überhaupt wieder denkbar
ist. Wenn es auch noch zu früh für
den umfassenden Exit ist, zumin-
dest ein Szenario für den Exit sollte
die Regierung liefern. Es ist die Zeit
für weniger pauschale und mehr
zielgerichtete Maßnahmen. So soll-
ten Bewohner von Seniorenheimen,
die zu Hunderten dort sterben, ge-
testet und in verschiedenen Gebäu-
den in Infizierte und nicht Infizierte
getrennt werden. Jüngst sind eine
Million Tests in Spanien angekom-
men, das ist ein Anfang.


Will die spanische Regierung nicht
das Vertrauen der Bürger verlieren,
muss sie bald ein Exit-Szenario
präsentieren, sagt Sandra Louven.

Der Autorin ist Korrespondentin in
Madrid.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]


N


ot macht erfinderisch. Wenn sich die
Finanzminister der Euro-Gruppe heute
per Video zusammenschalten, um über
eine finanzielle Lastenverteilung der
Coronakrise zu beraten, lassen sich ih-
re zahlreichen Vorschläge kaum noch überblicken:
Euro- oder Corona-Bonds, European Recovery
Bonds, ein Marshallplan, der europäische Rettungs-
schirm ESM, Hilfen der Europäischen Investitions-
bank (EIB) – um nur die wichtigsten zu nennen.
In einer Flut von Gastbeiträgen in internationalen
Medien haben die wichtigsten Länder ihre Positio-
nen abgesteckt, wobei die Front wie gewohnt zwi-
schen Süden und Norden verläuft: Die besonders
hart getroffenen Länder Italien, Spanien und Frank-
reich fordern eine gemeinsame Schuldenaufnahme,
um sich den sozialen und wirtschaftlichen Folgen
der Pandemie entgegenzustemmen. Der Norden, an-
geführt von Deutschland, will davon noch nichts
wissen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Bun-
desaußenminister Heiko Maas versprechen dem Sü-
den ihre Solidarität. Die in Deutschland zum Tabu
erklärten Corona-Bonds erwähnen sie aber in ihrem
Beitrag für Zeitungen in Frankreich, Italien, Spanien,
Portugal und Griechenland ganz bewusst nicht.
All das kennen wir aus der Schuldenkrise von


  1. Nur handelt es sich diesmal um eine völlig an-
    dere Krise. Ganz Europa ist unverschuldet von der
    Pandemie getroffen worden. Ihre sozialen und wirt-
    schaftlichen Auswirkungen sind, so viel lässt sich
    jetzt bereits sagen, viel weitreichender als vor zehn
    Jahren. Und noch eines ist klar erkennbar: Sollen
    nicht Risse oder gar Schlimmeres in Europa zurück-
    bleiben, muss die EU die Krise gemeinsam bewälti-
    gen. „Wir können uns angesichts der Opferzahlen im
    Süden nicht vorstellen, was in italienischen, spani-
    schen, französischen Seelen los ist“, warnte der
    CDU-Politiker Elmar Brok am Wochenende. Die frü-
    heren Außenminister Sigmar Gabriel und Joschka Fi-
    scher mahnten gar, dass Spanien und Italien es
    „hundert Jahre nicht vergessen würden“, wenn
    Deutschland sie jetzt im Stich lasse.
    Die hier sichtbar werdende emotionale und psy-
    chologische Dimension der Pandemie wird in Berlin
    immer noch unterschätzt. Das können auch Solidari-
    tätsbekundungen wie die Behandlung italienischer
    und französischer Corona-Patienten in deutschen
    Kliniken nicht aufwiegen. Wem das zu emotional ist,
    der sei an den politischen Kollateralschaden erin-
    nert, den der kurzsichtige Streit ums Geld in poli-
    tisch instabilen Ländern wie Italien und Spanien
    jetzt bereits anrichtet. Dort warten die nationalisti-
    schen Populisten nur auf den Bruch in der EU.


Soll Europa keinen dauerhaften Schaden nehmen,
muss Berlin grundsätzlich erklären, dass Deutsch-
land bereit ist, die finanziellen Lasten gemeinsam
mit den EU-Partnern zu schultern. Dabei darf es kei-
ne Denkverbote geben. Wenn Corona-Bonds bei der
langfristigen Krisenbewältigung eine sinnvolle Rolle
spielen können, gehören auch sie heute auf den
Tisch der Euro-Finanzminister. Und nach allem, was
wir bereits jetzt über die enormen wirtschaftlichen
Schäden wissen, wird es ohne dieses Instrument
langfristig nicht gehen. Die Angst vieler Deutscher,
sie würden mit Corona-Bonds den Südländern einen
Blankoscheck ausstellen, ist unbegründet. Die Hilfen
könnten nur zweckgebunden für den Kampf gegen
die Pandemie eingesetzt werden. Vor allem auf den
Rettungsschirm ESM zu setzen, wie es Berlin vor-
zieht, würde Länder wie Italien unter der steigenden
Schuldenlast begraben. Selbst die EZB wäre kaum
mehr in der Lage, die Risikozuschläge für italieni-
sche Staatsanleihen auf ein tragbares Niveau zu drü-
cken. Und auch für die EZB-Risiken haften wir mit.
Corona-Bonds können helfen, aber sie sind kein
Allheilmittel. Zumal sich ein gemeinsames Schulden-
instrument nicht über Nacht aus dem Boden stamp-
fen lässt. ESM-Chef Klaus Regling rechnet sogar min-
destens mit einem Jahr, bis sich die Regierungen auf
den Modus aus Kapital, Garantien oder Einnahme-
strömen geeinigt haben. Dass es auch schneller ge-
hen kann, zeigt allerdings die Idee des von den drei
deutschen Ökonomen Christian Odendahl, Sebastian
Grund und Lucas Guttenberg entwickelten „Pande-
mic Solidarity Instrument“: einer gemeinsamen, ein-
maligen und begrenzten Krisenanleihe, die von allen
EU-Ländern garantiert würde und mit dem EU-Recht
und ohne neue Institutionen machbar wäre.
Nicht alte Vorurteile, sondern die ökonomische
und politische Vernunft sollten die Krisenbekämp-
fung leiten. Gut möglich, dass es am Ende auf einen
Finanzmix aus mehreren Instrumenten hinausläuft:
ESM-Mitteln, EIB-Hilfen, EZB-Aufkäufen, EU-Kurzar-
beitergeld und einem europäischen Solidaritätsfonds.
„Dies ist nicht der Zeitpunkt, um Sündenböcke zu
suchen oder in Panik zu geraten und unseren
schlimmsten Instinkten zu folgen. Die Krise wird nur
durch Rationalität, Mitgefühl und gegenseitiges Ver-
ständnis innerhalb und außerhalb unserer Grenzen
gelöst werden“, schreibt der ehemalige EU-Außen -
beauftragte Javier Solana von seinem Krankenbett in
Madrid aus. So ist es.

Corona-Bonds


Stunde der


Solidarität


Europa kann die
Lasten der
Pandemie nur
gemeinsam
schultern. Das
Signal dafür muss
aus Berlin
kommen, meint
Torsten Riecke.

Nicht alte


Vorurteile,


sondern die


ökonomische


und politische


Vernunft


sollten


die Krisen-


bekämpfung


leiten: Es zählt,


was nachhaltig


hilft.


Der Autor ist International Correspondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
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„Denn 60 oder 67 Prozent des
Nettogehalts reichen gerade
bei kleinen Gehältern nicht
aus, um die Kosten des
Alltags zu decken. “
Katja Mast, SPD-Fraktionsvize, appelliert in der
Debatte über Verbesserungen beim
Kurzarbeitergeld an die Unternehmen.

„Aber es ist auch ein Punkt,
an dem die Dinge
anfangen, sich zu ändern.
Wir kommen diesem
Moment jetzt sehr nahe.“
Donald Trump, US-Präsident, über den
baldigen Höhepunkt der Corona-Pandemie
in den USA

Stimmen weltweit


Die belgische Zeitung „De Tijd“ kommentiert die
potenziellen Folgen des Kampfs gegen die
Corona-Pandemie für die Wirtschaft:

A


lle Maßnahmen kosten Geld, nicht allein
hier, sondern auch anderswo in der Welt.
In schwer getroffenen Ländern wie Ita-
lien, Spanien und Frankreich werden sie tiefe
Narben in den Haushalten hinterlassen. Die
Schulden in der Euro-Zone werden explodieren.
Die finanzielle Solidarität bleibt in Europa einge-
schränkt. Die „vier Sparsamen“ – Deutschland,
die Niederlande, Österreich und Finnland – hal-
ten an den strengen Maastricht-Regeln fest. Das
ist auf die Dauer nicht haltbar. Die Frage ist eher,
wie man nach dieser Krise den Euro überleben
lassen kann. (...) Wenn die Pandemie vorüber ist,
wird das gesamte finanzielle System konfrontiert
werden mit hohen Staatsdefiziten und noch viel
höheren Staatsschulden. Das wird zur Suche
nach einer neuen Balance. Wenn dann die Ant-
wort nicht auf die richtige Art und Weise gegeben
wird, droht nicht einfach nur eine Rezession,
sondern eine historisch einzigartige Depression.

Die tschechische Wirtschaftszeitung
„Hospodarske noviny“ kommentiert die
politischen Auswirkungen der
Coronavirus-Pandemie für die USA:

D


ie Vereinigten Staaten stehen mit den Wor-
ten von Präsident Donald Trump vor
„sehr, sehr schmerzhaften Wochen“. Es
wird erwartet, dass die Pandemie dort ihren Höhe-
punkt erreicht. (...) Während mehr als 80 Prozent
der Republikaner mit dem Krisenmanagement des
Präsidenten zufrieden sind, sieht ein gleich großer
Anteil unter den Demokraten darin ein Versagen.
Das ist nicht das Amerika, wie wir es kannten – ein
Land, das in schweren Zeiten zumindest für einen
Augenblick die ideologischen und politischen Dif-
ferenzen beiseiteschieben kann, um Probleme
pragmatisch zu lösen. Wirtschaftlich werden sich
die USA erholen, doch die gesellschaftliche und
politische Spaltung dürfte sich noch weiter vertie-
fen. Für die demokratische Welt, die in der Coro-
navirus-Krise nach einer gemeinsamen Richtung
AP, picture alliance / Michael Kappe, Polaris/laifsucht, ist das keine gute Nachricht.

Die französische Tageszeitung „Le Parisien“
kommentiert die Mobilisierung der
Pflegekräfte und die Transporte französischer
Patienten in europäische Nachbarländer:

M


uss man in Zeiten der Krise gemeinsam
hinter dem Präsidenten stehen? Alle kri-
tischen Stimmen zum Schweigen brin-
gen? Jenseits dieser Diskussionen zeigen Pflege-
kräfte aus ganz Frankreich täglich das Gesicht ei-
nes geeinten Landes. 300 Pflegekräfte sind in der
Pariser Region Île-de-France angekommen, um ih-
ren Kollegen unter die Arme zu greifen. 250 sind
in die Region Grand Est gereist, um die Welle ein-
zudämmen. (...) Bleiben nicht zuletzt die mehr als
600 Patienten, die per Zug, Helikopter oder Flug-
zeug in die südwestliche Region Aquitanien, nach
Brest und Marseille gebracht wurden. Die Nation
hat sich mobilisiert. Selbst das sonst so verrufene
Europa ist präsent: die Schweiz, Deutschland, Lu-
xemburg nehmen französische Patienten auf. Soli-
darität ist kein vergebliches Wort.

N


ach der Coronakrise muss es Steuersenkungen
geben. Vor allem für den Mittelstand und die
Mittelschicht. Bayerns Ministerpräsident spricht
mit seinem Vorstoß eine wirtschaftspolitische Notwen-
digkeit aus. Soll Deutschland nach dem Lockdown ei-
nen Kickstart hinlegen, braucht es breitflächige Entlas-
tungen, auch wenn sie schuldenfinanziert sind.
Deutschland kann aus der Rezession nur mit eigener
Kraft herauswachsen, anders geht es nicht.
Das war übrigens auch nach der Lehman-Krise so. In
den Konjunkturpaketen wurden die Eingangssteuersät-
ze gesenkt und außerdem die Krankenkassenbeiträge
steuerfrei gestellt. Das war ein gewaltiger Impuls, zu
dem das Verfassungsgericht den damaligen Finanzmi-
nister Peer Steinbrück verdonnert hatte. Danach kam
noch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz der
schwarz-gelben Bundesregierung. Hängen geblieben ist
in den Köpfen die Mehrwertsteuersenkung für Hotels.
Aber es gab damals auch eine ordentliche Erhöhung
des Kindergeldes. All das hat dazu beigetragen, dass
Deutschland relativ schnell wieder auf einen Wachs-

tumspfad zurückkam.
Neben der vollständigen Abschaffung des Solis, der
vor allem mittelständische Betriebe entlasten würde,
täte man den Gaststätten und Kneipen etwas Gutes,
wenn man sie mit der Hotelbesteuerung gleichstellen
würde. Ansonsten droht den Gaststätten ein Sterben
ungeahnten Ausmaßes.
Die SPD sollte vor allem ihre Parteipolitik sein lassen.
Die Forderung Saskia Eskens nach einer allgemeinen
Vermögensabgabe kann man noch als Folklore einer
überforderten SPD-Chefin abtun. Aber Olaf Scholz ist
da ein anderes Kaliber. Der Bundesfinanzminister
müsste eigentlich wissen, dass es nach der Krise um
Wachstums- und nicht um Verteilungspolitik geht. Da
ist der Solidaritätszuschlag die einfachste Möglichkeit
für eine breite Steuerentlastung. Scholz hat recht, die
schon beschlossene Soli-Entlastung auf den Sommer
vorziehen zu wollen. Da muss sich auch die Union be-
wegen. Mikado beim Soli darf es nicht geben – frei nach
dem Motto: Wer sich zuerst bewegt, hat parteipolitisch
verloren.
Das wichtigste Element eines Konjunkturpakets sind
eben Entlastungen für Arbeitnehmer und Unterneh-
men. Sonst droht Deutschland in seinem Schuldenberg
zu ersticken. Der kann nur abgetragen werden, indem
das Land wirtschaftlich wieder ordentlich zulegt. Die
schlechtere Variante wäre eine hohe Inflation. Die
Schulden nehmen dann zwar real ab. Aber die Zeche
zahlen am Ende die Bürger, die dann in einer übleren
Spirale nach unten stecken würden. Das will ernsthaft
doch keiner.

Wachstumspolitik


Steuersenkung oder Inflation


Wenn Deutschland aus der Krise
kommen will, brauchen
Mittelstand und Mittelschicht
breitflächige Entlastungen, meint
Thomas Sigmund.

Der Autor ist Ressortchef Politik.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


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