Handelsblatt - 07.04.2020

(Elle) #1
Frank Wiebe, Anke Rezmer Frankfurt

D


ie Welt erlebt gerade das größte geld-
politische Experiment seit dem Zwei-
ten Weltkrieg. Die Notenbanken pro-
duzieren neues Geld in Billionenhö-
he, um die globale Wirtschaft und die
Regierungen in der Coronakrise zu unterstützen.
Fast alle Tabus sind gefallen, weil die Pandemie
keine Rücksicht auf grundsätzliche Bedenken
nimmt. Zwar überwiegt derzeit die Sorge um die
Gesundheit gegenüber der Angst vor den unmittel-
baren Auswirkungen des wirtschaftlichen Still-
stands, aber Investoren fragen sich schon jetzt:
Kann das gut gehen? Mithilfe der Notenbanken
häufen bereits hochverschuldete Staaten immer
höhere Schulden an. Chris-Oliver Schickentanz,
Chefanlagestratege bei der Commerzbank, be-
fürchtet deshalb eine „politische Zerreißprobe“ in
der Euro-Zone. Sein Kollege Ulrich Stephan von
der Deutschen Bank fordert jetzt schon strukturel-
le Reformen nach der Krise, damit die Geldpolitik
sich wieder normalisieren kann. Besondere Sorgen
bereitet Italien: Das Land ist schon mit 130 Prozent
der jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet,
sehr hart von Corona betroffen, und die Politiker
im Euro-Raum können sich nicht über die Hilfsin-
strumente einigen. Es wird kompliziert werden,
aus dem Krisenmodus wieder herauszukommen.
Die entscheidenden Fragen für die Zeit nach dem
Abflauen der akuten Krise lauten: Welche Bedin-
gungen müssen eingehalten werden, damit über-
haupt ein Ausweg möglich ist? Welche Risiken gibt
es? Und: Wer zahlt am Ende die Rechnung?
Für die Welt gibt es eine gute und eine schlechte
Nachricht. Die schlechte lautet: Der Weg ist voraus-
sichtlich lang und schwierig, und auf der Strecke
lauern eine Menge Gefahren. Die gute Nachricht ist:
Der Ausstieg kann trotzdem gelingen. Seit Jahrzehn-
ten galt als ausgemacht, dass Geldpolitik maßhalten
muss, um nicht die Finanzwelt aus dem Gleichge-
wicht zu bringen. Doch von Maßhalten ist zurzeit
kaum etwas übrig geblieben. Die US-Notenbank
(Fed) hat ihre Bilanzsumme auf mehr als fünf Billio-
nen Dollar aufgebläht. Die Analysten der Commerz-
bank fürchten, dass sich der Wert noch einmal ver-
doppeln könnte – dann würde er ungefähr der Hälf-
te des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der USA
entsprechen. Die Fed ist inzwischen zugleich Staats-
finanzierer, Großinvestor in fast allen Bereichen der
Zinsmärkte und größte Geschäftsbank Amerikas.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte durch
Käufe von Zinspapieren, überwiegend Staatspapie-
ren, ihre Bilanz schon vor der Coronakrise auf
rund 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
der Währungsunion erhöht. Zurzeit liegt der Wert
bei knapp fünf Billionen Euro. Und es geht weiter
aufwärts: Allein das jüngste Ankaufprogramm hat
ein Volumen von mindestens 750 Milliarden Euro.
Gleichzeitig werden die Staatsschulden rasant an-
steigen: Steuereinnahmen fallen aus und neue Aus-
gaben an, um Haushalte und Unternehmen zu ret-
ten. So hat Deutschland nach Berechnung der Alli-
anz Maßnahmen zum Schutz der privaten Wirtschaft
von rund einer Billion Euro angekündigt. Das sind 30
Prozent des BIP. Dabei steht Deutschland noch rela-
tiv gut da wegen einer bisher niedrigen Staatsver-
schuldung. Andere Länder, zum Beispiel Spanien,

sind schwerer von der Krankheit getroffen und ha-
ben ausgehend von einer schwächeren Position
ebenfalls große Ausgabenprogramme angekündigt.
Die hohen Schulden sind aller Voraussicht nach
nur dadurch zu finanzieren, dass die Notenbanken
einen großen Teil davon aufkaufen. Die ordnungspo-
litische „monetäre Staatsfinanzierung“, also Finanz-
politik mithilfe neu produzierten Notenbankgelds,
ist ordnungspolitisch verpönt und in Europa in di-
rekter Form verboten. Realität ist sie de facto bereits
bis zu einem gewissen Grad, seit die Notenbanken
mit Ankäufen von Staatsanleihen nach der Finanz-
krise und der Euro-Krise begonnen haben. Und für
die Zeit der Krise wird sie zur Normalität.
Katharina Utermöhl, die Europa-Volkswirtin der
Allianz, drückt es etwas vorsichtiger aus: „Ein en-
ges Zusammenspiel von Fiskal- und Geldpolitik hat
in diesem Kontext klar an Bedeutung gewonnen.“
Die Notenbanken müssten „sicherstellen, dass
die Refinanzierungsbedingungen der Regierungen
auf erträglichem Niveau bleiben“. Aber damit stell-
te sich die Frage, wie die Notenbanken aus diesem
Mechanismus wieder aussteigen können. Zunächst
einmal betonen viele Ökonomen, dass es zur der-
zeitigen Politik kaum eine gangbare Alternative
gibt. Utermöhl meint: „Um die Ausbreitung des Vi-
rus zu verlangsamen, muss die europäische Wirt-
schaft derzeit eine notwendige Atempause einle-
gen.“ Ähnlich argumentiert Jörg Krämer, Cheföko-
nom der Commerzbank: „Zuerst kommt es darauf
an, das Virus selbst zu bekämpfen.“
Peter Hooper, der von New York aus die weltweite
ökonomische Forschung der Deutschen Bank leitet,
ist zudem der Überzeugung: „Die Entscheidungsträ-
ger müssen alles Notwendige tun, um in der Krise die
Liquidität und Stabilität der Märkte zu gewährleis-

ten.“ Abwarten und Zuschauen sind also keine Lö-
sung – weder im Kampf gegen die Viren noch bei der
Eindämmung der wirtschaftlichen Folgen. Gleichzei-
tig ist durch den Lockdown der Wirtschaft bereits
klar, dass eine Rezession nicht zu vermeiden ist – sie
geschieht ja geradewegs auf staatliche Anordnung.
Aber Utermöhl glaubt, dass dies nicht „zwingend zu
einer Finanz- oder Bankenkrise führen muss“.
Grundsätzlich gibt es mehrere Wege, um nach der
Krise wieder zur Normalität zurückzukehren.

nMöglichkeit 1: Der Schuldenschnitt
Theoretisch könnte es einen Schuldenschnitt ge-
ben. Aber der ist in der Breite kaum denkbar. Soll-
ten die Schulden für den Kapitalmarkt untragbar
werden, können sie zumindest von großen Noten-
banken übernommen werden. Anders sieht es in
Schwellenländern aus – vor allem wenn sie sich in
Fremdwährung verschulden: Da ist die Notenbank
unter Umständen machtlos.

nMöglichkeit 2: Inflation
Die Notenbank könnte durch den Kauf der Staats-
schulden so viel Geld in Umlauf bringen, dass sie da-
mit eine Inflation auslöst. Während der akuten Krise
ist stärkere Inflation zwar kaum vorstellbar – weil
die Nachfrage, etwa nach Öl, massiv einbricht,
kommt es in vielen Bereichen sogar zu sinkenden
Preisen. Aber danach wäre eine höhere Preissteige-
rung denkbar. Im schlimmsten Fall kann das eine
Hyperinflation sein – die Angst davor sitzt in
Deutschland aufgrund der Erfahrung nach den
Weltkriegen immer noch tief. Aber so muss es nicht
kommen: Wenn die Wirtschaft wieder wächst,
reicht eine sanfte Preissteigerung über einen länge-
ren Zeitraum aus, damit Schulden und Bruttoin-

Wege aus der


Schuldenfalle


Die Staaten benötigen in der Krise immer mehr Kredite,


die Notenbanken pumpen Billionen in den Geldkreislauf.


Der Weg zurück in die Normalität wird sehr schwer.


EZB-Chefin Christine Lagarde,
Zentrale in Frankfurt: Bilanz von
knapp fünf Billionen Euro.

dpa

dpa

Finanzen


& Börsen


DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
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landsprodukt (BIP) wieder in eine vernünftige Rela-
tion kommen. Stefan Bielmeier, Chefökonom der
DZ-Bank, zeigt ein Szenario auf, wie ein Ausstieg aus
dieser Situation gelingen kann: durch ein „hohes
nominales Wachstum“, damit die wirtschaftliche
Entwicklung „selbsttragend“ wird. Eine wichtige Zu-
tat ist dabei eine Inflation „etwas über Trend“. Das
Wachstum muss also gar nicht real – nach Abzug
der Inflation – hoch sein. Real gerechnet schrump-
fen aber im Laufe der Zeit Schuldenstände und No-
tenbankbilanzen zusammen mit einer etwas höhe-
ren Geldentwertung. Bielmeier ist Optimist: Dieser
Weg, auch als „Financial Repression“ bekannt, ist
wahrscheinlich der harmloseste. Er kommt ohne
harte Schuldenschnitte und ohne überbordende
Geldentwertung aus. Stattdessen verteilt er die ne-
gativen Effekte auf einen längeren Zeitraum.
Peter Hooper glaubt ähnlich wie Bielmeier, dass
zumindest für den Euro-Raum ein bisschen mehr
Inflation sogar hilfreich wäre, um die Wirtschaft
am Laufen zu halten: Sie erleichtert auch privaten
Schuldnern ihre Last und erleichtert die Anpas-
sung von Reallöhnen, weil nach Abzug der Inflati-
on auch versteckte Lohnsenkungen möglich sind.

nMöglichkeit 3: Notenbank lässt ihre Bilanz
schrumpfen
Eine dritte Möglichkeit wäre, dass die Notenbank
ihre Zinspapiere an private Investoren verkauft
und so ihre Bilanz wieder schrumpfen lässt. Diesen
Weg hat Krämer im Blick. Das würde allerdings ten-
denziell zu steigenden Zinsen für die Regierungen
führen und damit beim Abbau der Schulden nicht

helfen. Krämer betont daher: „Die Wirtschaft muss
wieder laufen.“ Er kann sich einen Zeitraum von
fünf bis sechs Jahren für so eine Schrumpfung der
EZB-Bilanz vorstellen. Wichtig ist aus seiner Sicht,
dass die Notenbank dies vorher glaubhaft ankün-
digt, damit die Staaten sich durch eine disziplinier-
te Ausgabenpolitik darauf einstellen können.

nMöglichkeit 4: Alles bleibt beim Alten
Eine vierte Möglichkeit wäre recht simpel: Die No-
tenbank behält ihre große Bilanz, und die Regierun-
gen behalten ihre hohen Schulden. Wenn diese
Schulden zu einem hohen Teil bei der Notenbank
liegen, belasten sie die Kapitalmärkte nicht, und die
Zinszahlungen fließen wieder an die Regierungen
zurück. Anders gesagt: Ökonomisch gesehen gehö-
ren die Zentralbanken den Staaten. Sie verschulden
sich also bei sich selbst. Daher fallen die dort gebun-
kerten Schulden im Prinzip nicht ins Gewicht.
Außerdem hat Olivier Blanchard, ehemals Chef-
ökonom des Internationalen Währungsfonds, mehr-
mals darauf hingewiesen, dass die Zinsen ohnehin
weltweit niedrig sind und die Haushalte der Staaten
daher wenig belasten. Das Beispiel Japan zeigt, dass
so etwas funktionieren kann: Dort liegt die Staatsver-
schuldung bei 250 Prozent und die Bilanz der Noten-
bank bei über 100 Prozent des BIP. Trotzdem kom-
men die Preise nicht vom Fleck, und der Yen ist rela-
tiv hoch bewertet. Das hat tief liegende Gründe,
etwa in der Altersstruktur der Gesellschaft und ei-
nem hohen Sparüberhang; die Schulden liegen über-
wiegend im Inland. Trotzdem zeigt das Beispiel, dass
auch die vierte Möglichkeit keine reine Fantasie ist.

Hiroshi Ugai von JP Morgan verweist in einer Stu-
die explizit auf Japan, um zu belegen, dass hohe
Schuldenstände auch ohne stark steigende Rendi-
ten oder „Nachhaltigkeitsrisiken“ möglich sind.
Krämer warnt allerdings: „Eine große Notenbank-
bilanz ist nicht problemlos.“ Denn sie wäre damit ver-
bunden, dass die Banken „im Geld schwimmen und
nicht mehr diszipliniert wirtschaften“, fürchtet er.
Dadurch könnten Zombie-Unternehmen am Leben
erhalten werden, die besser aus dem Wirtschaftsle-
ben ausscheiden sollten. Damit die monetäre Staats-
finanzierung wieder eingefangen werden kann, müs-
sen Bedingungen eingehalten werden. Utermöhl
nennt den wichtigsten Punkt: „Die Rettungsmaßnah-
men sollten proportional zum weiteren Verlauf der
Krise sein: umfassend und breit angelegt, aber eben
auch temporär.“ Das neue EZB-Programm zum An-
kauf von Anleihen im Volumen von 750 Milliarden
Euro hält sie für „ein gutes Beispiel“.
Ugai weist zudem darauf hin, dass die „Koordi-
nation“ von Geld- und Finanzpolitik auf Ausnahme-
situationen beschränkt sein sollte. Außerdem for-
dert er: „Über das Ausstiegsszenario muss im Vor-
hinein entschieden werden.“

Ein langer Exit
Keiner dieser Wege ist ohne Risiko. Utermöhl warnt,
dass die enge Koordination von Geld- und Finanzpo-
litik kein „Dauerzustand“ werden dürfe. Andernfalls
werde die Unabhängigkeit der Zentralbanken und
damit auch die Preisstabilität infrage gestellt. Sie setzt
hinzu: „Wir sollten uns keine Illusionen machen: Der
Exit dürfte sich als langwierig und zäh erweisen.“
Bielmeier sieht als Risiko, dass die Fiskalpro-
gramme der Regierungen nur ein „Strohfeuer“ ent-
zünden könnten, statt der Wirtschaft wirklich wie-
der auf die Beine zu helfen. Hooper wiederum
sieht Risiken vor allem in der Euro-Zone.
Dabei geht er nicht auf den aktuellen Streit ein,
ob es sogenannte Corona-Bonds geben oder der
Rettungsschirm (ESM) aktiviert werden sollte. Er
befürchtet, dass sich bis Ende 2021 „beispiellose
Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung,
dem Wachstum und der Arbeitslosigkeit“ auftun
werden und so der Nord-Süd-Konflikt in der Euro-
Zone vertieft wird. Als Problem sieht er, dass sich
ausgerechnet Italien noch weiter verschulden
muss, um die Folgen der Krankheit durchzustehen.
Eine wichtige Frage ist auch, wer am Ende die
Zeche zahlt. Die Haushalte und Unternehmen, sagt
Hooper. Utermöhl glaubt, dass letztlich eine „höhe-
re Inflation in Kauf genommen wird, die mit nied-
rigerer Arbeitslosigkeit und höherem Wachstum
gerechtfertigt wird“. Das würde vor allem Gering-
verdiener belasten, weil ihre Kaufkraft sinkt, und
könnte zu Rufen nach mehr Umverteilung führen.
Darüber hinaus wird Utermöhls Meinung nach
„die Versuchung groß sein, den geretteten Privat-
sektor für die Hilfsaktion zur Kasse zu bitten, etwa
in Form von höheren Steuern“. Klar ist daneben
auch, dass eine möglicherweise lange Zeit niedri-
ger Realzinsen – also Nominalzinsen abzüglich der
Inflation – weiterhin die Sparer belastet. Bezahlen
können am Ende nur die, die etwas haben.
Fazit also: Es gibt Wege, die wirtschaftliche Last
der Krise so aufzufangen, dass eine Katastrophe
ausbleibt. Aber es gibt keine Möglichkeit, die Kos-
ten einfach verschwinden zu lassen.

Europa: EZB

USA: Fed

1.1.2015 3.4.2020

5 063 Mrd. €

5 320 Mrd. €

Aufgeblähte Bilanzen
Bilanzsumme der Notenbanken der USA und der EU in Mrd. Euro

HANDELSBLATT Quelle: Thomson Reuters

5 500
5 000

4 500
4 000

3 500
3 000

2 500
2 000

US-Notenbankchef Jerome Powell,
Fed-Gebäude in Washington:
Fünf Billionen Dollar in den Büchern.

AFP

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PROZENT
gemessen am BIP
beträgt die Staatsver-
schuldung in Japan.

Quelle: Bank of Japan

dpa

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